Birgit Birnbacher: Wovon wir leben

Inhalt

«Ich verließ die Gegend, deren Gewicht auf meiner Brust ich erst bemerkte, als ich woanders war.”

Eine junge Frau aus einem kleinen Dorf geht in die Stadt, um Krankenschwester zu werden. Sie geht in dem Beruf auf, bis ihr ein Fehler unterläuft und sie entlassen wird.

„Ich bin gekommen, damit die Eltern sich um mich kümmern. Stattdessen haut Mama ab, und Papa ist gelb.“

Ihr Weg führt sie zurück in ihr Elternhaus, sie hofft, von ihren Eltern aufgefangen zu werden, doch dort ist alles noch schlimmer als damals, als sie wegging: Die Fabrik im Dorf existiert nicht mehr, so dass Arbeitslosigkeit herrscht, der Vater ist in einem desolaten Zustand, und die Mutter nach Sizilien ausgewandert. Statt vom Vater aufgefangen zu werden, sieht sie sich in der Rolle der Sorgenden. Sie ringt körperlich und seelisch nach Luft, der Raum scheint enger zu werden. Als sie Oskar, den Städter, kennenlernt, der sich von einem Herzinfarkt erholt, erlebt sie, wie ein Leben voller Zuversicht aussehen könnte. Sich selbst sieht sie am anderen Ende des Welterlebens: Konfrontiert mit allem, was sie hinter sich gelassen zu haben glaubte, ist sie nun gefordert, ihren Platz im Leben zu finden.

Gedanken zum Buch

“Viele Jahre habe ich mir eingeredet, dass ich gern Krankenschwester bin”

Was wir für unser Leben halten, ist oft nur die Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Wir gehen einen Weg und wollen, dass es der richtige ist. Schlussendlich glauben wir es selbst, bis etwas geschieht, dass dieses Bild ins Wanken bringt. Dies ist der jungen Ich-Erzählerin passiert. Zwar merkte sie, wie überall gespart wurde, wie der Druck im Beruf grösser, die Zeit für die Patienten immer knapper wurden, doch sie fand für alles eine Lösung, um den Beruf doch noch den eigenen Ansprüchen entsprechend ausüben zu können. Dass ihr langsam sprichwörtlich die Luft ausging, merkte sie erst, als sie nach einem Berufsfehler einen Asthmaanfall hatte und wirklich um Luft rang.

„Ich habe es für selbstverständlich gehalten, dass eine Mutter nicht klatschend und tanzend durchs Leben hüpft“

Familien sind geprägt durch Rollenbilder, die sich in den Köpfen festsetzen. Ein Kind wächst in eine Familie hinein und erachtet das, was sich da abspielt, als Normalität, an die es sich zu halten gilt. Selten wird hinterfragt, wagt es dies doch, merkt es schnell, dass es eine Grenze überschritten hat, die sorgsam aufgebaut worden war. Erst nach und nach, je älter es wird, mit den eigenen Erfahrungen, wächst zuerst eine Ahnung, die dann zur Erkenntnis der Missstände wird, die geherrscht haben, die man fraglos akzeptiert hatte.

„Wir wissen das nicht, weil wir lieber zahlen, als uns zu involvieren. Etwas haben wir, die Familie, verwechselt: Von der Konfrontation mit dem Schmerz haben wir uns freigekauft, aber das heißt nicht, dass er nicht mehr existiert.“

«Wovon wir leben» ist ein Buch über das Leben einer Familie mit all ihren Strukturen. Es ist eine Geschichte davon, wie wir oft die Augen verschliessen vor dem, was ist, weil es bequemer ist, sich damit zu arrangieren als der Wahrheit, die oft unbequem ist, in die Augen zu blicken. Es ist aber auch eine Geschichte darüber, was es heisst, eigene Wege zu gehen, zu scheitern, neue Wege suchen zu müssen.

Birgit Birnbacher erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich dem stellen muss, wovor sie fliehen wollte, auf eine ruhige, fast sachliche und doch nicht kalte Weise, die frei ist von Pathos oder Kitsch. Vergeblich sucht man Wehleidigkeit oder Selbstmitleid, es wird nicht psychologisiert oder analysiert, nur erzählt. Dieses Erzählen geschieht auf eine authentische Weise aus der Ich-Perspektive der erzählenden Protagonistin, wodurch der Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt derselben involviert wird. Entstanden ist ein Buch, das zum Denken anregt, das einen mit auf eine Reise nach dem richtigen Weg nimmt, das einen eintauchen und mitleben lässt beim Lesen.

Fazit
Eine sehr gelungene, zum Nachdenken anregende Erzählung über das Leben einer Frau, die sich ihrer Vergangenheit, ihren verinnerlichten Rollenmustern und Fluchtpunkten stellen und einen neuen Weg für ihr Leben finden muss.

Zur Autorin
Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman Wir ohne Wal (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Romane Ich an meiner Seite (2020) und Wovon wir leben (2023).

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ Paul Zsolnay Verlag; 3. Edition (20. Februar 2023)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3552073357

Layla AlAmmar: Das Schweigen in mir

Inhalt

«Niemand ist wirklich sprachlos, flüsterte er, entweder wird man zum Schweigen gebracht, oder man bringt sich selbst zum Schweigen.»

