Eva von Redecker: Bleibefreiheit

Inhalt

«Unser gängiger Freiheitsbegriff ist untauglich für das Anthropozän.»

Was, wenn Freiheit nicht mehr als Bewegungsfreiheit räumlich, sondern als örtliches Bleiben zeitlich gedacht würde? Wie muss diese Zeit gefasst und gefüllt, wie erfüllt sein, damit sie die Freiheit erlebbar macht, sie überhaupt gewährt? Was, wenn wir das Leben nicht mehr vom Tod her denken, sondern von der Geburt? Wenn in jeder Geburt ein neuer Anfang und damit eine Freiheit des sich neu Erschaffens läge? Wenn wir immer wieder neu geboren und damit frei in der eigenen Gestaltung wären? Das sind die Fragen, denen Eva von Redecker in diesem Buch nachgeht.

Gedanken zum Buch

«So wie Bleibefreiheit das Abzugsrecht voraussetzt, ist Bewegungsfreiheit auch nur Freiheit, wo das Bleiben möglich wäre.»

In einer Zeit, in der die Menschen dazu aufgerufen sind, das von ihnen verursachte Übel auf der Welt wieder in den Griff zu kriegen, in einer Zeit, in welcher die Natur an ihre Grenzen stösst und der Mensch die massgebliche Ursache dafür ist, muss Freiheit umgedacht werden. Freiheit kann nicht mehr bedeuten, alles tun und wohin man will gehen zu können, sondern dafür zu sorgen, dass ein Bleiben möglich bleibt.

«Bleiben-Können ist weitaus voraussetzungsreicher. Es erfordert die Wahrung der bewohnbaren Welt.»

Was, wenn langsam die Arten sterben, das Klima sich in einer Weise entwickelt, die dem menschlichen Leben nicht mehr entspricht? Was passiert, wenn die Schwalben nicht mehr kommen und die Gezeiten sich langsam verabschieden, die doch das Leben ausmachen? Diese und andere Fragen nimmt Eva von Redecker zum Ausgangspunkt ihrers Essays über die Bleibefreiheit, die eine Freiheit ist, die sich in der Zeit zeigt, nicht im Ort. Sie beleuchtet, wieso wir nicht den Mars bewohnen wollen sondern die Erde bewahren sollen. Sie zeigt auf, was das ökologisch bedeutet, indem sie auf die Lebenskreisläufe des Ökosystems verweist.

«Wir können unsere Zeit mit anderem Lebendigem teilen, ohne sie zu verlieren… Bleibefreiheit wächst mit der Fülle der Gezeiten. In einer Zeit der Fülle haben wir grössere Freiheit.»

Aus der Fülle können wir schöpfen, quasi aus dem Vollen. Virginia Woolf sagte, sie wolle das Leben immer voller machen. Voll ist das Leben, wenn es erfüllt ist, voll mit dem, in was wir aufgehen, uns vergessen, uns leicht fühlen. Indem wir in diesem Erfüllt-Sein sind, haben wir nicht das Gefühl, etwas zu verpassen, wir vermissen nichts und damit keine Freiheit, etwas anderes tun oder woanders sein zu wollen. In dem Moment an dem Ort sind wir frei. Doch können wir nur dableiben, wenn wir die Erde so behandeln, dass sie uns diese Bleibefreiheit gewährt. Das ist die Aufgabe des Menschen im Anthropozän, er ist der Schöpfer seiner Freiheit in der Zeit, seiner Bleibefreiheit.

Das Buch weist keine stringente Argumentationskette auf. Es ist mehr eine Aneinanderreihung von Gedanken, die sich oft aus persönlichen Begegnungen und Erfahrungen speisen. Es ist ein Sammelsurium an Gedankengängen und Ausflügen, denen keine klare Handlungsanleitung oder konkrete praktische Relevanz folgt, auch eine klare Antwort sucht man vergebens. Es ist mehr ein Mitnehmen auf eine Gedankenreise, ein Eintauchen in eine neue Form des Denkens von Freiheit, und damit ist es sehr inspirierend.

Fazit
Ein Buch, das dazu anregt, die ausgetretenen Pfade unseres Freiheitsdenkens zu verlassen und mit Blick auf die aktuelle Wirklichkeit unserer Zeit eine neue Art der Freiheit zu denken – eine in der Zeit.

Zur Autorin
Eva von Redecker, geboren 1982, ist Philosophin und freie Autorin. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig. 2020/2021 hatte sie ein Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne, wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte. Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik, schreibt Beiträge für u.a. »Die ZEIT« und ist regelmäßig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören. Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe »Eva and the Apple« aus. Bei S. FISCHER erschien zuletzt ihr Buch »Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen« (2020) sowie ein Vorwort zur Jubiläumsausgabe der »Dialektik der Aufklärung«. Aufgewachsen auf einem Biohof, lebt sie heute im ländlichen Brandenburg.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ S. FISCHER; 1. Edition (24. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 160 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3103974997

Bücherwelten: Mutter

Man soll sie lieben, achten, Respekt haben. Eine zu sein, bedeutet Liebe, Fürsorge, (Selbst-?)Aufgabe. Kaum ein Begriff, eine Rolle ist so befrachtet mit Ansprüchen, Zuschreibungen und Erwartungen wie die Mutter. Sie wird verklärt und verflucht, sie ist an allem schuld und für vieles verantwortlich. Man könnte meinen, wenn man so viel drüber weiss oder zumindest «geregelt» hat, sei alles klar und einfach, doch wie so oft in diesen Fällen fangen genau da die Probleme an: Was, wenn man diese Punkte nicht erfüllt? Was, wenn man einfach nicht fühlt, was man fühlen soll? Was, wenn diese engste aller Beziehungen einfach nicht entsteht? Oder aber irgendwann verloren geht?

