Heinrich Mann (27. März 1871 – 11. März 1950)

Heinrich Mann wird am 27. März 1871 als erstes Kind einer Lübecker Kaufmannsfamilie geboren. Vier Jahre später kommt sein Bruder Thomas zur Welt, später die Schwestern Julia und Carla und schlussendlich der kleinste Bruder Viktor.

Mit 13 beschliesst Heinrich Mann, Schriftsteller zu werden und setzt dies auch gegen die Wünsche seines Vaters durch, welcher ihn lieber in einem Jura-Studium sähe. Heinrich Mann bricht das Gymnasium ab und wird ein Suchender. Nach einer abgebrochenen Buchhandelslehre (begonnen nur als Kompromiss mit dem Vater) arbeitet er kurz in einem Verlag, belegt einige Vorlesungen an der Uni und begibt sich danach auf Reisen. Wie tief die Ablehnung der Schriftstellerwünsche Heinrich Manns durch den Vater gehen, zeigt dessen Testament 1891:

„Soweit sie (die Vormünder) es können, ist den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer literarischen Thätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Thätigkeit in dieser Richtung fehlen im m. E. die Vorbedingnisse: genügendes Studium und umfassende Kentnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht aus Mangel am Nachdenken.“

Heinrich Mann hält an seinem Wunsch fest, er schreibt Erzählungen, poetische Texte, Rezensionen und später auch politische Essays. Nach Heinrich Manns eigenen Aussagen soll sein Vater kurz vor seinem Tod doch noch den Segen für diesen Weg gegeben haben.

1904 schreibt er seinen ersten Roman, „Professor Unrat“ erscheint ein Jahr später, stösst aber in Lübeck auf Schweigen oder Kritik. Erst die Übersetzungen und die spätere Verfilmungen bringen den Erfolg.

1902 beginnt Heinrich Mann mit der Arbeit an seinem Roman „Der Untertan“, welcher aber erst 1915 erscheinen wird, allerdings nur auf russisch (es gab eine deutsche Privatausgabe, weil die Zensur die Veröffentlichung in Deutschland verunmöglichte). Erst nach dem Krieg war 1918 auch eine Veröffentlichung in Deutschland möglich.

Die Beziehung zwischen den beiden Brüdern Thomas und Heinrich ist immer von Auf und Abs begleitet. Schon in Lübeck kommt es zu einem Zwist, als der Langsamschreiber Thomas (er schreibt pro Tag etwa eine Seite bis anderthalb) den Vielschreiber anfährt:

„Ich halte es für unmoralisch, aus Furcht vor den Leiden des Müssigganges ein schlechtes Buch nach dem anderen zu schreiben.“

Die Aussage mag sehr überheblich klingen, doch Heinrich Mann steht in der Folge wirklich im Schatten seines erfolgreichen Bruders. Trotzdem ist die Bruderverbindung auch eine enge, so reisen die beiden Brüder vor Ausbruch des ersten Weltkrieges auch zusammen nach Palestrina, in der Nähe von Rom, wo Thomas Mann an seinen Buddenbrooks schreibt.

1914 bricht der Kontakt völlig ab wegen unvereinbarer politischer Haltungen. Heinrich Mann lehnt den Krieg ab. Er warnt sogar in seinem Roman „Der Untertan“ vor dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat mit seinem Militarismus und prangert die Haltung des „Deutschland über alles in der Welt“ aufs schärfste an:

„Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! (…) Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen, als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisationen und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend!“

Thomas Mann hingegen ist von der allgemeinen Kriegsbegeisterung erfasst und ruft freudig aus:

„…wie die Herzen der Dichter in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde“

Eine wirkliche Versöhnung kommt erst 1922 zustande.

Die nächsten Jahre sind nicht einfach. 1923 stirbt die Mutter, 1927 nimmt sich seine Schwester Julia das Leben (schon der Suizid von Clara 1910 hat ihn tief erschüttert), 1930 kommt es zur Scheidung von seiner Frau, zu der Zeit kennt er Nelly Kröger, seine spätere Frau, bereits.

Nach seinem politischen Einsatz (gemeinsam mit Käthe Kollwitz und Albert Einstein) für einen Zusammenschluss der Kommunisten und der Sozialdemokraten gegen die Nationalsozialisten (das kostet ihn die deutsche Staatsbürgerschaft) verlässt Heinrich Mann 1933 Deutschland und geht nach Nizza.

1935 bis 1938 schreibt er an seinem Zweiteiler „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ und „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“. Er wird zum Gegenbild aller entarteten Führerfiguren auf dieser Welt stilisiert. Sogar Thomas Mann lobt das Buch in höchsten Tönen:

„…das Gefühl, es mit dem Besten, Stolzesten, Geistigsten zu thun zu haben, das die Epoche zu bieten hat. Das Buch ist gross durch Liebe, durch Kunst, Kühnheit, Freiheit, Weisheit, Güte, überreich an Klugheit, Witz, Einbildungskraft und Gefühl…“

Nach seiner Hochzeit mit Nelly Kröger 1939 fliehen die beiden mit Golo Mann und den Werfels 1940 in teilweise beschwerlichen Fussmärschen durch die Pyrenäen in die USA, wo er sich aber nie heimisch fühlt und der Erfolg ausbleibt, obwohl er ein Werk nach dem anderen schreibt. Es sind düstere Jahre und die Alkoholprobleme seiner Frau tragen sicher viel dazu bei. Unterstützung erhält er von seinem Bruder Thomas, dessen Werke übersetzt werden und der auch sonst grosse Erfolge feiern kann. Nelly Mann nimmt sich 1944 das Leben und Heinrich Mann stürzt in ein grosses Loch.

Erst im Jahr 1949 scheint es aufwärts zu gehen. Heinrich Mann wird zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt, er stirbt aber noch vor seiner Übersiedlung am 11. März 1950 in Santa Monica, Kalifornien.

Werke

  • 1891 Haltlos
  • 1894 In einer Familie
  • 1897 Das Wunderbare und andere Novellen
  • 1900 Im Schlaraffenland
  • 1905 Flöten und Dolche (Novellen)
  • 1905 Professor Unrat (Roman)
  • 1907 Zwischen den Rassen
  • 1912 Die grosse Liebe
  • 1917 Die Armen
  • 1918 Der Untertan
  • 1912 Diktatur der Vernunft
  • 1932 Ein ernstes Leben
  • 1949 Der Atmen

Lebenskunst: Dunkle Stunden

Rainer Maria Rilke schrieb in einem meiner liebsten Gedichte:

„Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.