Tag für Tag beobachtet die junge Frau die Nachbarn hinter ihren Fenstern in ihren Wohnungen. Es ist die einzige Form, wie Beziehungen zu Menschen für sie möglich sind. Sie kriegt Einblicke in die ganzen Gewohnheiten der einzelnen Menschen, in Leben, die so fern von ihrem eigenen sind. Selbst ist sie aus dem Krieg geflüchtet, aus Syrien mit Schleppern und zu Fuss, unter traumatischen Bedingungen in England gelandet. Es hat ihr förmlich die Sprache verschlagen.

«Wenn man aufhört zu sprechen, wird man sehr gut im Zuhören.»

Dadurch, dass sie nicht mehr sprechen kann (will?) denken viele, sie höre auch nichts. Sie hört auf diese Weise all das, was eigentlich nicht für Ohren bestimmt war. Für eine Zeitung soll sie ihre Erinnerungen an den Krieg und die Flucht festhalten, damit mehr Verständnis für die Situation von Flüchtlingen geschaffen werden kann. Nur: Wie könnte man das je verstehen? Und was, wenn sie plötzlich gefordert ist, aus ihrer gewählten Isolation raus und real in Beziehung zu treten?

Gedanken zum Buch

«Es ist gar nicht so schwer herauszufinden, was Menschen wollen. Im Prinzip wollen wir alle dasselbe: Freiheit, Glück, Sicherheit.»

Ein tiefes Buch, ein aufwühlendes Buch darüber, was es heisst, alles zu verlieren und nirgends mehr zu Hause zu sein, nirgends mehr sicher zu sein, nirgends dazuzugehören. Es ist aber auch ein Buch darüber, was es mit sich bringt, in einer Gesellschaft zu leben: Wie sehr kann ich mich aus ihr herausnehmen? Wo ist es meine Pflicht, mich einzubringen? Wofür trägt der Einzelne Verantwortung, wo lädt er Schuld auf sich?

«Kann man sich denn überhaupt erholen? Wenn das Leben nichts anderes ist als sich anhäufendes, wiederholtes Trauma – durstig, hungrig, kalt, arm, schwach, heiß, krank, geschlagen, verletzt, gebrochene Knochen, Blut, Blut, Blut –, kann man sich davon jemals erholen?»

Layla AlAmmar beschreibt aus der Ich-Perspektive das Leben, Denken und Fühlen einer vom Krieg und der Flucht traumatisierten Frau, die keinen anderen Weg sieht, als sich ins Schweigen zurückzuziehen, in die Isolation zu gehen, weil sie das Vertrauen in das Leben und die Menschen verloren hat. Wo gibt es noch Sicherheit, wenn Menschen einander so grausame Dinge antun können, wie sie sie erleben musste? Was ist Heimat noch, wenn man aus der eigenen fliehen musste, weil es da kein mögliches Weiterleben mehr gab?

«Ich will von diesem Land keine Almosen. Geflüchtete kommen nicht, um sich zu nehmen, was euch gehört. Wir wollen arbeiten, wir wollen zur Schule gehen, wir wollen vollständige und aktive Mitglieder der Gesellschaft werden. Wir sind keine Blutsauger oder Parasiten oder Ungeziefer. Wir brauchen nur ein wenig Hilfe. Das ist alles.»

«Das Schweigen in mir» ist ein Buch, das zeigt, was es heisst, Flüchtling zu sein, was es heisst, mit den Vorurteilen und Verurteilungen von den Menschen am Zufluchtsort umgehen zu müssen. Es ruft auf für mehr Verständnis, für mehr Mitgefühl, plädiert aber vor allem auch für eine andere Haltung von Menschen anderen Menschen gegenüber.

«Wichtig wäre, die Hintergründe kennen zu wollen, verstehen zu wollen, was im anderen vorgeht.»

Im Wissen, dass wir alle Menschen unter Menschen sind, in eine Welt geworfen, die wir uns nicht ausgesucht haben, mit der wir aber umgehen müssen als gleichwertige Mitglieder derselben, hilft es, die eigene Perspektive auch mal zu verlassen und sich mit Interesse anderen Standpunkten und Lebenshintergründen zu öffnen. Nur so ist in ein friedliches Miteinander möglich, ist es möglich, die Welt zu einem Zuhause für alle zu machen.

Fazit
Ein tiefes, bewegendes und zum Nachdenken anregendes Buch über das Leben als Flüchtling, das zu mehr Verständnis füreinander und Miteinander aufruft. Sehr empfehlenswert.

Zur Autorin und zur Übersetzerin
Layla AlAmmar wuchs in Kuwait auf und studierte Kreatives Schreiben an der Universität Edinburgh. Sie hat in The Evening Standard, Quail Bell Magazine, The Red Letters St. Andrews Prose Journal und im Aesthetica Magazine veröffentlicht, wo sie Finalistin für den Creative Writing Award 2014 war. Im Jahr 2018 war sie als British Council International Writer in Residence beim Small Wonder Short Story Festival tätig. Derzeit lebt sie in Großbritannien, wo sie über arabische Frauenliteratur promoviert. Das Schweigen in mir ist ihr zweiter Roman.

