Rezension: Susan Sontag – Tagebücher 1964 – 1980

Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke

Gefühl mangelnder Einheit der Persönlichkeit. Meine verschiedenen Ichs – Frau, Mutter, Lehrerin, Geliebte, etc. – wie fügen sie sich zusammen?

David Rieff , der Sohn von Susan Sontag, leitet die Tagebücher mit persönlichen Worten über seine sensible, oft melancholische, nachdenkliche Mutter ein. Er verweist auf die Widersprüche in ihrem Denken, ihre Natur als lebenslang Lernende. Liest man die Tagebücher, zeigt sich eine Frau, die kein Glück in der Liebe hat, die über die gescheiterten Beziehungen nachdenkt, sich hinterfragt, die anderen hinterfragt. Die Erfüllung ihres Lebens ist ihr das Schreiben. In ihm findet sie sich, erkennt sie sich, kann sie ihr Denken strukturieren.

[…]die Tatsache, dass sie kein Glück in der Liebe erlebte, [ist] meines Erachtens genauso sehr Teil ihrer Persönlichkeit wie die tiefe Erfüllung, die sie im Schreiben fand, un die Leidenschaft, mit der sie, wenn sie gerade nicht schrieb, ihr Leben als ewig Lernende anging, als eine Art ideale Leserin bedeutender Literatur, ideale Liebhaberin bedeutender Kunst, ideale Betrachterin beziehungsweise Hörerin bedeutender Theaterstücke, Filme, Musik.

Susan Sontag ist sehr ambivalent in ihrem Denken. Einerseits sieht sie sich anderen an Intelligenz überlegen, andererseits genügt sie oft ihren eigenen Ansprüchen nicht. In ihrem Tagebuch betreibt sie nicht nur Selbstanalyse und analysiert ihre Lieben, sie schreibt über Bücher, die sie las, Filme, die sie sah, Theater, die sie besuchte. Sie macht Listen von Wörtern, um ihren Wortschatz zu erweitern, hält Ideen für neue Texte fest, lässt Gespräche, die sie geführt hat, nochmals Revue passieren.

David Rieff nennt das vorliegende Buch einen

 Roman der tatkräftigen, erfolgreichen Erwachsenen.

Er folgt chronologisch auf den Band Wiedergeboren, in welchem sich die junge Susan Sontag

ganz bewusst damit beschäftigt, sich selbst als die Person, die sie sein wollte, zu erschaffen oder vielmehr neu zu erschaffen, eine Person fernab der Welt, in der sie geboren und aufgewachsen war.

Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke ist das Zeugnis einer intelligenten, nachdenklichen, oft von sich und dem Leben enttäuschten, es aber immer wieder hinterfragenden und anpackenden Frau. Stets erfindet sie sich neu in der Überzeugung, dass man das, was man sein will, sein kann, weil man selber das Produkt der eigenen Vorstellung ist. Eine Frau, die Kunst und Kultur liebt, die Grossen verehrt, selber bedeutend sein und neben ihren Idolen stehen will, sich aber doch oft nur als ihre Schülerin glauben kann, ihnen untergeordnet. Sie schwankt zwischen dem Gefühl eigener Grösse und der Frustration, nicht gross genug zu sein, meidet Gesellschaft und fürchtet doch die Einsamkeit. Eine Frau voller Widersprüche: spannend, einnehmend, inspirierend.

Fazit:
Ein inspirierendes, tiefes, persönliches, menschliches Buch von einer grossartigen Frau und klaren Denkerin. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Susan Sontag
Susan Sontag, 1933 in New York geboren, war Schriftstellerin, Kritikerin und Regisseurin. Sie erhielt u.a. den Jerusalem Book Prize 2001, den National Book Award und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Hanser erschienen zuletzt Das Leiden anderer betrachten (2003), Worauf es ankommt (2005), Zur gleichen Zeit (Aufsätze und Reden, 2008), Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963 (2010) und Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980 (2013). Susan Sontag starb 2004 in New York. Über ihr letztes Lebensjahr berichtet ihr Sohn David Rieff in Tod einer Untröstlichen (Hanser, 2009).

Angaben zum Buch:
SontagSchreibenTaschenbuch: 560 Seiten
Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (30. September 2013)
Übersetzung: Kathrin Razum
ISBN: 978-3446243408
Preis: EUR 27.90/ CHF 39.90
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