Aus ihnen kommt mir Wissen, dass ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangen Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.“

Das Leben läuft nicht immer so, wie wir uns das erträumt haben. Manchmal beginnen wir einen neuen Lebensabschnitt voller Freude und Hoffnung, um dann vor einer Mauer zu stehen, wo es nicht mehr weiter geht. Oder wir leiden an einer Krankheit, werden von Menschen enttäuscht, auf die wir gebaut haben. Und dann wird die Welt dunkel, alles erscheint in düsteren Farben, wir hadern mit geplatzten Hoffnungen und leiden. Es sind die Momente, die wir eigentlich nicht in unserem Leben wollen, wir streben die lichtvollen an, die, welche hell und klar scheinen. Leider wird das Leben nie nur hell sein, zudem ist es nicht mal sicher, ob das wirklich wünschenswert wäre.

Oft zwingen uns gerade die dunklen Stunden, genauer hinzuschauen. Oft öffnet sich dann der Blick auf vorher Verborgenes, wir erkennen Irrtümer, Wünsche, Träume, finden neue Ziele. Oft sind es die problematischen Situationen, an denen wir wachsen.

Vielleicht können wir dunkle Stunden auch als Chance sehen? Als Möglichkeit, innezuhalten, uns zu hinterfragen? Vielleicht sind sie Mittel, unserem Unbewussten mehr auf die Spur zu kommen, weil sie uns mit dem konfrontieren, was uns leiden lässt. Vielleicht finden wir dadurch auch Mittel und Wege, künftiges Leiden zu minimieren, so dass wir von Mal zu Mal wachsen. Und sicher hilft der Gedanke daran, dass irgendwann wieder die Sonne aufgehen wird und es hell wird. 

Was macht ihr, wenn im Dunkel sitzt? Habt ihr Strategien, wie ihr wieder ins Licht kommt?

Peter Bichsel (24. März 1935)

Peter Bichsel wird am 24. März 1935 in Luzern geboren, später zieht die Familie nach Olten, wo Peter Bichsel ans Lehrerseminar geht und schliesslich bis 1968 als Lehrer tätig ist. Schon während dieser Zeit veröffentlicht er kleine literarische Werke, hauptsächlich Lyrik, aber auch Prosa. Die kleine Form bleibt seine erste Wahl, neben Kurz- und Kürzestgeschichten schreibt er viele Kolumnen. Peter Bichsel ist ein Mann der Widersprüche. Einerseits intellektueller Linker, andererseits sehr volksnah und patriotischen Anlässen wie Schwingfesten nicht abgeneigt. Er schreibt einerseits politische Reden und Aufsätze, andererseits Artikel für die Unterhaltungspresse.

In seinen Werken erzählt er kleine Alltagsgeschichten, teilweise nur Episoden in einer einfachen Sprache. Wenn man genau hinschaut, verstecken sich dahinter tiefe und hintergründige Gedanken.  

«Ich mag Bahnfahrten und ich mag sie vor allem, wenn sie zwecklos, also ziellos, sind und ins Nichts oder ins Irgendwo führen – die dauernde Flucht, aber abgesichert durch Geleise, die zurückführen nach dem Zuhause.»

Peter Bichsel geht es nicht so sehr ums Schreiben, sondern ums Erzählen. Bei diesem Erzählen ist er sich oft selber nicht sicher, ob das, was er erzählt, schon eine Geschichte ist, ob der Stoff es wert ist, erzählt zu werden. Authentisch, wie er ist, thematisiert er diesen Zweifel auch gleich selber, so zum Beispiel in seinem Band «Zur Stadt Paris»:

«In Langnau im Emmental gab es ein Warenhaus. Das hiess Zur Stadt Paris. Ob das eine Geschichte ist?»

Und später in dem Büchlein:

«Jemand hat diese Geschichte kürzlich erzählt, und wenn jemand diese Geschichte erzählt, dann meint er etwas damit, aber ich weiss nicht, was. Die Geschichte wird erzählt, wenn es um Kunst geht, eine Geschichte also, die abends erzählt wird, und eine Geschichte also, die so tut, als wäre sie selbstverständlich, eine Geschichte, die vom Zuhörer nichts anderes verlangt als ein Nicken…»

Wenn man an Peter Bichsel denkt, sieht man oft einen Mann vor sich, der in der Dorfbeiz am Stammtisch sitzt mit einem Glas Wein vor sich. Er wirkt dabei fast wie eine seiner Figuren aus seinen Geschichten, und vielleicht ist an diesem Bild genau so viel Wahres wie an den Geschichten. Viele von diesen Geschichten nehmen ihren Ursprung auch genau da – am Stammtisch. Wo wird mehr erzählt, wo sitzen Menschen zusammen und erinnern sich, freuen und ärgern sich? Und mittendrin sitzt Peter Bichsel und hört zu. Und schreibt später darüber.

Dass Peter Bichsel es liebt, zuzuhören und zu beobachten, zeigt sich deutlich in dieser Aussage, die Peter Bichsel im Filmporträt «Zimmer 202 – Peter Bichsel in Paris» machte:

«Ich bin jetzt erst mal hier. Ich muss eigentlich gar nichts unternehmen. Ich kann mich auch auf eine Bank setzen und eine Zigarette rauchen und zuschauen.»

Das tut er denn auch. Er bleibt seinem Alltags – Ich auch in Paris treu, sitzt bei einem Glas Wein im Café (nah bei seinem Hotel) oder schaut aus dem Fenster und lässt die Welt vor seinen Augen ihren Gang gehen, lässt die Geschichten zu sich kommen, die er dann irgendwann erzählen wird.

«Ich merke, wie ich immer erst eine Geschichte erzähle, bevor ich Ihre Frage beantworte…»

Das sagte Peter Bichsel in einem Gespräch mit Sieglinde Geisel. Und wir sitzen da, hören und lesen seine Geschichten, suchen und finden den Menschen darin und dahinter, und schreiben über ihn. Fast wird er so zu seiner eigenen Geschichte.

Werke

  • 1964 Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen (21 Kurzgeschichten)
  • 1969 Kindergeschichten (7 Kurzgeschichten)
  • 1969 Des Schweizers Schweiz (Aufsätze)
  • 1982 Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen
  • 1985 Der Busant. Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone
  • 1986 Irgendwo anderswo. Kolumnen 1980 – 1985
  • 1995 Ein Tisch ist ein Tisch
  • 1999 Cherubin Hammer und Cherubin Hammer (Erzählung)
  • 2004 Wo wir wohnen. Geschichten

Ingeborg Bachmann, Max Frisch: «Wir haben es nicht gut gemacht.»

Der Briefwechsel

Inhalt

«Wir wären ein Unheil füreinander. Aber auch so kein Heil.» (MF)

Diese Worte schreibt Max Frisch an Ingeborg Bachmann, nicht lange nach ihrem ersten Treffen, in dem schon die Ahnung lag, was kommen wird. Es muss eine grosse Liebe gewesen sein, die einschlug und beide ergriff. Und doch war wohl beiden bewusst, wie schwer es für jeden von ihnen selbst ist, mit einem anderen Menschen zu eng zusammen zu sein, wie schwer es durch denselben Beruf und auch die Öffentlichkeit, in welcher beide standen, sein würde.