Yasemin Dinçer studierte Literaturübersetzung in Düsseldorf. Sie hat unter anderem Werke von Oyinkan Braithwaite, Leila Mottley, Paula McLain und Shirley Hazzard aus dem Englischen übertragen und war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin.

Angaben zum Buch:

  • Herausgeber ‏ : ‎ GOYA (16. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 224 Seiten
  • Übersetzung‏ : ‎ Yasemin Dinçer
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3833744242

Anneleen Van Offel: Hier ist alles sicher

Inhalt

«Dieser Tote ist nicht mein Sohn, das ist ein Mann, den ich nicht kenne… Es gelingt mir nicht, meinen Sohn zu sehen, in dem Toten auf dem Krankenhausbett meinen Sohn zu sehen.»

Als Immanuel seine Mutter Lydia nach 10 Jahren Funkstille bittet, nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat.

Gedanken zum Buch

«Der Tod kommt von innen, er ist immer schon da, er wächst, bis er grösser ist als das, was der Körper ertragen kann.»

«Hier ist alles sicher» ist eine Geschichte über die verschiedenen Leben, die man leben kann, es ist eine Geschichte über die Liebe, über Verlust, Schuld, Reue und den Tod. Es geht darum, was Familie ist und was Heimat bedeutet. Es ist die Geschichte einer Suche nach der eigenen Geschichte, danach, wer man ist und was davon bleibt, wenn vieles nicht mehr ist.

«Mit jedem Mal, dass ich das ausspreche, wird es endgültiger.»

Es ist die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Zuerst durch Distanz, dann durch den Tod. Diesen endgültigen Abschied zu verstehen, zu realisieren, ist schwer. Ihn in Worte zu fassen, ist noch schwerer, da die Sprache den Dingen eine endgültige Realität zu verleihen scheint. Wenn es ausgesprochen ist, kann es nicht mehr ignoriert werden, dann ist es wirklich.

«Solange es Reue gibt, bin ich schuldig, und solange ich mich schuldig fühle, bin ich unschuldig, weil ich dann nicht zulasse, dass es in Vergessenheit gerät.»

Wer trägt die Verantwortung für das eigene Leben und wer die für das Leben anderer, allen voran das Leben von Kindern? Hat das eigene Tun dazu beigetragen, dass ein Unglück geschah? Hätte man es verhindern können? Wäre Lydia imstand gewesen, den Selbstmord von Immanuel aufzuhalten, wenn sie früher nach Israel gegangen wäre? Wo ist dessen Vater, der vor 10 Jahren das Kind mit sich nach Israel nahm, raus aus Belgien und dem damals gemeinsamen Zuhause? Wer hat Schuld an dem, was passiert ist?

All diese Fragen treiben Lydia um, als sie durch Israel fährt, auf den Spuren von Immanuels Leben ohne sie. Sie will ihm nah sein, will die Landkarte seines Lebensweges nachfahren, in der Hoffnung, mehr über ihn zu erfahren. Es wird ihr nicht wirklich gelingen, die Fragen bleiben präsent, sie nimmt sie mit auf ihrem Weg.

Anneleen van Offel beginnt ihre Erzählung damit, dass Lydia am Totenbett des Sohnes sitzt. Sie blickt auf ihr Kind und reist in Gedanken zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Erinnerungen vermischen sich mit aktuellen Gefühlen, ein Riss bricht auf, der durch die Welt geht und sich über das ganze Buch erstrecken wird als Leitmotiv. Es entsteht beim Lesen eine Atmosphäre, die fast körperlich wirkt, einen Kloss im Hals und eine Schwere auslöst. Das Buch betrübt, bewegt, bestürzt, es überfordert mit dieser Unmittelbarkeit des Schmerzes.

Im zweiten Kapitel kommt es zu mehr Distanz, die Suche nach dem verpassten Leben des Sohnes beginnt und das Buch nimmt Fahrt auf. Sprachlich poetisch und philosophisch tiefgründig zieht einen diese Geschichte in den Bann, kann diesen Sog aber leider nicht durchhalten. Das Geschehen, die inneren Monologe, die Erinnerungen – sie alle werden zeitweise träge und langwierig. Trotzdem kann man von einem sehr lesenswerten und gelungenen Debüt sprechen.

Fazit
Eine Geschichte über Liebe, Schuld, Familie, Verlust und Tod – emotional bewegend, philosophisch tiefgründig und sprachlich poetisch.

Autorin und Übersetzerin
Anneleen Van Offel, 1991 in Antwerpen geboren, studierte Wortkunst am dortigen Königlichen Konservatorium. Sie hat Kolumnen für die flämische Zeitung „De Standaard“ und Kurzgeschichten und Gedichte für verschiedene Literaturzeitschriften geschrieben. Sie arbeitet als Redakteurin für die Zeitschrift „Deus Ex Machina“. Außerdem ist Anneleen Van Offel Programmgestalterin verschiedener literarischer Veranstaltungen. Von 2019 bis 2021 war sie Stadtschreiberin von Kortrijk. Für ihr Debüt „Hier ist alles sicher“ reiste sie immer wieder nach Israel, sprach mit zahlreichen Israelis, israelischen (Ex-)Soldaten und deren Familien. Der Roman wurde in Belgien und den Niederlanden von der Presse gefeiert und für seinen einfühlsamen Stil gelobt. anneleenvanoffel.be | @anneleenvanoffel