Fragen über Fragen und ein Thema, über das es sicher viel nachzudenken gäbe. Die folgenden vier Bücher haben alle in einer Form mit dem Thema „Mutter“ zu tun:

Bonnie Garmus schreibt über eine Frau, der nichts ferner lag, als Mutter zu werden, die diese Rolle dann aber alleinerziehend mit Tatkraft und selbstbestimmt auf ihre persönliche Weise ausfüllt. 

Anneleen Van Offel schreibt von einem Band der Liebe, das durch Distanz zerrissen wurde, und dessen sich die Mutter nach dem Tod des Sohnes wieder versichern will.

Thommie Bayer erzählt von einem Sohn, der sich seiner Rolle im Leben der Mutter gewahr wird und in diesem Bewusstwerden auch die Mutter für sich besser kennenlernt. 

David Rieff wollte über das Sterben seiner Mutter schreiben und zeichnete stattdessen ein starkes Bild einer grossartigen Frau mit all ihren Herausforderungen, ihrer Tatkraft, ihrer Widerspenstigkeit und ihrem Mut.

Habt einen schönen Tag!

Sophie Schönberger: Zumutung Demokratie

Ein Essay

Inhalt

«Die ‘Herrschaft des Volkes’ setzt voraus, dass sich so etwas wie ein ‘Volk’ im Sinne einer demokratischen Gemeinschaft erst einmal konstituiert und als Kollektiv begreift.»

Eine Demokratie braucht, um wirklich gelebt zu sein, Gemeinschaft. Diese bedarf der Bereitschaft des Einzelnen, sich mit anderen zu verbinden und diese zu bilden. Es geht darum, den anderen als Verschiedenen und doch Gleichen zu akzeptieren und durch eine offene Kommunikation einen Gemeinsinn herauszubilden, der für alle verbindlich ist, auch wenn nicht alle derselben Meinung sind.

Diese Bereitschaft fehlt in der letzten Zeit, die Konfliktfähigkeit hat abgenommen und die Akzeptanz für andere Meinungen schwindet. Wie kam es dazu, dass das Vertrauen in den Staat mehr und mehr schwindet, und was können wir dagegen tun? Wie stark darf der Staat eingreifen in die Kommunikationsmöglichkeiten und -inhalte der Bürger, wo ist die Grenze der Freiheit des Einzelnen im Hinblick auf ein funktionierendes Miteinander?

Diesen und anderen Fragen geht der vorliegende Essay nach.  

Gedanken zum Buch

«Die Hölle sind die Anderen.»

Das wusste schon Sartre und es hat sich bis heute nicht geändert, im Gegenteil. Die anderen, die man nicht versteht, führen dazu, dass es eine Zumutung darstellt, mit ihnen zusammen zu leben. Dieses Nicht-Verständnis führt zu Abgrenzungen, zu Ausgrenzungen, zu Blasenbildungen und Meinungspolaritäten. Dies wird umso mehr verstärkt durch die aktuelle Zeit, in welcher persönliche Begegnungen immer mehr den digitalen weichen.

„Demokratie braucht Gemeinschaft.“

Um da Abhilfe zu schaffen, bedarf es der persönlichen Begegnung. In sozialen (Kommunikations-)Räumen, die den Anderen erfahrbar und dadurch vertrauter machen, entsteht ein besseres Gefühl für die Pluralität und doch Gleichheit der verschiedenen Mitglieder der Demokratie. Aus diesem Verständnis heraus kann sich die Gemeinschaft bilden und entwickelt einen Sinn für gemeinsame Interessen und Ziele für das Zusammenleben.

„Denn die elementaren Mindeststandards des Miteinanderredens, die das Strafrecht vorgibt, müssen auch in Zeiten des Medienwandels effektiv durchgesetzt werden, damit die Kommunikation in der demokratischen Gemeinschaft funktionieren kann. Diese Aufgabe muss der Staat auch als Mittel der Demokratiesicherung selbst wahrnehmen.“

Der Staat hat sich zu lange zurückgehalten bei der Einmischung in die kommunikativen Möglichkeiten und Auswüchse der digitalen Medien. Dadurch ist eine Kommunikationskultur entstanden, in welcher Blasenbildung, Meinungsmanipulation und Aggression sich ausbreiten konnte. Die notwendige Verantwortung für Eingriffe in diese den demokratischen Prozess gefährdenden Auswüchse überliess der Staat bislang zu stark privaten Akteuren. Die Sicherung der Demokratie verlangt aber eine staatliche Regulierung durch klare und rechtlich verbindliche Vorschriften, denn sie sind auch das demokratische Mittel und damit die Sicherung der Demokratiesicherung.

Fazit
Ein wichtiges Buch darüber, was Demokratie bedeutet, woran es heute mangelt und was man dagegen unternehmen kann. Ein Aufruf für mehr Akzeptanz, demokratieförderliche Kommunikation und wirkliche Begegnung.

Angaben zur Autorin
Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Ko-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ C.H.Beck; 1. Edition (16. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 189 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3406800085

Lebenskunst: Leben aus tiefstem Herzen

„Gunst suchen ist erniedrigend:
erschreckend, wenn sie erlangt ist,
erschreckend, wenn sie verloren geht.“
Laotse (Tao Te King, 13)

„Was denken wohl die anderen?“ Ein Satz, der oft auf Gedanken kommen, was man eigentlich machen möchte, sich aber nicht traut und drum verbietet, weil man fürchtet, von anderen abgelehnt, belächelt, gar verstossen würde. Wie oft trauen wir uns nicht, unsere Sehnsüchte und Wünsche zu leben, passen und über Gebühr an, um anderen Erwartungen zu entsprechen. Wir unterdrücken unser ureigenstes Sein für Anerkennung, Ruhm, Geld, Macht – alles Dinge im aussen, die einem zugesprochen werden, wenn man systemkonform lebt. Ansonsten – so fürchtet man zumindest – steht man am Rand, im Dunkeln, ausgeschlossen. Wie sagte schon Brecht so schön:

„Die im Dunkeln sieht man nicht.“

Und so streben wir oft zum Licht des schönen Scheins, vergessen dabei unser inneres, das unseres Seins. Im Tarot gibt es die Karte des Narren, die Null. Sie symbolisiert Unwissenheit, stellt einen Anfang dar. Sie steht dafür, unbedarft in die Welt zu gehen, aus sich selbst heraus sich darin einzurichten mit seinen eigenen Wünschen, Sehnsüchten, (Lebens-)Träumen. Dazu braucht es Vertrauen, Vertrauen in sich, in die Welt und das Vertrauen, dass man als Ich in dieser Welt seinen Platz hat und findet. Denn: er steht jedem Wesen zu.

Wieso soll ich mir also nicht die Narrenfreiheit nehmen, mit Mut und Entschlossenheit das leben, was ich tief in mir drin bin und will? Ganz im Sinne von Udo Jürgens Lied:

„Heute beginnt der Rest deines Lebens.“

Biografien von A bis Z: B

Die Reise durch die Leben von Menschen, die mich beeindrucken, geht mit dem Buchstaben B weiter: Ein Gruppenbild mit Herrn quasi. Das Gemeinsame meiner Verbindung zu den einzelnen ist, dass ich mich mit jedem von ihnen eine Zeit lang intensiv auseinandergesetzt habe, da förmlich in ihr Werk eingetaucht bin. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich alle mit dem Thema der Identität auseinandergesetzt haben, jeder auf seine ganz eigene Weise.

Martin Buber setzte zeitlebens auf den Dialog. In ihm entwickelt sich das Leben, in ihm erkennt sich jeder selbst. Das Ich existiert nur, weil es ein Du gibt. Im Dialog kann sich etwas entwickeln, der Dialog ist die Schöpfungskraft von Neuem und der Weg zur Erkenntnis dessen, was ist.

«Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas…Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.»

Simone de Beauvoir wusste von klein auf, was sie will: Schreiben und frei sein. Sie hat sich diesem Ziel verschrieben und es gelebt, immer aus der Überzeugung heraus, dass wir in diese Welt geworfen werden, ohne uns das ausgesucht zu haben, und es nun an uns selbst ist, uns darin zu positionieren, uns quasi nach unseren Massgaben zu erschaffen. Sie stiess mit ihrem Forschungsdrang und Lebenswillen nicht immer auf Zustimmung:

«Niemand nahm mich so, wie ich war, niemand liebte mich; ich selbst werde mich genügend lieben, beschloss ich, um diese Verlassenheit wieder auszugleichen.»

Das Glück wollte es, dass sie auf einen Menschen stiess, der ihren eigenen Lebensentwurf und damit den Menschen, der sie dadurch wurde, anerkannte und unterstützte. So befand Sarte, wie Simone de Beauvoir in ihren «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause» schrieb:

«Auf alle Fälle sollte ich mir das bewahren, was das Schätzenswerteste an mir sei: Meinen Hang zur Freiheit, meine Liebe zum Leben, meine Neugier, meinen Willen zu schreiben.»

Auch Ingeborg Bachmann war eine, die schreiben wollte. Diesem Drang ordnete sie alles unter, für ihr Schreiben war sie zu Opfern bereit, sie zahlte einen hohen Preis dafür, denn Ingeborg Bachmann sollte das Glück einer lebenslangen Liebe verwehrt sein – sie verwehrte es sich wohl teilweise selbst. Sie suchte diese Liebe unentwegt, sie sehnte sich danach, fand zwar viele Männer, die sie verehrten, ihren Weg eine Zeit lang begleiteten, aber nie die überdauernde Liebe, welche ihr hätte Halt und Lebenssinn geben.

«…ich habe in der Liebe und durch die Liebe immer den Boden verloren und daher nie einen gehabt… ich werde, solange ich liebe, keinen Platz in der Welt finden, nie das bekommen, was ich am meisten ersehne, und darum wird alles, was ich sonst bekomme und wofür ich mich bemühe , dankbar zu sein, für immer ohne Glanz sein.»

Welche Biografien zum Buchstaben B könnt ihr empfehlen?

Biografien von A bis Z: A

KI ist in aller Munde, dass diese nun auch schreiben kann, ängstigt. Was wird dann aus den Schreibenden? Sind die überflüssig? Ich denke, die Frage ist falsch gestellt. Abgesehen davon, dass Schreibende natürlich, um leben zu können, gelesen werden müssen, schreiben sie auch, weil sie nicht anders können. Schreiben ist Leidenschaft, Drang, Notwendigkeit. Ebenso bei den Philosophen das Denken, das dann in einer Form auch aufs Papier fliesst. Seit ich denken kann, interessieren mich hinter den Texten immer auch die Menschen, die sich diese ausgedacht haben: Wie haben sie gelebt, wie haben sie geschrieben und wieso? Was hat ihr Denken geprägt? 

Aus diesem Grund liebe ich Biografien. Ein paar davon möchte ich hier vorstellen, ich taste mich dazu dem ABC entlang und starte heute mit A:

Wie könnte es anders sein: Hannah Arendt – Lieblingsdenkerin, spannende Persönlichkeit, interessante und vielschichtige Frau. Müsste ich eine empfehlen, wäre es die von Elisabeth Young-Bruehl, sie ist und bleibt für mich der Klassiker.

«Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit des Menschen in dem Masse abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet..» (Hannah Arendt)


Aristoteles – Einer der ersten, der wohl systematisch über alles, was auf dieser Welt vorkommt, nachdachte. Gewisse Gedanken sind noch heute bedenkenswert, zum Beispiel seine Theorie eines gerechten Staates. Flashar als ausgewiesener Experte zu Aristoteles hat hier eine grossartige Biographie geschrieben.

„Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ (Aristoteles)


Ilse Aichinger – Repräsentantin der deutschen Nachkriegsliteratur, deren Werk immer wieder die sozialen und politischen Zustände kritisierte und die Verantwortung des Menschen thematisierte.

«Schreiben kann eine Form zu schweigen sein.» (Ilse Aichinger)

Lou Andreas-Salomé – faszinierende, intelligente, vielschichtige Frau, die die Herzen der berühmtesten Männer brach.

«Glaubt mir, die Welt wird euch nichts schenken. Wenn ihr ein Leben wollt, so stehlt es.» (Lou Andreas-Salomé)

Rose Ausländer – Verfasserin wunderbarer Lyrik mit einem sehr bewegten Leben.

«Ich schreibe mich ins Nichts – es wird mich ewig aufbewahren.»

Was für Biografien zu A könnt ihr empfehlen?

Wieso ich Hannah Arendt liebe?

„Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“

«Denken ohne Geländer» wollte sie und das erwartete sie auch von anderen. Sie hielt nichts von Gehorsam, da dieser das eigene Denken ausschalte und die Unterordnung unter von anderen definierte Systeme bedeute. Die Welt und die Gemeinschaft gibt es nicht einfach, wir sind es, die sie gestalten, indem wir uns miteinander austauschen. Dazu bedarf es des offenen Dialogs, der Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen. Nur dann sind wir frei, wenn wir diese Möglichkeiten der Mitgestaltung wahrnehmen. Freiheit des Denkens und Handelns waren Kernthemen bei Hannah Arendt, ebenso Macht, Gewalt, Wahrheit, Politik und wichtig: Pluralität. 

„Politik (…) ist etwas, was für menschliches Leben eine unabweisbare Notwendigkeit ist, und zwar sowohl für das Leben des Einzelnen wie das der Gesellschaft.“

Wir bewohnen diese Welt als Gleiche und doch Verschiedene. Im Wissen um das Verbindende gilt es, die Vielheit, die Verschiedenheit anzunehmen und zu versuchen, die Welt nicht nur nach eigenen Massstäben und mit eigenen Augen zu sehen, sondern auch durch die Sicht der anderen. Wir müssen unsere Erfahrungen in den Diskurs um eine künftige Welt einbringen und die Erfahrungen der anderen anhören, weil sie auch Möglichkeiten des Erfahrens in dieser Welt darstellen. Aus all diesen Erfahrungserkenntnissen können wir gemeinsam eine Welt schaffen, in der wir als die leben können, als die wir leben wollen, auf die Weise, wie wir es wollen. 

Wo die Möglichkeiten der Pluralität eingeschränkt werden, kommt es zu Ausgrenzungen, die zu einem Gefühl der Verlassenheit und schliesslich zur Entfremdung führen. Nur das «Mit-Sein» hilft, dem zu entgehen, weil dieses alle miteinbezieht. Wir haben jeden Tag die Chance, uns in diese Richtung zu entwickeln. Jede Geburt ist ein neuer Anfang in einer bestehenden Welt, sie bringt neue Impulse in diese, wenn neue Gedanken entstehen dürfen und gehört werden. 

„Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet.“

Dies in Kürze, wieso ich diese Frau hochhalte, wieso ich denke, sie hat uns auch heute noch viel zu sagen und wir sollten mit ihr denken, für uns denken, miteinander denken. 

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben

Inhalt

«Ich verließ die Gegend, deren Gewicht auf meiner Brust ich erst bemerkte, als ich woanders war.”

Eine junge Frau aus einem kleinen Dorf geht in die Stadt, um Krankenschwester zu werden. Sie geht in dem Beruf auf, bis ihr ein Fehler unterläuft und sie entlassen wird.

„Ich bin gekommen, damit die Eltern sich um mich kümmern. Stattdessen haut Mama ab, und Papa ist gelb.“

Ihr Weg führt sie zurück in ihr Elternhaus, sie hofft, von ihren Eltern aufgefangen zu werden, doch dort ist alles noch schlimmer als damals, als sie wegging: Die Fabrik im Dorf existiert nicht mehr, so dass Arbeitslosigkeit herrscht, der Vater ist in einem desolaten Zustand, und die Mutter nach Sizilien ausgewandert. Statt vom Vater aufgefangen zu werden, sieht sie sich in der Rolle der Sorgenden. Sie ringt körperlich und seelisch nach Luft, der Raum scheint enger zu werden. Als sie Oskar, den Städter, kennenlernt, der sich von einem Herzinfarkt erholt, erlebt sie, wie ein Leben voller Zuversicht aussehen könnte. Sich selbst sieht sie am anderen Ende des Welterlebens: Konfrontiert mit allem, was sie hinter sich gelassen zu haben glaubte, ist sie nun gefordert, ihren Platz im Leben zu finden.

Gedanken zum Buch

“Viele Jahre habe ich mir eingeredet, dass ich gern Krankenschwester bin”

Was wir für unser Leben halten, ist oft nur die Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Wir gehen einen Weg und wollen, dass es der richtige ist. Schlussendlich glauben wir es selbst, bis etwas geschieht, dass dieses Bild ins Wanken bringt. Dies ist der jungen Ich-Erzählerin passiert. Zwar merkte sie, wie überall gespart wurde, wie der Druck im Beruf grösser, die Zeit für die Patienten immer knapper wurden, doch sie fand für alles eine Lösung, um den Beruf doch noch den eigenen Ansprüchen entsprechend ausüben zu können. Dass ihr langsam sprichwörtlich die Luft ausging, merkte sie erst, als sie nach einem Berufsfehler einen Asthmaanfall hatte und wirklich um Luft rang.

