Tagesgedanken: Verzeihen

«Wir sollten immer verzeihen, dem Reuigen um seinetwillen, dem Reulosen um unseretwillen.» (Marie Ebner-Eschenbach)

Wer ist nicht schon einmal verletzt worden und spürte diesen tiefen Stachel, der sich tief eingräbt. Noch einige Zeit später denkt man oft daran zurück, spürt wieder den Stich, fühlt den leisen Groll aufsteigen, dass jemand eine solche Macht hatte, einem das anzutun. Es sind teilweise nicht nur Gefühle und Gedanken, der Schmerz ist praktisch körperlich fühlbar – und er wirkt nach.

Oft entwickeln wir eine Haltung des «nie mehr»: Wir wollen eine solche Verletzung nie mehr erleben und verhalten uns in Zukunft dementsprechend. Dies passiert oft sogar unbewusst, indem wir Interpretationsmuster von Verhalten verinnerlicht haben, die aus der vergangenen Verletzung resultieren, welche verhindern sollen, dass eine solche Verletzung nochmals passiert. Dies ist sicherlich menschlich nachvollziehbar, birgt aber die Gefahr, dass wir nicht mehr im Moment sind, nicht mehr auf den wirklichen Menschen vor uns reagieren, sondern eigentlich noch immer auf den, welcher uns vor langer Zeit verletzt hat. Damit nehmen wir uns selbst und unserem Gegenüber die Möglichkeit einer wirklichen Begegnung. Wir bleiben verstrickt in alte Gefühle und daraus entwickelte Verhaltensmuster, welche zu einer Mauer geworden sind für eine wirkliche direkte Erfahrung.

Wir werden das vergangene Unrecht nicht ungeschehen machen können. So sehr wir auch damit hadern und teilweise lange unsere Wunden lecken: Es ist passiert und es ist tief gegangen. Trotzdem haben wir es in der Hand, wie wir damit umgehen. Wie viel Macht wollen wir dem Menschen, der uns so verletzt hat, über unser künftiges Leben geben? Indem wir immer und immer wieder damit hadern, andere Menschen ausbaden lassen, was uns passiert ist, und uns selbst damit die Möglichkeit einer offenen Begegnung nehmen, wirkt dieser Mensch noch immer weiter in unserem Leben – und wir lassen es zu.

Es gibt wohl nur ein Heilmittel dagegen: Verzeihen. Verzeihen heisst nicht vergessen. Verzeihen heisst, Frieden zu schliessen mit dem, was war. Gewisse Verletzungen wurden unabsichtlich begangen oder doch später bereut. Es fällt wohl leichter, diesen Menschen zu verzeihen, weil wir davon ausgehen, dass solches einerseits jedem passieren kann, und andererseits die Hoffnung besteht, dass es nie mehr passieren wird. Andere Verletzungen hingegen passierten in voller Absicht und aus Überzeugung. Da fällt es wohl schwerer. Wir können höchstens versuchen, zu verstehen, was in dem Menschen vorging, als er uns verletzte. Und wir können für uns Frieden finden, indem wir ihm nicht weiter Schuld zuschieben für sein Tun, sondern es hinter uns lassen. Nicht für ihn, er lebt mit seinem Sein und seinem Tun weiter, aber für uns – weil wir dies nicht weiter in unserem Leben haben wollen.  

Verzeihen heisst nicht, dass wir den Menschen, der uns etwas angetan hat, wieder in unser Leben lassen müssen. Vielleicht ist es besser, Abstand zu wahren. Verzeihen heisst, für sich selbst wieder zur Ruhe zu kommen, die bitteren Stachel aus den Wunden zu ziehen, diese heilen zu lassen, und damit die Möglichkeit zu schaffen, offen auf andere Menschen zuzugehen, ohne sie mit Mustern von alten Verletzungen von vornherein auf Abstand zu halten.

10 Kommentare zu „Tagesgedanken: Verzeihen

  1. Verzeihen heißt für mich: es bei dem zu lassen, der es getan hat. Es in seine Verantwortung zurückgeben, also auch aufs Urteilen und Verurteilen zu verzichten.
    Dann kann ich mich meiner Verletzung zuwenden, ohne dass der „Täter“ zuschaut, und mich meiner Heilung widmen. Leicht ist das nicht, es braucht oft sehr viel Zeit und Entschlossenheit.
    LG Gerda

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  2. Marie Ebner-Eschenbach sagt: «Wir sollten immer verzeihen, dem Reuigen um seinetwillen, dem Reulosen um unseretwillen.»

    Man neigt dazu, ihr zuzustimmen.

    Wenn ich sage: „Ich verzeihe dir“, ist das nicht so etwas
    wie getarnte Arroganz? Hat es nicht etwas demütigendes?

    Für mich hat der Satz der Madame de Staël
    eine höhere Schwingung, wenn sie sagt:

    „Alles verstehen heißt alles verzeihen.“

    Die Bereitschaft, verstehen zu
    wollen, kommt der Liebe nahe.

    Wer liebt, braucht nicht zu vergeben.

    Es genügt, wenn ich im Frieden bin mit der Tat und im Frieden bin mit dem Täter. Dann ist Heilung längst geschehen. Für Verzeihung besteht keine Notwendigkeit.

    Jesus soll, als er von seinen Hinrichtern malträtiert wurde, gebeten haben: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

    Das ist etwas ganz anderes. Das ist keine Arroganz. Das ist ein liebendes Bitt-Gebet für seine Mörder… an das Höchste gerichtet.

    Er war längst in Frieden mit ihnen.

    Er konnte sehen, daß sie in tiefer Unbewußtheit handeln. Sie machten einfach ihren Job, mehr nicht. Und das – im Rahmen der geltenden Gesetze.

    Die Feministin Emma Goldman sagte mal:

    „Der Wahlspruch sollte nicht sein:
    Vergebt einander – sondern eher:
    Versucht, einander zu verstehen.“

    Denn die ehrliche Bereitschaft, verstehen zu wollen, reicht völlig aus.

    Feindbildung ist das Gegenteil von „verstehen wollen“.

    Jesus macht keinen Unterschied zwischen vermeintlich „guten“ und „bösen“ Menschen, er ist offen für jeden. Nicht, weil er ein „guter Mensch“ ist, sondern… weil es einfach keinen Unterschied gibt. Meine Mitte und die „meines Feindes“ ist die selbe.

    Hier noch mal die gebürtige Litauerin Emma Goldman, die vor 200 Jahren genau (!) das sagte, was ich heute sagen würde:

    „Jemandem zu vergeben, beinhaltet
    ein Stückchen Selbstgerechtigkeit.
    Jemanden zu verstehen, ist ausreichend.“

    🌼

    Hier ein Beispiel, wie Verzeihung in Liebe übergehen kann:

    Heilung statt Opfertum

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        1. Ich denke viele Menschen haben an verschiedenen Punkten ihre Schwierigkeiten – so auch ich. Es braucht viel Mut, nur schon hinzuschauen. Und es ist ein Prozess. Ein Weg, der mit einem Schritt anfängt und dann weiter geht. Und es geht immer ein wenig besser. Ich wünsche dir auf deinem Weg alles Gute.

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