Christiane Burkhardt studierte Italienische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Kunstgeschichte und war anschließend zunächst im Lektorat tätig. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen in München und unterrichtet neben ihrer eigenen Tätigkeit literarisches Übersetzen

Angaben zum Buch

  • ·  Herausgeber ‏ : ‎ Freies Geistesleben; 1. Edition (15. März 2023)
  • ·  Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • ·  Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 266 Seiten
  • ·  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3772530319
  • ·  Originaltitel ‏ : ‎ Hier is alles veilig
  • ·  Übersetzung‏ : ‎ Christiane Burkhardt

Martin Suter: Melody

Inhalt

«Das erste Geheimnis über mich, das ich ihnen verraten muss: Ich bin kein sehr ordentlicher Mensch… Das zweite Geheimnis über mich: Ich bin kein uneitler Mensch. Ich habe mein ganzes Leben versucht, der Welt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln. Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren.»

Tom, ein junger Jurist, wird vom Altnationalrat Dr. Stotz, seine Lebenserwartung beträgt noch ein Jahr, beauftragt, seine noch vorhandenen Dokumente zu ordnen und durch gezielte Selektion nur das zu bewahren, das dem Bild entspricht, das Dr. Stotz hinterlassen möchte.

„Das dritte Geheimnis ist für sie bereits keines mehr: ich bin ein geschwätziger alter Mann.“

In der gemeinsamen Zeit erzählt Dr. Stotz Tom von seiner grossen Liebe Melody, die eines Tages, kurz vor der Hochzeit, einfach verschwunden ist, ihn aber ein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Nach Stotz’ Tod macht sich Tom mit Laura, der Grossnichte von Dr. Stotz auf der Suche nach der Wahrheit um die Geschichte mit Melody. Was ist wirklich passiert damals?

Gedanken zum Buch

„Sind Geschichten nicht immer erfunden? Spielt es eine Rolle, ob sie Wahrheit oder Fiktion sind?“

Ein sterbenskranker Mann schaut auf sein Leben zurück und auf das, was dieses Leben massgeblich geprägt hat neben seinem Erfolg: Seine Liebe zu Melody, der Frau, die er heiraten wollte und die eines Morgens einfach weg war. Er erzählt die Geschichte des Kennenlernens, die Schwierigkeiten, die sich durch ihren islamischen Hintergrund ergaben, und die seiner lebenslangen Suche nach Melody. Es ist eine traurige Geschichte, die dem alten Mann sichtlich nah geht. Ein gelebtes Leben. Ein erzähltes Leben. Was ist Wahrheit, was Fiktion? Wo hört das eine an und fängt das andere an?

„Wo die Unwahrheit es sich bequem gemacht hat, bringt Wahrheit nur Unruhe.“

Und auch eines, das die Frage hinterlässt, ob eine Unwahrheit nicht auch besser sein kann in gewissen Fällen, als die Wahrheit zu kennen.

Das Buch lebt von seinen authentischen Figuren, von der klaren, fliessenden Sprache, von der leichten Stimmung, die durch die Zeilen weht und beim Lesen ein gutes Gefühl hinterlässt. Und dies, obwohl Krankheit, Alter und Tod ein sehr zentrales Thema sind. Martin Suter gelingt es, trotz der Präsenz des angekündigten und eintretenden Todes, die Erzählung nie schwer oder bedrückend werden zu lassen.

Es gelingt Martin Suter ebenfalls, von Anfang an eine Spannung aufzubauen, die bis am Schluss nicht aufhört. Es stehen Fragen im Raum, deren Antworten man kennen will. Der Leser wird von seiner Neugier von Seite zu Seite geleitet und lässt das Buch nicht eher ruhen, bis er die Wahrheit kennt – wenn es sie denn gibt.

Fazit
Ein wunderbar leichtes, flüssig geschriebenes Buch mit stimmigen Charakteren und einem guten Mass an Spannung, die einen nicht loslässt bis zum Schluss.

Zum Autor
Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren. Seine Romane und ›Business-Class‹-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sechs Bände vor. 2022 feierte der Kinofilm von André Schäfer ›Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit‹ am Locarno Film Festival Premiere. Seit einigen Jahren betreibt der Autor die Website martin-suter.com. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Diogenes; 2. Edition (22. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 336 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3257072341

Joy Williams: Stories

Inhalt

«Das bringt uns zu der Frage: Was ist der Mensch?, mit ihren drei Untergliederungen: Was kann er wissen? Was soll er tun? Was darf er hoffen?»

Diese Worte Kants legt Joy Williams einem Automechaniker in den Mund, dessen Aufgabe es ist, einem Paar mitzuteilen, dass ihr ganzer Stolz so verrostet ist, dass eine Reparatur nicht mehr lohnt. Er ist eine Nebenfigur in den insgesamt 13 Kurzgeschichten, die alle mitten aus dem Leben gegriffen sind. Sie handeln unter anderem von einem Priester, dessen Frau im Krankenhaus liegt, von einer sterbenskranken Frau, die eine Freundin besucht, Frauen, die nur ein Umstand verbindet: Ihre Kinder haben Menschen umgebracht. Wir leben lesend ein Stück mit ihnen, tauchen in ihre Gedankenwelten ein, und gehen wieder weiter.