«…Lass das nicht zu! Ich möchte mit Dir ans Ende gehen, und wenn Du mich verlassen musst, nie wieder lieben…» (MF)

Der Leser wird Zeuge eines verzweifelten Ringens von zwei Personen um die Lebbarkeit einer Liebe, er liest sich Zeile für Zeile durch Alltäglichkeiten, Hoffnungen, Abgründe, Schmerz und Liebe. Es waren zwei Königskinder, die zwar sich, aber nicht wirklich zueinander im Sinne eines Miteinanders fanden.

Der hier veröffentlichte Briefwechsel gewährt erstmals einen offenen Blick auf eine Beziehung, die von Mythen umgeben war. Vor allem auf der Seite der Bachmannanhänger existierte das Bild der zum Opfer eines Beziehungstyrannen gewordenen Frau. Die 3jährige Arbeit von vier Herausgebern, Bachmann- und Frisch-Experten, legen einen neuen Grundstein für einen neuen Blick sowohl auf die Lebens- und Beziehungswege sowie die Werkbezüge der beiden Autoren.

Gedanken zum Buch

«Jetzt weiss ich es aus Erfahrung, dass ich in deiner Liebe, uns wenn sie mir über Jahre erhalten bliebe, allein sein werde… Man kann nicht zuhause sein zu zweit und allein sein. Du wirst mich aber immer allein lassen.» (MF)

Max Frisch suchte die Zweisamkeit, er wollte die Liebe im Alltag präsent haben und sah sich mit einer Frau konfrontiert, die sich diesem Wunsch immer wieder entzog, die sich nicht einengen lassen wollte und wohl auch nicht konnte. Dies lag wohl in ihrem Naturell, welchem sie sich nicht entziehen konnte. Ihre Worte klingen anders:

«Es ist schwer für mich, weil ich so gerne etwas Ganzes möchte, etwas Kompromissloses mit Mann und Haus und Kind.» (IB)

Ingeborg wollte eigentlich alles, sie suchte die Liebe, sie brauchte sie, sie lechzte förmlich danach. Und doch konnte sie sie nicht so leben, sie konnte die Nähe nicht aushalten, floh immer wieder nach kurzer Zeit oder, wenn schon weg, verzögerte die Rückkehr. So lebten die beiden zwar in einem Haushalt, und waren doch sehr selten beide am gleichen Ort.

«…ich habe in der Liebe und durch die Liebe immer den Boden verloren und daher nie einen gehabt… ich werde, solange ich liebe, keinen Platz in der Welt finden, nie das bekommen, was ich am meisten ersehne, und darum wird alles, was ich sonst bekomme und wofür ich mich bemühe , dankbar zu sein, für immer ohne Glanz sein.» (IB)

Es klingt, als ob Ingeborg Bachmann resigniert hat, als ob sie Angst hat, die Liebe zu leben, wie sie sie gerne leben würde, aus Angst vor neuem Schmerz, wie sie ihn in der Vergangenheit erlebt hat. Indem sie sich also nicht auf Max Frisch einlassen kann, entzieht sie ihm das, was er wiederum bräuchte, um ihr das zu bieten, wonach sie sich tief drin sehnen würde. Und so drehen sich die beiden im Kreis eines sich gegenseitig befeuernden Entziehens, mit dem schlussendlich beide nicht zurechtkommen.

«Ich fand keine Brücke, keine Möglichkeit einer Brücke. Ich bin auf Brücken angewiesen, Du wahrscheinlich nicht. Ich zweifle nicht an deiner Liebe, Ingeborg, nicht an der Grösse deiner Liebe, wenn du liebst. Ich weiss nur, dass ich nicht beziehungslos lieben kann… Vielleicht weil bei mir die Leidenschaft nicht ausreicht, um sich selbst zu genügen. Ich kann nicht allein sein.» (MF)

Wir lesen diese Briefe mit steigernder Bestürzung, wir werden Zeuge eines Paares, das mit sich und mit dem anderen ringt, das leidet, kämpft und doch immer wieder resigniert. Wir lesen Liebesschwüre, Anschuldigungen, wir lesen Entschuldigungen und Selbstverteidigungen, wir lesen von Lösungsansätzen und Missverständnissen und sind tief in einer Zweierkiste der Dritte, irgendwie nicht ganz zu Recht da. Es stellt sich die Frage, ob es legitim ist, eine so intime Geschichte so nah mitzuverfolgen. Es stellt sich die Frage, ob wir als Voyeure dieses privaten Austauschs nicht zu weit gehen, eine Grenze überschreiten. Und doch gibt es diesen Briefwechsel, er ist gedruckt worden und das hatte Gründe, die vielschichtig sind.

Für die Literaturwissenschaft ist der Briefwechsel wohl ein Geschenk. Es sind Briefe von hohem literarischem Niveau, die nicht einfach nebenbei geschrieben, sondern regelrecht sprachlich komponiert sind. Man merkt den Briefen die Mühe und Sorge an, welche die Schreibenden einfliessen liessen. Die Briefe sind zudem ein weiterer Schritt zur Erschliessung zweier Werke, die durch diese Offenlegung einen neuen Schlüssel zu ihrer Interpretation erhalten.

«Ich möchte wieder lieben können – Dich und vieles und auch mich.» (IB)

Die vorliegende Korrespondenz ist nichtsdestotrotz privat und sie legt intime Gedanken und Gefühle zweier Menschen offen. Ingeborg Bachmann wollte aus diesem Grund nicht, dass die Briefe veröffentlicht werden, und Max Frisch hatte ihr testamentarisch zugesichert, dass dies nie passieren wird. Er hat später seine Meinung geändert und sie lediglich für eine bestimmte Zeit nach seinem Ableben gesperrt. Da diese Frist bald ausläuft, wären die Briefe bald öffentlich zugänglich. Diesen Umstand nennt Heinz Bachmann, Ingeborg Bachmanns Bruder, als eine Begründung, wieso er einer Veröffentlichung in diesem vorliegenden Rahmen zustimmte: so sei immerhin die sorgfältige und gewissenhafte Aufarbeitung gewährleistet. Dies ist auch gelungen. Ergänzt wird der Briefwechsel durch verschiedene sachkundige Kommentare der Herausgeber sowie einen ausführlichen Stellenkommentar.

«Wir haben es nicht gut gemacht.»

Was Frisch hier zum Ausdruck bringt, kann als sachliches Fazit gesehen werden. Wer die Briefe gelesen hat, weiss, dass keiner der beiden so sachlich gewesen ist, was diese Beziehung anbetraf. Beiden ging sie tief, beide litten sie, beide nagten am Ende und zogen ihre Wunden ins weitere Leben hinein. Als Leser bleibt man tief betroffen und auch nachdenklich zurück. Das ist kein Buch, das man einfach mal durchliest und beiseitelegt. Es hallt nach.