„Ich habe es für selbstverständlich gehalten, dass eine Mutter nicht klatschend und tanzend durchs Leben hüpft“

Familien sind geprägt durch Rollenbilder, die sich in den Köpfen festsetzen. Ein Kind wächst in eine Familie hinein und erachtet das, was sich da abspielt, als Normalität, an die es sich zu halten gilt. Selten wird hinterfragt, wagt es dies doch, merkt es schnell, dass es eine Grenze überschritten hat, die sorgsam aufgebaut worden war. Erst nach und nach, je älter es wird, mit den eigenen Erfahrungen, wächst zuerst eine Ahnung, die dann zur Erkenntnis der Missstände wird, die geherrscht haben, die man fraglos akzeptiert hatte.

„Wir wissen das nicht, weil wir lieber zahlen, als uns zu involvieren. Etwas haben wir, die Familie, verwechselt: Von der Konfrontation mit dem Schmerz haben wir uns freigekauft, aber das heißt nicht, dass er nicht mehr existiert.“

«Wovon wir leben» ist ein Buch über das Leben einer Familie mit all ihren Strukturen. Es ist eine Geschichte davon, wie wir oft die Augen verschliessen vor dem, was ist, weil es bequemer ist, sich damit zu arrangieren als der Wahrheit, die oft unbequem ist, in die Augen zu blicken. Es ist aber auch eine Geschichte darüber, was es heisst, eigene Wege zu gehen, zu scheitern, neue Wege suchen zu müssen.

Birgit Birnbacher erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich dem stellen muss, wovor sie fliehen wollte, auf eine ruhige, fast sachliche und doch nicht kalte Weise, die frei ist von Pathos oder Kitsch. Vergeblich sucht man Wehleidigkeit oder Selbstmitleid, es wird nicht psychologisiert oder analysiert, nur erzählt. Dieses Erzählen geschieht auf eine authentische Weise aus der Ich-Perspektive der erzählenden Protagonistin, wodurch der Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt derselben involviert wird. Entstanden ist ein Buch, das zum Denken anregt, das einen mit auf eine Reise nach dem richtigen Weg nimmt, das einen eintauchen und mitleben lässt beim Lesen.

Fazit
Eine sehr gelungene, zum Nachdenken anregende Erzählung über das Leben einer Frau, die sich ihrer Vergangenheit, ihren verinnerlichten Rollenmustern und Fluchtpunkten stellen und einen neuen Weg für ihr Leben finden muss.

Zur Autorin
Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman Wir ohne Wal (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Romane Ich an meiner Seite (2020) und Wovon wir leben (2023).

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ Paul Zsolnay Verlag; 3. Edition (20. Februar 2023)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3552073357

George Tabori (24. Mai 1914 – 23. Juli 2007)

George Tabori wird am 24. Mai 1914 in Budapest geboren. Seine Eltern ziehen ihn erst katholisch auf, bis sie ihm mit sieben Jahren erklären, dass die jüdisch sei. Weil sein Vater findet, Schreibende gäbe es bereits genug und er müsse was Anständiges lernen, beginnt Tabori in Berlin eine Hotelfachlehre, bis sich die antisemitischen Vorfälle häufen und er schliesslich 1933 Deutschland verlässt.

„Als der Reichstag brannte, war es Zeit zu verschwinden.»

Die folgenden Jahre verschlagen ihn nach Budapest, London, in die Türkei, nach Palästina und Ägypten. 1941 erhält er die britische Staatsbürgerschaft. Er arbeitet Kriegsberichterstatter, später als Journalist und Übersetzer.

„Was ich immer erzählen muss, immer sagen muss: dass ich keine Heimat habe, dass ich ein Fremder bin, und das meine ich nicht pathetisch, sondern als gute Sache. Weil ein Schriftsteller, nach meinem Geschmack, muss ein Fremder sein.“

1943 erscheint Taboris erster Roman («Beneath the stone»), weitere folgen. 1947 fliegt er auf Drängen einer Literaturagentin in die USA, wo er als Drehbuchautor engagiert wird. Aus den geplanten drei Monaten werden zwanzig Jahre. In den USA lernt er auch die ganze schreibende Zunft der Auswanderer kennen und arbeitet teilweise mit ihnen.

„Stell dir vor, du lebst in einem Haus, und jeden Sonntag kommen Büchner, Kafka, Flaubert, Mahler und so weiter zu Besuch …“

1968 reist er zum ersten Mal zurück nach Deutschland, um da ein Auschwitzstück am Theater zu inszenieren. Er tut dies nicht ohne Befürchtungen, doch es wird ein Erfolg. 1971 zieht er ganz nach Deutschland, wo er sich in diversen Städten mit verschiedenen Tätigkeiten rund ums Theater einen Namen macht.

George Tabori stirbt am 23. Juli 2007 in Berlin.

Zu seinem Werk

„Der kürzeste deutsche Witz ist Auschwitz.“

Das Thema «Auschwitz» hat George Tabori nie losgelassen. Nicht nur liessen ihn die Verfolgungen durch das Naziregime von einem Ort zum anderen reisen, so dass er sich immer als Fremder fühlen musste, er hat auch seinen Vater da verloren, welcher 1944 in Auschwitz starb.

„Sechzig Jahre später besuchte ich Auschwitz, suchte nach einem Zeichen, das er mir zurückgelassen hatte. Ohne viel Hoffnung. Die Toten waren in Rauch aufgegangen… Ich hob einen Stein auf, wo ist er, ich hielt den Stein in der Hand, versuchte, seine Gegenwart zu spüren, umsonst, ich steckte ihn in die Tasche, ein Souvenir… Mahnmale sind für die Lebenden. Die Toten kümmern sie nicht.“

George Tabori war ein Mann, dem Humor wichtig war, was sich auch in seinen Theaterstücken zeigte: Er brachte den Holocaust auf eine komische und politisch nicht korrekte Weise auf die deutschen Bühnen, er provozierte und forderte sein Publikum immer wieder heraus, weil sich dieses oft schwertat, in seine Art Humor hineinzufinden. Die Anstrengung lohnt sich!