Obwohl die Geschichten in sich geschlossen und immer von anderen Menschen handeln, zeichnen sie in ihrer Gesamtheit ein Bild, das Bild der (amerikanischen) Gesellschaft der mehrheitlich kleinen Leute, die vom Leben herausgefordert ihren Platz suchen und sich darin einrichten.

Gedanken zum Buch

«Er hat stets richtig gehandelt, aber es hat nie zu etwas geführt.»

Es sind die alltäglichen Fragen, welche in diesen Geschichten behandelt werden: Was ist richtig, was falsch? Wie verhalte ich mich in dieser Gesellschaft, damit ich dazugehöre, wie, wenn ich weiss, dass ich eigentlich nur geduldet, nicht erwünscht bin? Es werden Ausschnitte von Lebensentwürfen dargestellt, welche doch über sich hinausweisen, da sie Teil eines Ganzen sind. Was vorher war, klingt in ihnen an, doch wohin es führen wird, bleibt offen.

«Sie war gross und ungepflegt und sah aus wie der Inbegriff eines Menschen, der seit Kurzem nicht mehr geliebt wird.»

Joy Williams gelingt es, ihre Figuren mit wenigen Worten plastisch werden zu lassen. Durch ihre Gedanken, ihre Sprache, ihr Auftreten werden sie zu Menschen, die wir uns vorstellen können. Es entstehen Bilder im Kopf, die über die Menschen hinauswachsen, zu Typen werden, die Erfahrungen in sich tragen und lebendig werden lassen – auch eigene, die beim Lesen mitgedacht werden.

«Wenn man stirbt, kann man alles tun, was man will?…Das wusste ich nicht. Ist ja mal was Neues. Es hat also auch seine guten Seiten.»

Es sind selten erbauliche Themen, sie reichen von Krankheit über Tod gar hin zu Mord, es sind Themen von Menschen, die Leid erlebt haben, die vom Leben herausgefordert sind. Trotzdem fehlt jegliche Form von Befindlichkeit, von Melancholie, von psychologischer Beurteilung. Die Geschichten werden sachlich, bildhaft und sprachlich klar erzählt, aufgelockert durch einige Prisen Humor.

«Im Grossen und Ganzen glaubten sie, dass die Toten in der Nähe blieben und alle Erfordernisse des Daseins auf Erden erfüllten, nur befreit von der Banalität täglichen Leidens.»

Aus diesen Geschichten tropft das ganz normale Leben von normalen Menschen, die mit ihrem Alltag ein Auskommen suchen und ihn doch immer ein bisschen zu verpassen scheinen. Es sind Sozialstudien ohne wissenschaftlichen Anspruch, es sind kleine Spiegel der Gesellschaft ohne moralinsauren Zeigefinger, es sind Finger in Wunden und Blicke in Abgründe ohne belastende Schwere. Es sind kleine Auszeiten aus dem eigenen Alltag mit den eigenen Ansprüchen, die zeigen, was es noch gäbe an Lebensmodellen und wie man damit umgehen könnte – oder vielleicht auch besser nicht.

Fazit
Unterhaltsame, dennoch tiefgründige – manchmal auch abgrundtiefe – Einblicke in die Gesellschaft des amerikanischen Kleinbürgertums.

Zur Autorin und Übersetzerin
Joy Williams, geboren 1944, wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet. Sie hat zwölf Bücher geschrieben, darunter Romane, Kurzgeschichten, Essays, einen Reiseführer. Sie zählt seit langem zu den nachdrücklichen ökologischen Stimmen in den USA und lebt in Tucson, Arizona und Laramie, Wyoming.

Brigitte Jakobeit lebt in Hamburg. Sie übersetzt u. a. William Trevor und Patti Smith und wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Melanie Walz gilt als eine der herausragenden Literaturübersetzerinnen. Sie wurde mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium und mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

(Joy Williams: Stories, dtv Verlagsgesellschaft, 2. Auflage, 2023)

Claire Keegan: Das dritte Licht

Inhalt

«Jetzt, wo mein Vater mich abgeliefert und sich satt gegessen hat, ist er ganz wild auf seinen Tabak, sich eine Kippe anzuzünden und wegzukommen.»

Weil die Mutter wieder schwanger, das Geld und die Zeit knapp sind, liefert ein Vater seine kleine Tochter bei Verwandten ab, wo sie für eine Zeit bleiben soll. Plötzlich sieht sich das Kind mit Menschen konfrontiert, die sich um es kümmern, die Liebe zu geben haben.

«Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet… aber jeder Tag ist fast wie der vorhergehende.»

Sie kann sich kaum auf all das Schöne einlassen, verbietet anfänglich sogar, es zu geniessen und geht dann doch im neuen Leben auf, das nicht von Kälte, Schmutz und Angst geprägt ist – höchstens der Angst, wieder zurückzumüssen.