Fazit
Ein bewegendes, berührendes, ab und zu auch bedrückendes Buch, das einen neuen Schlüssel zur Erschliessung von Leben und Werk zweier grossartiger Schriftsteller liefert.

AutorInnen und Herausgebende
Ingeborg Bachmann, geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, wurde durch einen Auftritt vor der Gruppe 47 als Lyrikerin bekannt. Nach den Gedichtbänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956) publizierte sie Hörspiele, Essays und zwei Erzählungsbände. Malina (1971) ist ihr einziger vollendeter Roman. Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom.

Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Zürich, arbeitete zunächst als Journalist, später als Architekt, bis ihm mit seinem Roman Stiller (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane Homo faber (1957) und Mein Name sei Gantenbein (1964) sowie Erzählungen, Tagebücher, Theaterstücke, Hörspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Zürich.

Hans Höller war bis 2012 Professor für Neuere Deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg und bis 2020 einer der Gesamtherausgeber der Salzburger Bachmann Edition. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher zur zeitgenössischen Literatur, Mitherausgeber mehrerer Bände der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und der Jean-Améry-Ausgabe.

Renate Langer ist Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Salzburg, Herausgeberin der Bände 3 und 6 der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und Herausgeberin mehrerer Bände der Salzburger Bachmann Edition.

Thomas Strässle ist Professor für Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Leiter des transdisziplinären Y Instituts an der Hochschule der Künste Bern. Er ist Präsident der Max Frisch-Stiftung.

Barbara Wiedemann, Literaturwissenschaftlerin mit editionsphilologischem Schwerpunkt, Lehrbeauftragte an der Universität Tübingen, Herausgeberin von Werken und Briefen Paul Celans, quellenkritische Studien zu Paul Celan im Kontext der zeitgenössischen Literatur (u. a. von Ingeborg Bachmann und Nelly Sachs).

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Suhrkamp Verlag; 3. Edition (21. November 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 1039 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3518430699

Caroline Schmitt: Liebewesen

Inhalt

«Wer sein Herz an Lebewesen hängt, kann nur verlieren, dachte ich.»

Lio lernt Max kennen, zwei Menschen kommen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Was sie verbindet: Sie sind beide auf ihre Weise verletzte Seelen. Während Max aber offen durch die Welt geht, so auch versucht, in Lios Welt einzudringen, ist Lio verschlossen und versucht krampfhaft, ihn draussen zu halten. Zu gross sind ihre Ängste, zu tief die Verletzungen ihres vergangenen Lebens. Die Bestrebungen, näher zusammenzuwachsen, zeigen langsam Früchte, doch dann wird Lio schwanger und alles verändert sich erneut.

Gedanken zum Buch

«Zuerst war ich meiner Mutter der Dorn im Auge, der ihre Zweisamkeit zerstörte, dann der Dorn, der ihre Nippel wund biss, anstatt daran zu saugen, und dann der Dorn, der ihr das Geld aus der Tasche zog.»

Lio wächst mit dem Gefühl auf, ungewollt zu sein. Die Botschaft, fehl am Platz zu sein, eine Last und überflüssig, hat sich tief in ihre Seele eingegraben. Die Schläge und Übergriffe in der Kindheit und Jugend haben tiefe Narben hinterlassen, sie haben dazu geführt, dass Lio eine dicke Mauer aus Ironie, Zynismus und Distanz um sich aufgebaut hat, hinter der sie sich versteckt und mit der sie sich schützen will. Nun verletzt nur noch sie selbst sich immer wieder – auf allen Ebenen.

«Ich war der unentspannteste und hässlichste Mensch, der je unter ihm gelegen hatte. Ich wollte raus aus dieser Situation und raus aus diesem Körper, nicht nur für den Moment, sondern für immer, ich wollte sterben, aber den Gefallen tat mein Körper mir nicht.»

Lio leidet an sich selbst und an den Erfahrungen, die sich so tief in ihren Körper und ihre Seele eingebrannt haben, dass sie sie von innen heraus zu verbrennen scheinen. Das Gefühl, nichts wert zu sein, lässt sie daran zweifeln, dass jemand sie lieben könnte. Ihr Körper ist ihr so fremd, dass sie ihn lieber zerstören würde, als dass sie ihn geniessen kann. Max will ihr helfen, er will ihr einen Weg zu sich selbst zurück zeigen. Er will mit ihr über das sprechen, was sie an den Punkt gebracht hat, wo sie heute ist. Doch auch Max hat seine Verletzungen und Abgründe, die regelmässig die Beziehung erneut auf eine grosse Probe stellen.

«Vielleicht krachen nicht wir gegeneinander, sondern die Welten, aus denen wir kommen.»

Wir sind, wer wir wurden, weil wir erlebten, was uns begegnete im Leben. Was wir in der Kindheit erfahren, zieht seine Fäden ins Erwachsenenleben und wirkt durch uns hindurch. Es ist schwer, das abzulegen. Und so prallen mitunter Welten aufeinander, die aus einer anderen Zeit stammen und in der heutigen nicht zusammenpassen. Das müssen auch Lio und Max mit der Zeit anerkennen.

«…mir ist im Laufe der Zeit immer klarer geworden, was mit mir alles nicht stimmt. Wenn ich dich anschaue, sehe ich mein Versagen.»

Es sind Beziehungen, die uns zeigen, wer wir sind. Erst durch ein Du erfahren wir das Ich in all seinem Sein und Tun wirklich. Der Partner wirkt gleichsam als Spiegel, der einem vorgehalten wird. Das macht das Zusammensein mitunter schwer. Das müssen auch Lio und Max erkennen und einen Weg suchen, wie sie damit umgehen wollen und können.

«Liebewesen» ist ein tiefgründiges Buch, das grundlegende Themen des Lebens aufgreift. Es geht um das eigene Werden und Sein, um Vertrauen, Verrat, Verletzungen und (Selbst-)Zerstörung. Es geht um Liebe und Tod, um Neuanfänge und Enden. Es ist ein Buch über das Schweigen und die Sprachlosigkeit in Bezug auf das, was schmerzt. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die tief verletzt und doch tapfer einen gemeinsamen Weg suchen und gehen wollen. Es ist dadurch auch ein Buch voller Hoffnung. Caroline Schmitt nähert sich all diesen Themen auf eine leichte und oft auch humorvolle Weise, ohne dabei den Ernst zu verdecken. Es gelingt ihr, die eigentlich schweren Themen in eine flüssig lesbare Form zu bringen, so dass sie nicht erschlagen beim Lesen, sondern einen in den Bann ziehen, weil immer wieder die Hoffnung da ist, dass es einen Weg gibt, all das Schwere hinter sich zu lassen, so dass doch noch alles gut kommt. Was auch immer gut bedeuten mag.

Fazit
Ein tiefgründiges, nachdenkliches, aber auch humorvolles Buch über die Beziehung zweier verletzter Seelen, die mit den eigenen Abgründen kämpfen und auf eine bessere Zukunft hoffen.