Buchempfehlung:

Neben den Klassikern wie «Autodafé» und «Meine Kämpfe» möchte ich dieses Buch ans Herz legen: «Gefährten zur linken Hand»

Der Krieg wütet im Sommer 1943 überall, nur einen kleinen Badeort in Italien scheint er vergessen zu haben: San Fernando. Dahin zieht es den Autor Stefan Farkas, welcher aber immer am Rand bleibt, das Geschehen aus Distanz beobachtet und sich mit einer zynischen Gelassenheit über alles stellt – bis der Krieg auch hier einbricht. Fakras kommt zum Schluss:

«Es gibt Zeiten, in denen das einzig Nützliche der Tod ist.»

Gedankensplitter: Entfremdung

«Wenn ich meine Hand betrachte
Fremdes Ding mit mir verwandt-
Stehe ich in keinem Land…» (Hannah Arendt)

Fremd sein. In mir und mit mir. Um mich herum.

«Bin an kein Hier und Jetzt
Bin an kein Was gesetzt.» (Hannah Arendt)

Mit Befremden auf die Welt schauen, wie auch auf mich. Entfremdet im Sein und im In-der-Welt-Sein, weil die Welt mich im So-Sein ausschliesst, mich nicht einbezieht, mich kaum mehr angeht, weil ich sie nicht angehe. Fremde unter Fremden sein, weil mein Sein sie befremdet, so dass es auch mich befremdet. Mein So-Sein und mein Da-Sein.

Manchmal morgens lasse ich meine Gedanken spazieren gehen und folge ihnen mit dem Stift. Und plötzlich denke ich an ein Gedicht und verwebe beide. Dann hänge ich dem Gefühl nach, das dabei entsteht, bin in Gedanken verloren und doch ganz bei mir.

Sätze aus Büchern: Schreiben als Ort

»Das Schreiben ist mein wahrer Ort. Von allen eingenommenen Orten ist es der einzige immaterielle, der sich nirgends einordnen lässt, doch der, davon bin ich über-zeugt, alle anderen auf die eine oder andere Weise um-fasst.« (Annie Ernaux, Le vrai lieu)

Sätze aus Büchern – manchmal find ich sie, Sätze in Büchern, die unabhängig von der Geschichte sonst, zu mir sprechen, mich inspirieren, etwas in mir zum Klingen bringen. Das ist einer davon. Ich möchte ihn mit euch teilen, denn vielleicht geht es euch wie mir.

Habt einen schönen Tag! 💕

Honoré de Balzac (20. Mai 1799 – 18. August 1850)

Sein Leben
Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 im Süden Frankreichs geboren, zieht in seiner Jugend nach Paris, wo er die Schule beendet und ein Jurastudium beginnt. Daneben besucht er Vorlesungen in Philosophie. Zwar legt er noch die Zulassungsprüfung zum Abschluss des Studiums ab, beschliesst aber sodann, Schriftsteller zu werden. Finanziert durch den Vater zieht er in eine Dachwohnung und beginnt zu schreiben.

«Sie sind elende Wanzen, diese Kritiker.»

Nach kleineren Texten entstehen zusammen mit Auguste Lepoitevin, einem schon erfahrenen Schriftsteller, mehrere Romane, aber auch an eigenen versucht sich der entschlossene Schriftsteller. Der Erfolg lässt auf sich warten, der nächste Versuch geht in die Welt der Dramatik, was auch von mässigem Erfolg gekrönt ist. Er pendelt von Genre zu Genre, verfolgt verschiedene literarische Projekte, die ihn zwar nicht reich machen, ihm aber immerhin das Überleben sichern. Der ausbleibende Durchbruch lässt ihn in eine Depression verfallen.

«Alle Macht des Menschen besteht aus einer Mischung von Zeit und Geduld.»

Die unglückliche Ehe seiner Schwester inspiriert ihn schliesslich zur Schrift eines Ehehandbuches für noch ledige Männer, danach wagt er sich unter die Verleger, kauft eine Druckerei, doch auch das führt ihn nicht in den Erfolg, sondern in den Konkurs. Er beginnt wieder zu schreiben und endlich wird seine Ausdauer belohnt, er landet mit «Le dernier Chouan» einen Erfolg.

«Eine gute Frau ist wie ein gutes Buch: unterhaltsam, anregend, belehrend. Ich wollte, cih könnte mir eine ganze Bibliothek leisten.»

Das Leben in der Folgezeit ist bewegt, Balzac ist politisch engagiert, aktiver Journalist, viel auf Reisen, in Liebeleien zu verheirateten Frauen verstrickt, was zur Vaterschaft führt. Daneben fliessen auch Erzählungen und Romane aus seiner Feder, langsam ist er anerkannt in der Literaturszene.

«Es ist leichter, ein Liebhaber zu sein als ein Ehemann und zwar deshalb, weil es einfacher ist, gelegentlich einen Geistesblitz zu haben, als den ganzen Tag geistreich zu sein.»

Wirklich reich wird er trotzdem nicht, was ihn aber nicht hindert, sein Leben mit Pauken und Trompeten zu führen, im Prunk zu suhlen und sich nur mit dem Besten an Kleidung und Wohnungen zufrieden zu geben. Finanziell unterstützt wird er dabei tatkräftig von liebestrunkenen Frauen aus gutem Hause.