Gedanken zum Buch
Claire Keegan hat eine kleine, feine, zärtliche Geschichte voller Wärme geschrieben. «Das dritte Licht» erzählt von einem Mädchen, das lernt, was Familie, was Liebe bedeuten, wie leicht das Leben sein kann. Dies geschieht in einer klaren, präzisen Sprache voller Poesie, in der jedes Wort am richtigen Platz sitzt, keines zu viel scheint, die dadurch eine Intensität entwickelt und den Leser in die beschriebene Welt und in eigene Gefühlswelten eintauchen lässt.

«Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein neuer Ort, und ich brauche neue Wörter.»

Man könnte dem Buch den Vorwurf machen, dass die dem Mädchen zugeschriebenen Gedanken zu erwachsen sind für ein kleines Kind, dass die Art und Weise zu denken nicht zu dem ansonsten doch sehr kindlichen Wesen passen. Keegan nutzt dieses Mittel aber wohl bewusst, um ohne viele Erklärungen und Beschreibungen die (wohl eher unbewusste) Innenwelt des Mädchens zugänglich zu machen. Es sind zudem Gedanken, die zum eigenen Reflektieren anregen, Sätze, die man nach der Lektüre des Buches mitnimmt.

«Ich stecke in einer Zwickmühle, wo ich weder die sein kann, die ich immer bin, noch zu der werden kann, die ich sein könnte.»

Frei nach Nietzsches «Werde, der du bist» steckt hier die Frage nach dem eigenen Sein drin. Das bisherige Umfeld hat das Mädchen geprägt, hat sie zu etwas gemacht, das sie ist, weil sie sich an diese Umwelt angepasst hat, eine Umgebung, die ihr viele Möglichkeiten verwehrt hat. Im neuen Umfeld bieten sich neue Möglichkeiten des Seins. Die Frage, die sich stellt, ist nur: Kann sich das Mädchen darauf einlassen? Wäre dieses Einlassen nicht ein Verrat an den eigenen Eltern? Und: Was, wenn sie wieder zurückmuss? Wie wirkt die alte, beengte, freud- und lieblose Umgebung auf sie, nachdem sie gelernt hat, was Liebe und Familie bedeuten können?

Fazit
Die Geschichte eines Mädchens, das lernt, was Familie und Zugehörigkeit bedeuten, ein Buch voller Wärme und Poesie.

Zur Autorin und zum Übersetzer
Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2022) erschienen. Ihre Erzählung Kleine Dinge wie diese (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, 1950 in Wiesbaden geboren, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. John McGahern, Mark Twain, Ian McEwan, F. Scott Fitzgerald, Anne Enright, Maeve Brennan und Sebastian Barry übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. 2020 erhielt er den Straelener Übersetzerpreis der Kulturstiftung NRW.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Steidl Verlag (18. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 104 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3969991992

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Inhalt

„Das Unglück hat sich in die Hinterköpfe gegraben und dreht dort Endlosschleifen. Es löst die Strukturen zweier Familien auf, versetzt deren Alltag in chronische Ausnahmezustände, kontrolliert die Nächte, dirigiert die Träume, und jedes Erwachen führt zum Ausgangspunkt zurück…“

Zwei begüterte Ehepaare, die Binders und die Strobl-Marineks, machen mit ihren Kindern Urlaub in einem Haus in der Toskana. Mit dabei ist ein somalisches Flüchtlingsmädchen, die Freundin von Sophie-Luise, der älteren Tochter der Strobl-Marineks. Schon am ersten Tag kommt es zu einem Unfall: Das Flüchtlingsmädchen ertrinkt, polizeiliche Ermittlungen folgen. Wen trifft eine Schuld? Welche Folgen hat das für die Betroffenen?

Gedanken zum Buch

„Man kann ein Unglück totschweigen, wie es die Binders versuchen. Man kann es aber auch zu Tode diskutieren.“

Jeder Mensch hat eine andere Form, mit schwierigen Situationen umzugehen. Treffen verschiedene Arten aufeinander, kann das zu Missverständnissen führen, die umso schwerer wiegen, wenn jeder seine Art als die angemessene empfindet. Während Oskar Strobl-Marinek versucht, alles hinter sich zu lassen und Optimismus zu verbreiten, sieht seine Frau Elisa ihre Karriere als Politikerin in Gefahr. Die Binders sind schnell aus der Schusslinie, doch das Gewissen lässt sie nicht los.  

„Beim Wendepunkt kann es danach in alle Richtungen weitergehen. Beim Tiefpunkt nur nach oben. Es sei denn, der wahre Tiefpunkt ist noch gar nicht erreicht.»

Das Leben der Beteiligten hat sich nach dem Unglück verändert. Einerseits müssen alle psychisch damit fertig werden, sie sehen sich auch mit dem steigenden Druck von aussen konfrontiert, der sich einerseits darin zeigt, dass die Medien den Fall ausschlachten, andererseits in Form von Schulmobbing bei Sophie-Luise auftritt. Dabei ist jeder allein mit seiner Bewältigung, da keiner neben dem eigenen Unglück das der anderen im Blick hat.

Bei all der Präsenz der Personen vor Ort, bleibt eine Stimme still: Die der Eltern des verstorbenen Mädchens. Erst als ein eher unscheinbarer Anwalt auf den Platz tritt, ändert sich das. Doch: Worum geht es ihnen wirklich?