Zur Autorin
Caroline Schmitt, Jahrgang 1992, studierte Journalismus an der University of the Arts London. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Journalistin für Deutsche Welle, ZDF und funk. LIEBEWESEN ist ihr erster Roman.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Eichborn; 2. Aufl. 2023 Edition (27. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 224 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3847901303

Christa Wolf (18. März 1929 – 1. Dez. 2011)

Ich hebe mein Glas auf eine wunderbare, tiefgründige, engagierte Schriftstellerin – Christa Wolf

Denkzeiten

„Unverhüllt autobiographisches Schreiben ist unter den vielfältigen Schreibmöglichkeiten zugleich die leichteste und die schwerste: leicht, weil der oder die Schreibende sich im Stoff bewegt wie der Fisch im Wasser; weil alles bekannt, vertraut ist, nichts erfunden muss (oder darf) – vielleicht, dass, um des lieben Friedens willen, einige Namen verändert, einige Handlungsorte verschleiert werden. Aber man schöpft aus der Fülle.Das schwerste ist es, weil es, soll es gelingen, bekennendes Schreiben sein muss, was meistens heisst: Es muss weh tun.“

Dies schreibt Christa Wolf in ihrem Essay „Autobiographisch schreiben“ zu Günter Grass’ „Beim Häuten der Zwiebel“, aber man könnte es genauso als Selbstbeschreibung sehen, behandelt Christa Wolf in ihren Büchern doch immer auch ihre eigene Biografie, verwebt diese in die erzählten Geschichten.

Christa Wolf wird am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe geboren, wo sie auch bis kurz vor Kriegsende die Schule besucht. Als die Truppen der Roten Armee…

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Julia Schoch: Das Vorkommnis

Zum Inhalt

«Wir haben übrigens denselben Vater.
In meiner Erinnerung bricht mir bei diesem Satz der Füller aus. Die Feder entgleist, und es entsteht eine lange, tiefe Linie auf dem Papier. Eine Linie des Schocks. Als wäre ich mitten in der Unterschrift von einer Kugel getroffen worden.»

Bei einer Lesung steht eine fremde Frau vor dem Lesepult der Autorin und sagt, sie hätten beide denselben Vater. Danach verschwindet sie wieder, lässt die Autorin mit all ihren Gedanken, die sie mit nach Amerika und wieder zurück nach Deutschland nimmt, allein.

Gedanken zum Buch

«Nie weiss an genau, in welcher Gegenwart man lebt. Manchmal sind wir lange Zeit in Gedanken woanders, bei Menschen und Geschehnissen aus einer anderen Zeit, anderen Räumen.»

Wir folgen der Ich-Erzählerin, einer Autorin, von Deutschland nach Amerika und zurück. Noch viel mehr aber folgen wir ihren Gedankengängen, dem Reisen durch viele Orte und noch mehr Zeiten. Es ist ein Pendeln innerhalb einer Geschichte, in welcher die Vergangenheit sich in die Gegenwart eingräbt und diese prägt. Es ist das verfolgen von Erinnerungen, die sich doch nie als wirklich verlässlich zeigen, die immer auch wieder in Zweifel gezogen werden.

«Trotzdem oder gerade deshalb habe ich dem Vergessen immer grosse Sympathien entgegengebracht. Ich glaube, ich hatte viel übrig für das Schweigen.»

Und manchmal sind da keine Erinnerungen. Oder sie tauchen auf, während sie lange verschollen waren. Es ist ein Hinterfragen dessen, was präsent ist, ein Infragestellen der eigenen Sicht auf sich und das Leben mit all seinen gelebten und ungelebten Beziehungen und Bezugnahmen.

«Es ist leicht, über etwas nicht zu reden. Zu glauben, dass die Dinge ihre bedrohliche Kraft verlieren, wenn man nicht darüber spricht. Zu hoffen, dass alles schwächer und blasser wird, je mehr Zeit vergeht.»

Manchmal ist es vielleicht nicht mal ein Vergessen, sondern ein (aktives?) Verdrängen. Die Dinge, die nicht fassbar scheinen, die überfordern wollen, die nicht in das eigene gemachte Leben passen, werden ausgeblendet. In diesem Ausblenden erhofft man sich Ruhe, erhofft man sich, dass das, was nicht passt, verschwindet durch das Nicht-Erinnern, dadurch, dass nicht zur Sprache kommt, keine Sprache hat.

«Damals dachte ich unentwegt daran, was noch im Verborgenen liegen könnte oder jemals im Verborgenen gelegen hatte. Auch die Beziehung zu meinem Mann, die mir bis dahin als die grösste Liebesgeschichte des späten 20. Jahrhunderts erschienen war, bekam Risse – allein dadurch, dass ich über sie nachdachte.»

Wir richten uns in unserem Leben ein, welches wir zu kennen glauben. Wenn wir merken, dass wir nicht alles erfasst haben, dass sich unter der Decke des Bekannten Unbekanntes verbirgt, welches plötzlich hervorbrechen kann, bringt das eine Unsicherheit in die vormalige (Schein-)Sicherheit. Das bislang Bekannte erscheint als Illusion, als Ausschnitt von etwas Grösserem oder Anderem, das wir vielleicht nur noch nicht kennen, das aber ebenso über uns hereinbrechen und alles durcheinander bringen könnte.

«Aber selbst wenn man es schafft, wenn man die passenden Worte findet, ist das Schreiben eine Art Verdrängung, immer. Da es die Dinge in einem neuen Licht erscheinen lässt. Man lebt fortan mit einer neuen Version seiner selbst.»

«Das Vorkommnis» ist ein nachdenkliches, ein tiefgründiges Buch, ein Buch, welches das Leben hinterfragt. Es ist ein Buch über Herkunft, über Beziehungen, über Familie und den Wert von Erinnerungen. Es ist aber auch immer wieder ein Buch über die Verarbeitung all dessen, was man im Leben antrifft, was in dieser Geschichte vielfach über das Schreiben und die Reflexion dieses Schreibens passiert.  Julia Schoch lässt uns durch die Protagonistin, die namenlose Ich-Erzählerin eintauchen in die Welt und vor allem die Gedanken einer Frau, die durch ein Vorkommnis, das unerwartete Auftauchen einer bislang unbekannten Schwester, aus der Bahn geworfen wird und plötzlich nicht mehr weiss, ob sie bisher überhaupt in einer drin war. Als Leser findet man sich unweigerlich in einem Dialog zwischen den Gedanken der Protagonistin und den eigenen.

Fazit
Ein grossartiges Buch darüber, wie ein einzelner Augenblick das ganze Leben verändern kann – zum Nachdenken anregend, tiefgründig, ein Buch, das einen von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann zieht.