Das Leben als Lebemann, der aber doch immer fleissig arbeitete, zeigt irgendwann seine Spuren, die Gesundheit bröckelt, was er zuerst mit noch mehr Arbeit zu überdecken versucht. Es gelingt nicht und Balzac stirbt am 18. August 1850 nach einer zu strapaziösen Reise.

Sein Werk
Balzacs Werk besteht mehrheitlich aus einzelnen Texten, die zu Zyklen verbunden sind, und in denen ein ganzes Arsenal an Figuren auftritt. Sein Stil ist realistisch, auch wenn er der Zeit nach noch in die Romantik gehörte, die ihn aber durchaus beeinflusst. Balzac besticht durch seinen klaren und scharfen Blick auf die Menschen und ihre Machenschaften, er zeichnet damit ein eindrückliches Bild der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sowohl auf dem Land wie in der Stadt.

Hannah Arendt: Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik

Ich hebe mein Glas auf Rahel Varnhagen, sie würde heute 252 Jahre alt.

Denkzeiten

Inhalt

„Was mich interessierte, war lediglich, Rahels Lebensgeschichte so nachzuerzählen, wie sie selbst sie hätte erzählen können. Warm sie selbst sich, im Unterschied zu dem, was andere über sie sagten, für ausserordentlich hielt, hat sie in nahezu jeder Epoche ihres Lebens in sich gleichbleibenden Wendungen und Bildern, die alle das umschreiben sollten, was sie unter Schicksal verstand, zum Ausdruck gebracht.“

Hannah Arendt erzählt die Lebensgeschichte der Rahel Varnhagen und gibt dabei sehr viel von sich selbst preis. Die Suche nach dem eigenen Platz in der Welt ist nicht nur Lebensthema bei Rahel Varnhagen, sie durchzieht auch Hannah Arendts (politisches) Denken. Hannah Arendt begann 1930 mit der Arbeit an diesem Buch, 1933 verliess sie Deutschland, das durch die politischen Umstände nicht mehr ihr Zuhause bleiben konnte. Zu dem Zeitpunkt hatte sie das Buch über Rahel Varnhagen bis auf die zwei letzten Kapitel geschrieben.

Arendt bettet Rahels Geschichte ein in die die…

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Gedankenströme: Zuhause

Ich bin heute dreimal umgezogen. Das war doch sehr anstrengend.

Zuerst las ich ein Buch über eine Frau, die ein kleines Haus im Grünen fand, eher heruntergekommen, aber doch mit Potential. Sie hat es instand gesetzt, nach ihren Bedürfnissen umgebaut und eingerichtet, um sich da mit ihrem Hund wohl zu fühlen. Das wäre perfekt. Dachte ich. Ein kleines Haus im Grünen, ein lauschiger Baum vor dem Fenster. Das Grün bitte pflegeleicht, ich habe keinen grünen Daumen und auch keine gärtnerischen Ambitionen, nur grosse Träumen von selbst angebautem Gemüse und Tee aus eigenen Kräutern, doch die Umsetzung war bislang immer eher kümmerlich. Aber sonst? Ein Traum.

Die Tage vorbeiziehen sehen, Ruhe, ich, der Hund, schreiben, lesen, Weinchen schlürfen, Kaffee geniessen, durch die Zeit segeln. Gut, ein Laden müsste erreichbar sein. Vielleicht besser die nächste Stadt eher nah. So dass ich Menschen sehen könnte, wenn ich wollte. Und einkaufen. Sonst wird das nichts mit Kaffee und Wein und Käse und Brot und Genuss…. aber sonst? Perfekt. Nicht gross, nicht schick, viele Regale, gemütlich, kuschelig, klein. Ja…

Ich bin da quasi schon eingezogen, doch dann wohnte die Frau ja auch noch in der Stadt. Und hatte ein kleines Schreibatelier, eigentlich eine Werkstadt. Hinterhof. Da wollte sie nun hinziehen. Weil sie nicht alt genug sei für so ein Leben im Grünen. So ganz. Weg. Von allem. Ja. Ich bin eigentlich auch noch nicht sooo alt. Und so ein Hinterhofatelier, so künstlerisch kreativ, mit einem Baum vor dem Hinterhoffenster, Räder an den Wänden, vielleicht Backsteinbau… Leben rundrum. Das wäre was. Bücherregale rundrum, eine kleine Kochmische, ein Tischchen vor der Tür zum Hinterhof, wo ich Kaffee trinken, in einem Buch schmökern, Nachbarn begrüssen könnte. Und wenn ich aus dem Hinterhof träte, wäre das das Leben der Stadt. Menschen, Kultur, Getümmel, Gewimmel. Puls. Und dann könnte ich wieder in den Hof, am Baum vorbei, in mein Atelier. Ich würde mich auf mein Bett legen, natürlich ein sehr rudimentäres, das der Atmosphäre dieses Ateliers gerecht würde, und den Blick schweifen lassen. Den Wänden entlang, die voller Bücher stünden. Und ich würde dann und wann die Augen ruhen lassen und mich auf Inhalte besinnen. Und mich in meinem Leben neu einfinden, das ich hatte, als ich es mal gelesen habe. Und würde dann friedlich einschlafen in diesem kreativen Traum einer urbanen Bleibe (hach, was für eine Wendung, sie kam mir spontan in den Sinn und musste, auch wenn sie grad nicht rein passt, in den Text hinein).

Und während ich so träume und in meiner Vorstellung im imaginären Altstadtatelier einschlafe, erinnere ich mich an eine Altstadtwohnung mit Jubeltrubel bis morgens um eins und Marktgetümmel ab fünf Uhr morgens.

Und jetzt? Ich höre das Prasseln des Regens über meinem Bürodach, schaue aus dem Fenster auf den grossen, wunderbaren Baum, und finde: Es ist doch ganz schön hier. Ich glaube, hier bleibe ich.