„Die Wahrheit ist ein Chamäleon, sie wechselt ihre Farbe mit dem Blickwinkel des Betrachters.“

Wer ist Täter, wer ist Opfer? Gibt es diese überhaupt in diesem Fall? Wo liegt die Wahrheit und wie soll damit umgegangen werden? Hannah Arendt sagte einst, Wahrheit gäbe es nur zu zweien. Das heisst, dass Wahrheit nicht eindeutig ist, dass es, um sie zu finden, verschiedene Betrachtungsweisen braucht, um eine Situation von allen Seiten zu sehen. Einer allein sieht immer nur einen Teilaspekt, das, was von seiner Warte aus sichtbar ist. Erst die verschiedenen Perspektiven zeigen das ganze Bild. Dazu müssen alle Stimmen gehört werden.

Daniel Glattauer hat eine Sozialstudie in Romanform geschrieben, in welcher sowohl die Macht der Medien, die Kommentare der Leser derselben sowie die psychologischen Folgen für die Betroffenen des Unfalls thematisiert werden. Er hat dabei auch oft in die Klischee-Kiste gegriffen, indem die einzelnen Charaktere sehr offensiv Stereotypen abdecken. Der Erzähler, der sich mitunter an den Leser wendet, wirkt stellenweise zu jovial, und die Auflistungen der einzelnen Kommentare aus den Medien sind so realistisch, dass man sich die Frage stellen könnte, welchen Mehrwert man durch den Roman hat, weil dieser unkommentiert wiedergibt, was in heutigen Zeitungen passiert. Dass verschiedene Vorkommnisse vorhersehbar sind, nimmt dem Buch trotzdem nicht die Spannung, die für das Weiterlesen nötig ist.

Fazit
Eine Zeitstudie, ein Abbild der heutigen Gesellschaft, ein sozialkritischer Roman, der teilweise zu sehr mit Klischees arbeitet, aber dabei spannend aufgebaut und unterhaltsam zu lesen ist.

Zum Autor
Daniel Glattauer wurde 1960 in Wien geboren und ist seit 1985 als Journalist und Autor tätig. Bekannt wurde er zunächst durch seine Kolumnen, die im so genannten „Einserkastl“ auf dem Titelblatt des Standard erscheinen und in Auszügen in seinen Büchern „Die Ameisenzählung“, „Die Vögel brüllen“ und „Mama, jetzt nicht“ zusammengefasst sind. Seine beiden Romane „Der Weihnachtshund“ und „Darum“ wurden mit großem Erfolg verfilmt. Der Durchbruch zum Bestsellerautor gelang Glattauer mit dem Roman „Gut gegen Nordwind“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert, in zahlreiche Sprachen übersetzt und auch als Hörspiel, Theaterstück und Hörbuch adaptiert wurde.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Paul Zsolnay Verlag; 1. Edition (20. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 304 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3552073333

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

Inhalt

«…das ist, was ich schreibe: Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.»

Judith Hermann schreibt in den vorliegenden Frankfurter Poetikvorlesungen über ihr Schreiben. Und sie schreibt vom Verschweigen im Schreiben. Sie schreibt davon, wie sie eine Geschichte beginnt und weiterspinnt. Sie schreibt von ihrem Leben und ihren Erinnerungen und wie diese mit dem Schreiben zusammenhängen. Sie schreibt sich in diesem Buch ihrem Leben entlang und nimmt den Leser mit in eine Geschichte des Lebens und Schreibens, die anmutet, als entdecke sie Judith Hermann beim Schreiben erst selbst.

Entstanden ist ein Buch, das Einblicke in Judith Hermanns Kindheit und Aufwachsen gibt, das Freundschaften und Familie thematisiert, und mehr noch als Geschichten Gefühle transportiert – und auslöst.

Gedanken zum Buch

«Jede Geschichte hat ihren ersten Satz. Nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt.»

Der Blick hinter die Kulissen von Schreibenden ist immer wieder spannend. Während die einen ihre Geschichten feinsäuberlich planen und sich dann an feste Tagesabläufe halten, lassen sich andere inspirieren und schreiben sich dann in die Geschichte hinein, wie sie sich ihnen zeigt.

«Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heisst auslöschen.»

Dabei bleibt es nicht aus, dass vieles im Kopf auftaucht, wovon nur ein Bruchteil schliesslich Eingang in die Geschichte findet. Oft weiss der Schreibende mehr über seine Figuren, als er dem Leser explizit zeigt, er kennt Hintergründe und Eigenheiten, die für das Schreiben wichtig sind, die der Geschichte aber nicht dienen.

«Keine Geschichte ist die, die ich erzählen wollte oder müsste. Aber ich kann davon erzählen, dass ich das Eigentliche nicht erzählen kann, das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte…»

Melancholie tropft aus den Zeilen und sitzt in den Zwischenräumen des Geschriebenen. All das, was Verschwiegen wird, findet sich in Andeutungen des Schweigens, nicht aber in seiner wahren Präsenz. Es ist ein Schreiben über Erinnerungen, von denen nicht sicher ist, dass sie wirklich sind oder nur gedacht. Es ist ein Schreiben über das Schreiben, welches das Nicht-Geschriebene in und mit sich trägt. Es ist ein Schreiben dem Leben entlang, von dem nie ganz klar ist, ob es Traum oder Wirklichkeit ist. Entstanden ist ein Buch, das alles offenlässt und dessen Ende man als Leser selbst finden muss. Auch den Sinn von allem muss man selbst ergründen, er zeigt sich nicht offensichtlich.