Zur Autorin
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman ›Das Vorkommnis. Biographie einer Frau‹. Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

Ebenfalls von ihr erschienen: «Das Liebespaar des Jahrhunderts»

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 1. Edition (16. Februar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3423290210

Gedankensplitter: Sprache als Heimat

«Ohne Sprache, ohne Schreiben, fühle ich mich wie ein Obdachloser ohne Heimat.» Carolin Emcke

Ich weiss nicht, wann sie anfing, die Liebe zur Sprache, zum Wort. Zuerst war sie beim Lesen da, ich liebte Geschichten, ich hörte sie vorgelesen und von Tonbändern. Ich lernte früh lesen, und von da an war kein irgendwo geschriebenes Wort mehr sicher vor mir. Jedes Plakat, jede Inschrift wollte gelesen sein. Die wöchentlichen Gänge in die Ortsbibliothek waren mein Highlight, ich deckte mich jedes Mal mit Stapeln ein, die ich zu Hause feinsäuberlich lesend abtrug (damals waren die Stapel offensichtlich überschaubarer als heute). Bald kam zur Liebe zu beschriebenen Büchern die zu schönen leeren dazu, die ich selbst schreibend füllen wollte. Manchmal holte ich auch die Schreibmaschine meiner Mutter aus dem Schrank und fühlte mich wie ein Schriftsteller, wenn ich davorsass und tippte.

Diese zwei Lieben sind geblieben, mein Leben lang bis heute. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht lese, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht schreibe. Ich höre oft, ich solle mal Urlaub machen, mal ausspannen, mal einen Tag einfach nur frei sein. Ich verstehe diese Gedanken, allein sie verkennen, dass für mich Schreiben und Lesen Freiheit sind, nämlich die Freiheit, ganz ich zu sein, an genau dem Ort zu sein, wo ich mich zuhause fühle. Ich habe mich in meinem Leben immer wieder gefragt, was Heimat bedeutet, wo ich zuhause bin. Ich glaube, das ist die Antwort: In der Sprache. 

Was bedeutet Heimat für euch?

Prägende Bücher

Ich hörte eine Zeit lang den Podcast «Das Lesen der anderen», in welchem Menschen ihre fünf prägendsten Bücher vorstellten. Es blieb natürlich nicht aus, dass ich mir über meine Gedanken machte. Ich hatte vier auf Anhieb, es war kein Nachdenken nötig, kein Zögern fand sich ein. Das fünfte machte es mir schwer. Ich überlegte, ich kam nicht drauf, bis ich bei mir dachte, dass dies wohl das ist, was mich ausmacht: Das fünfte gibt es wohl, nur wechselt es immer mal wieder, je nach Alter, Zeit, Lust und Laune. Es gibt so vieles in der Welt, das interessant ist, so dass es mir oft schwerfällt, mich ein für alle Mal festzulegen, unwiderruflich (einige wenige Ausnahmen bestätigen die Regel). Und: Es wäre unfair all den Büchern gegenüber, die ich noch lesen wollte: Meine fünf Plätze wären belegt, da käme nichts mehr dafür in Frage. 

Wieso aber die gewählten vier Bücher?
– Mit «Grimms Märchen» fing alles an. Ich kriegte sie vorgelesen, ich liebte die Geschichten, allen voran «Der eiserne Heinrich», den ich mir immer wieder neu wünschte als Gute-Nacht-Geschichte. 
– Thomas Mann, Doktor Faustus: Ich habe das Buch gelesen, zerlesen, analysiert, damit gelebt in der Zeit meiner Masterarbeit. Die Zeit war durchtränkt von Thomas Mann und der Master ein erstes Etappenziel eines Traums, den ich schon als kleines Mädchen hatte: Studieren. 
– Goethes Faust: Ich las es wieder und wieder, dieses Streben nach Erkenntnis, nach Verstehen, dieses Verzweifeln oft auch am Leben und seinen Beschränkungen, die ich so gut kannte, haben mich immer wieder neu eingenommen – und die Sprache, die Kunst dahinter. 
– Rilke: Das Buch ist zerlesen, durchgearbeitet, es ist mein Begleiter seit vielen Jahren und immer wieder auch Zuflucht, wenn ich auf der Suche nach etwas Schönem, Tröstenden, Tiefen bin. 

Was sind für euch prägende Bücher?

Ein entscheidender Augenblick

Sie war mittlerweile genügsam geworden. Sie hoffte nicht mehr auf die grosse Liebe, wenn Susanne sie wieder einmal verkuppeln wollte. Schon ein netter Abend wäre gut. Ab und zu fragte sie sich, ob ihre Freundin sie wirklich kannte. Die Zweifel lagen auf der Hand bei den vorgestellten Männern. Heute stand eine Dichterlesung an. Sie liebte Lyrik, weniger aber die Lyriker, die waren ihr seltsam fremd. Und: Der Auserwählte war der Künstler himself, sicher mit weissem Schal und gegelten Haaren.

Sie schaute sich im Spiegel an. Für ihre 50 Jahre sah sie noch ganz passabel aus. Dass sie trotzdem Single war, lag wohl eher daran, dass sie insgeheim gar keine Beziehung wollte. Zu kompliziert, zu anstrengend, zu viel Risiko. Und doch war da manchmal diese leise Sehnsucht, nicht allein zu sein, sich austauschen zu können, jemanden an der Seite zu haben, der sie versteht. Ob man das überhaupt konnte? Sie verstehen? Manchmal tat sie es selbst nicht.

Sie waren die ersten, die bei der Lesung ankamen. Dabei blieb es. Der Künstler sass vor den aufgereihten Stühlen, schaute suchend umher. Sie war sich nicht sicher, ob er froh war, dass sie gekommen waren, oder keine Zeugen dieses Vorkommnisses vorgezogen hätte. Was sollte er tun? Nicht lesen? Doch lesen? Sie fühlte förmlich, wie es in ihm drehte, wie sich Selbstzweifel, Unsicherheiten, Trauer und Wut unterhielten und sich gemeinsam gegen ihn verbündeten. Das Ganze rührte sie auf merkwürdige Weise an. Da schien eine Seele genauso verloren zu sein wie sie es selbst ab und zu fühlte.

Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen. Mit einem Auge, mit dem anderen schielte er zu ihrer Freundin. Oder war es andersrum? Sie konnte es nicht genau sagen. Sie wusste nur: das war doch sehr kompliziert, anstrengend, verunsichernd. Schlicht: Nichts für sie!

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Dieser Text entstand im Rahmen der abc.etüden von Christiane, HIER die Schreibeinladung

Die Regeln: 3 Worte in max. 300 Worten, die Worte dieses Mal lauteten Dichterlesung, genügsam, verkuppeln. Sie wurden gespendet von Werner Kastens (hier sein Blog)

Annie Ernaux: Der junge Mann

Inhalt

«Er entriss mich meiner Generation, aber ich gehörte nicht zu seiner.»