Layla AlAmmar: Das Schweigen in mir

Inhalt

«Niemand ist wirklich sprachlos, flüsterte er, entweder wird man zum Schweigen gebracht, oder man bringt sich selbst zum Schweigen.»

Tag für Tag beobachtet die junge Frau die Nachbarn hinter ihren Fenstern in ihren Wohnungen. Es ist die einzige Form, wie Beziehungen zu Menschen für sie möglich sind. Sie kriegt Einblicke in die ganzen Gewohnheiten der einzelnen Menschen, in Leben, die so fern von ihrem eigenen sind. Selbst ist sie aus dem Krieg geflüchtet, aus Syrien mit Schleppern und zu Fuss, unter traumatischen Bedingungen in England gelandet. Es hat ihr förmlich die Sprache verschlagen.

«Wenn man aufhört zu sprechen, wird man sehr gut im Zuhören.»

Dadurch, dass sie nicht mehr sprechen kann (will?) denken viele, sie höre auch nichts. Sie hört auf diese Weise all das, was eigentlich nicht für Ohren bestimmt war. Für eine Zeitung soll sie ihre Erinnerungen an den Krieg und die Flucht festhalten, damit mehr Verständnis für die Situation von Flüchtlingen geschaffen werden kann. Nur: Wie könnte man das je verstehen? Und was, wenn sie plötzlich gefordert ist, aus ihrer gewählten Isolation raus und real in Beziehung zu treten?

Gedanken zum Buch

«Es ist gar nicht so schwer herauszufinden, was Menschen wollen. Im Prinzip wollen wir alle dasselbe: Freiheit, Glück, Sicherheit.»

Ein tiefes Buch, ein aufwühlendes Buch darüber, was es heisst, alles zu verlieren und nirgends mehr zu Hause zu sein, nirgends mehr sicher zu sein, nirgends dazuzugehören. Es ist aber auch ein Buch darüber, was es mit sich bringt, in einer Gesellschaft zu leben: Wie sehr kann ich mich aus ihr herausnehmen? Wo ist es meine Pflicht, mich einzubringen? Wofür trägt der Einzelne Verantwortung, wo lädt er Schuld auf sich?

«Kann man sich denn überhaupt erholen? Wenn das Leben nichts anderes ist als sich anhäufendes, wiederholtes Trauma – durstig, hungrig, kalt, arm, schwach, heiß, krank, geschlagen, verletzt, gebrochene Knochen, Blut, Blut, Blut –, kann man sich davon jemals erholen?»

Layla AlAmmar beschreibt aus der Ich-Perspektive das Leben, Denken und Fühlen einer vom Krieg und der Flucht traumatisierten Frau, die keinen anderen Weg sieht, als sich ins Schweigen zurückzuziehen, in die Isolation zu gehen, weil sie das Vertrauen in das Leben und die Menschen verloren hat. Wo gibt es noch Sicherheit, wenn Menschen einander so grausame Dinge antun können, wie sie sie erleben musste? Was ist Heimat noch, wenn man aus der eigenen fliehen musste, weil es da kein mögliches Weiterleben mehr gab?

«Ich will von diesem Land keine Almosen. Geflüchtete kommen nicht, um sich zu nehmen, was euch gehört. Wir wollen arbeiten, wir wollen zur Schule gehen, wir wollen vollständige und aktive Mitglieder der Gesellschaft werden. Wir sind keine Blutsauger oder Parasiten oder Ungeziefer. Wir brauchen nur ein wenig Hilfe. Das ist alles.»

«Das Schweigen in mir» ist ein Buch, das zeigt, was es heisst, Flüchtling zu sein, was es heisst, mit den Vorurteilen und Verurteilungen von den Menschen am Zufluchtsort umgehen zu müssen. Es ruft auf für mehr Verständnis, für mehr Mitgefühl, plädiert aber vor allem auch für eine andere Haltung von Menschen anderen Menschen gegenüber.

«Wichtig wäre, die Hintergründe kennen zu wollen, verstehen zu wollen, was im anderen vorgeht.»

Im Wissen, dass wir alle Menschen unter Menschen sind, in eine Welt geworfen, die wir uns nicht ausgesucht haben, mit der wir aber umgehen müssen als gleichwertige Mitglieder derselben, hilft es, die eigene Perspektive auch mal zu verlassen und sich mit Interesse anderen Standpunkten und Lebenshintergründen zu öffnen. Nur so ist in ein friedliches Miteinander möglich, ist es möglich, die Welt zu einem Zuhause für alle zu machen.

Fazit
Ein tiefes, bewegendes und zum Nachdenken anregendes Buch über das Leben als Flüchtling, das zu mehr Verständnis füreinander und Miteinander aufruft. Sehr empfehlenswert.

Zur Autorin und zur Übersetzerin
Layla AlAmmar wuchs in Kuwait auf und studierte Kreatives Schreiben an der Universität Edinburgh. Sie hat in The Evening Standard, Quail Bell Magazine, The Red Letters St. Andrews Prose Journal und im Aesthetica Magazine veröffentlicht, wo sie Finalistin für den Creative Writing Award 2014 war. Im Jahr 2018 war sie als British Council International Writer in Residence beim Small Wonder Short Story Festival tätig. Derzeit lebt sie in Großbritannien, wo sie über arabische Frauenliteratur promoviert. Das Schweigen in mir ist ihr zweiter Roman.

Yasemin Dinçer studierte Literaturübersetzung in Düsseldorf. Sie hat unter anderem Werke von Oyinkan Braithwaite, Leila Mottley, Paula McLain und Shirley Hazzard aus dem Englischen übertragen und war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin.

Angaben zum Buch:

  • Herausgeber ‏ : ‎ GOYA (16. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 224 Seiten
  • Übersetzung‏ : ‎ Yasemin Dinçer
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3833744242