In den Fünfzigern beginnt sie eine Affäre mit einem 30 Jahre jüngeren Mann. Mittlerweile gut situiert führt er sie zurück in die sozialen Schichten ihrer Vergangenheit, sie lebt ihr erinnertes Leben neu. Dabei wird ihr mehr und mehr klar, dass sich das so nicht ewig leben lässt.

Gedanken zum Buch

«Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.»

Es war wohl Susan Sontag, die schrieb, sie müsse ihr Leben aufschreiben, um es zu verstehen. Oder war es Joan Didion? Auf jeden Fall finden sich so ähnliche Schreibmotive bei vielen Autoren und Autorinnen. Erst das geschriebene Wort verleiht dem Erlebten eine fassbare Realität, eine, die feststeht, im wahrsten Sinne des Wortes festgeschrieben und damit festgehalten ist. Liest man dieses Buch allein ohne Kenntnis der weiteren Schriften von Annie Ernaux, könnte man diesen Satz dahingehend interpretieren, dass das Leben bislang ein verflossenes, ein nur erlebtes war, dass es erst durch die Wiederholung und das Erinnern und nun Aufschreiben zu einem realen wird, das mit dem Akt des Aufschreibens auch zu einem Ende kommt.

«Ich war alterslos und trieb in einem halbbewussten Zustand zwischen verschiedenen Zeiten hin und her.»

Die Protagonistin befindet sich in ihrer Lebensmitte, viele Jahre liegen hinter ihr, einige vor ihr. Durch die Konfrontation mit einem jungen Mann, der in seinem Leben an einem anderen Punkt steht, lebt sie einerseits das Leben hier und heute mit ihm, aber sie er-lebt auch ihr vergangenes Leben neu durch ihre Erinnerung. In nur wenigen Sätzen, Gedankenfetzen, die aus dem Moment entstehen und zurück weisen in die Jugend, die Kindheit, entwickelt sich das Bild eines ganzen Lebens. Das unangepasste Mädchen von damals schimmert ins Heute hinein, die verflossene Ehe flackert in Bruchstücken auf.

«Er war Träger der Erinnerungen an meine erste Welt.»

Es ist ein Mäandern zwischen den Zeiten und auch zwischen den verschiedenen Welten, zwischen ihrer Welt hier und heute, seiner Welt heute und ihrer von früher. Wenn Erinnerungen zu präsent werden, kommt es mitunter vor, dass sich die Zeiten vermischen und nicht mehr klar ist, in welcher man sich gerade befindet.

«Mit ihm durchlief ich alle Alter des Lebens, alle Alter meines Lebens.»

In der gefühlten Zweisamkeit hören die Unterschiede auf, welche zu sein. Sie zeigen sich umso mehr im Alltag, am deutlichsten aber durch den Blick von aussen, wie er den beiden auf der Strasse, in der Öffentlichkeit begegnet. Einerseits wird durch diesen klischeebehafteten Blick bewusst, dass man sich ausser der Norm befindet, andererseits zeigt er nur deutlich, was tief drin immer wieder aufkommt: Das Gefühl, dass diese Verbindung nicht ewig dauern wird, zu verschieden sind die Welten. Herrschte am Anfang noch der Zauber des Neuen, des Wilden, auch des Verbotenen vor, hört dieser Zauber der Verklärung langsam auf und der Blick wird nüchterner.

Fazit
Ein kleines Buch mit grossem Inhalt, enthält es doch ein ganzes Leben in ungewöhnlicher Dichte.

Zur Autorin und zur Übersetzerin
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nobelpreis für Literatur.

Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ Suhrkamp Verlag; 1. Edition (16. Januar 2023)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 48 Seiten
Übersetzung‏ : ‎ Sonja Finck
Originaltitel ‏ : ‎ Le jeune homme
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3518431108

Ingeborg Bachmann/Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht“

Lesegedanken zum Briefwechsel

Langsam lese ich mich durch die Briefe hindurch, tauche ein in diese verzweifelte Sehnsucht nach Liebe von Ingeborg Bachmann. Ich habe viel gelesen über sie, von ihr, und doch öffnet dieses Buch einen neuen Blick auf alles. Zu sehen, wie sie hängt zwischen den Stühlen, wie sie vergeblich versucht, sich zu erklären, dann sich zu lösen, dann wieder aufgibt und der Trauer freien Lauf lässt, dem Unverständnis, wie es hat kommen können, wie es ist. All das berührt mich sehr, bewegt mich, zieht mich mit und in das Buch hinein. Sie wächst mir ans Herz, mehr und mehr.

Ein tiefes Buch, keines, das sich einfach weglesen lässt, keines, das ich einfach so nebenbei lesen kann und will. Ich möchte es leben, mitleben, erleben, erfühlen.

Und doch kommt ab und zu der Gedanke auf: Das war nicht für mich bestimmt. Und doch kann ich mich dem nicht entziehen. Ich versuche, dem Buch, dem Inhalt, den beiden Menschen dahinter, mit dem nötigen Respekt und einer wertungsfreien Offenheit zu begegnen. Ich versuche, dem Vertrauen, das sie mir schenken müssten, sich mir so zu offenbaren, gerecht zu werden.

Und immer wieder staune ich, was Bücher bewirken können, was sie bewegen, auslösen können. Und ich bin dankbar, habe ich die Möglichkeit, immer wieder in diese Welten einzutauchen.

Eric-Emmanuel Schmitt: Oskar und die Dame in Rosa

Zum Inhalt

«Man kann dem Leben nicht mehr Tage geben, aber den Tagen mehr Leben.» (Chinesische Weisheit)

Oskar wird sterben. Er ist zehn Jahre alt und hat Leukämie. Im Spital besucht ihn die ehemalige Catcherin Madame Rosa, sie erzählt ihm von Gott, an den Oskar nicht glauben mag – wieso wäre sein Leben sonst so, wie es ist? Trotzdem folgt er ihrem Rat und beginnt, Gott Briefe zu schreiben, in denen er alles aufschreibt, was ihn bewegt, was ihm wichtig ist, was er sich wünscht. Er schreibt über sein Leben, das er nun schneller leben muss, über seine Liebe, über seine Eltern. Und er lebt sein Leben aus vollem Herzen – ein ganzes Leben in wenigen Tagen.

Gedanken zum Buch

«Man tut immer so, als käme man nur in ein Krankenhaus, um gesund zu werden. Dabei kommt man auch rein, um zu sterben… Und ich glaube, dass wir beim Leben den gleichen Fehler machen. Wir vergessen, dass das Leben zerbrechlich ist, verletzlich und vergänglich, und tun so, als wären wir unsterblich.»

Eric-Emmanuel Schmitt gelingt es, ein eigentlich trauriges Thema in eine kleine, feine, warmherzige Geschichte zu verweben. Es ist eine Geschichte vom Leben und vom Sterben, aber auch eine Geschichte von Freundschaft, Liebe, Zuversicht und Mut. Es ist die Geschichte eines kleinen Jungen, dessen Zeit absehbar ist, und der diese Zeit nutzen will, um ein ganzes Leben darin zu leben. Es ist eine Geschichte, die dazu aufruft, es Oskar gleich zu tun.

«Vertrau ihm deine Gedanken an. Gedanken, die man nicht ausspricht, machen schwer.»

Oskar schreibt dem lieben Gott Briefe, obwohl er nicht an Gott glaubt und auch nicht gerne schreibt. Es werden am Schluss 13 Briefe sein, in denen sich Oskars Leben ausbreitet, in denen seine geheimen Gedanken und die gemachten Erfahrungen Platz finden. Damit werden diese Dinge nicht nur dem Leser zugänglich, das Schreiben kann auch weitere Funktionen haben. So sagte Susan Sontag einst: «Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke.» Nicht umsonst schrieben viele grosse Geister Tagebuch, riefen schon Marc Aurel und Epiktet dazu auf, das Leben schriftlich zu bedenken.

Ein wunderbares Buch, das zu Herzen geht, das berührt durch seine Geschichte, das zudem viele kleine Sätze voller Tiefe und Schönheit in sich birgt.

Fazit
Ein kleines Buch mit grosser Wirkung, das direkt ins Herz trifft.

Zum Autor
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyon, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Mit seinen Erzählungen wie »Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran« wurde er international berühmt und gehört heute zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren in Frankreich. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Schmitt lebt in Brüssel.

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ Fischer; 15. Edition (1. September 2005)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Übersetzung: Annette Bäcker, Paul Bäcker
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 112 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3596161317

Lebenskunst: Das Gute schätzen

Heute Morgen floss ich durch meinen Morgenflow auf der Matte, spürte meinen Körper, fühlte, wie ich fest auf dem Boden stand, mich nach oben streckte, als wollte ich über mich hinauswachsen. Und dann nahm ich die Hände vors Herz und spürte diese Ruhe. Und Dankbarkeit. Und ich formulierte sie in Worte, dankte mir für meine Disziplin, jeden Morgen auf der Matte zu erscheinen. Ich dankte meinen Körper, dass er mich zuverlässig durchs Leben trägt, obwohl ich ihm nicht immer gut geschaut, ihn zeitweise eher schlecht behandelt hatte. Danach spürte ich den Boden noch intensiver, ich spürte, wie ich getragen bin und ich spürte ein Vertrauen in diese Basis, von der aus ich weiter wachsen darf. 

Von Bruder David Steindl-Rast stammen diese wunderbaren Worte:

„Dankbarkeit ist Denken im Einklang mit der kosmischen Intelligenz, die uns in dankbaren Augenblicken inspiriert. Sie kann mehr als eine Stimmung verändern, sie kann die Welt verändern.“ 

Oft nehmen wir das Gute für selbstverständlich, sehen nur die Mängel, und vergeben uns damit so viel. Dankbarkeit für das, was ist, bringt eine Kraft ins Leben, welche hilft, mit Herausforderungen besser umzugehen. Eine Kraft, die Ruhe bringt, wo vorher alles drehte, die Positives ins Zentrum rückt, wo vorher Angst und Not und Ohnmacht herrschten.

Wofür bist du dankbar? Was ist gut in deinem Leben?

Julia Schoch: Das Liebespaar des Jahrhunderts

Inhalt

«Im Grunde ist es ganz einfach: ich verlasse dich.
Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man muss sie bloss aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe.»

Die Geschichte einer Liebe, von den Anfängen bis zum Ende. Die Höhen und Tiefen eines Paares mit all seinen Lebens-Alltäglichkeiten, Zweifeln, Abgründen und Höhen. Die Geschichte über den Wert zu bleiben und den Wunsch zu gehen. All das aus der Sicht einer Frau, die gehen will und sich fragt, wie sie überhaupt an diesen Punkt kam – und wie sie mit diesem umgehen kann, soll und will.

Gedanken zum Buch

Julia Schoch ist es gelungen, den Leser mit dem Innersten der Protagonistin vertraut zu machen, ihn tief in die gefühlte Beziehung aus ihrer Sicht hineinzuziehen. Wir kennen die Eigenheiten, Gedankengänge, Lebenshaltungen, aber: Wir würden sie beide nie auf der Strasse erkennen. Wir haben kein Bild, nur ein Gefühl, ein gefühltes Sein, ein gedachtes, durchdachtes und vor allem hinterfragtes Sein.

«Von hier ab könnte ich genauso gut schreiben, der Mann tat dies, die Frau tat jenes. Unsere Konturen verwischten, wir wurden allgemeiner… Unsere Geschichte hatte eine Richtung eingeschlagen, in der wir zu einem Paar wurden, in dem sämtliche Paare dieser Welt enthalten waren… Nur im Anfang schien unsere Einzigartigkeit zu liegen.»

Was ist wichtig in einer Beziehung? Wo fängt sie an, wo hört sie auf? Wann müsste sie aufhören?

«Jemanden zu verlassen heisst: Ich verlasse meine Vergangenheit. Zögert man deshalb? Wer will schon gern ohne Geschichte leben?»

Wieso tut sie es oft dann doch nicht? Und wieso war das vielleicht nicht mal das schlechteste? Sartre schrieb, die Hölle seien immer die anderen. Das trifft wohl nirgends so gut wie in Beziehungen. Dies weniger, weil sie so grausam wären, das sind sie meist nicht, aber sie werfen einen auf das eigene Ich zurück, weil man es im Umgang mit dem anderen deutlich erkennt – und nicht immer toll findet.

«Ich frage mich, was mit unserer Geschichte passiert, wenn ich gehe. Wer wird sich darum kümmern, wenn es uns als Paar nicht mehr gibt? In meiner Vorstellung ist unsere Geschichte wie ein Kind. Wir tragen die Verantwortung für sie.»

«Das Liebespaar des Jahrhunderts» ist keine Liebesgeschichte und doch vielleicht eine der schönst-möglichen. Es ist die Geschichte einer Beziehung, wie sie entsteht, hält, sich entwickelt, sich zerstört, weiter besteht, lebt. Es ist eine Geschichte, die jedem von uns passieren könnte – und vielleicht genauso passiert. Oder anders. Sie ist nicht exemplarisch und doch tief fühlbar als etwas Bekanntes.

«Womöglich war ja auch alles viel einfacher und wir waren nur deshalb noch immer zusammen, weil wir uns noch immer liebten. Was weiss man schon, über sich, die eigenen Absichten, den anderen.»

Fazit
Ein grossartiges, tiefgründiges, zum Nachdenken, Mitfühlen, Selbst-Erinnern animierendes Buch. Eine grossartige Geschichte, die von der ersten bis zur letzten Seite ergreift und berührt.

Zur Autorin
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman ›Das Vorkommnis. Biographie einer Frau‹. Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 2. Edition (16. Februar 2023)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3423283335