Fazit
Ein poetisches, ein rätselhaftes, ein melancholisches Buch über das Schreiben und das Leben. Ein Buch, das einen nachdenklich zurücklässt und dessen Sinn sich vielleicht erst später auftut.

Zur Autorin
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Im Frühjahr 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Preis der LiteraTour Nord 2022Bremer Literaturpreis 2022Rheingau Literatur Preis 2021Blixenprisen 2018 für »Lettipark«Erich-Fried-Preis 2014Friedrich-Hölderlin-Preis 2009Kleist-Preis 2001Hugo-Ball-Förderpreis 1999Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ S. FISCHER; 3. Edition (15. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3103975109

Bettina Balàka (Hg.): Wechselhafte Jahre. Schriftstellerinnen übers Älterwerden

Inhalt

«Nichts ist schwieriger abzustreifen als eine von aussen übergestülpte Identität.» Alida Bremer

Und plötzlich ist man in dem Alter, das man früher als steinalt betrachtete. Und irgendwie hatte man es weder kommen sehen noch mitbekommen. Nun passen plötzlich Begriffe wie Wechseljahre, Klimakterium und Mittelalter auf einen, man hört von Veränderungen und fragt sich, wann sie kommen, wie sie sich auswirken und wie man damit umgehen wird.

«Manchmal fühlt man sich wie dreissig und dann geht man plötzlich an einem Spiegel vorbei und sieht jemanden, der um einiges älter ist. Es dauert einen Moment, bis man das innere Bild mit dem äusseren in Einklang bringt, bis man sich selbst erkennt.» Bettina Balàka

Dieses Buch versammelt humorvolle, realistische, poetische und sachliche Texte von Schriftstellerinnen über ihr eigenes Älterwerden und ihren Umgang damit. Es berichtet von Gutem und Schwierigerem, von Chancen und Herausforderungen.

Gedanken zum Buch

«Es ist von Bedeutung, dass ich nicht bemerkte, wie es begann. Einen Anfang jedoch muss es gegeben haben, den einen Tag, an dem ich morgens vor dem Spiegel beschloss, den Rock nicht anzuziehen…» Ruth Cerha

Im Leben passiert nichts von heute auf morgen, es ist ein schleichender Prozess, der einem selbst, weil man immer dabei ist bei den für sich gesehen unmerklichen Veränderungen. Man passt sich an die kleinen Zipperlein an, gewöhnt sich an die Schmerzen, nimmt die kleinen Veränderungen zwar wahr, denkt sich aber nichts dabei. Bis man damit konfrontiert wird, dass etwas passiert ist, das förmlich an einem vorbei gegangen ist und einen doch betrifft.

«Ich gehe verloren, etwas in mir geht verloren. Ich brauche nicht danach zu suchen, denn nicht, was war, muss wiederhergestellt werden. Ich brauche etwas anderes: mich selbst in meiner neuen Form. Als Frau, die weiss, wer sie in diesem Alter ist, welche Bedürfnisse sie hat, und die sich trotz Einschüchterungen nicht davon abhalten lässt, diese Bedürfnisse auszudrücken.» Ulrike Draesner

Nun ist man noch die gleiche, aber doch nicht mehr dieselbe. Man steht vor einem neuen Lebensabschnitt, der einerseits gefühlt ist, andererseits auch von aussen gezeigt wird. Die Aufmerksamkeit schwindet mehr und mehr, die Menschen rundherum scheinen jünger zu werden, man selbst bemerkt neue Bedürfnisse und Ansprüche, treibt sich mich anderen Themen – auch Lebensthemen – um. Oft passieren auch Brüche, die es zu bewältigen gilt: Kinder ziehen aus, Männer kommen abhanden, alte Lebensträume kommen plötzlich auf. Mit all dem will umgegangen werden.

«Altsein ist abhängig vom Geschlecht und von der historischen Epoche.» Bettina Balàka

Alter ist dabei viel mehr als nur eine Zahl, es ist bestimmt von gesellschaftlichen Konventionen darüber, was wann sein sollte. So oder so durchläuft man im Leben verschiedene Stufen und wird dementsprechend von aussen gesehen. Und genau davon handelt dieses Buch: Von den jeweiligen Altersstufen und dem Umgang mit dem Älterwerden. Die einzelnen Texte sind sehr unterschiedlich, so dass wohl nie jeder alle anspricht, aber sicher für viele etwas dabei ist. Entstanden sind so verschiedene Innensichten, die wohl keine neue Erkenntnis liefern, aber das Gefühl, mit all dem nicht allein zu sein, sondern in guter Gesellschaft.

Fazit
Ein kurzweiliges, unterhaltsames und sehr menschliches Buch über das Älterwerden als Frau in der heutigen Gesellschaft.

Herausgeberin und Autorinnen
Bettina Balàka, 1966 in Salzburg geboren, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, Theaterstücke und Hörspiele. Vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Georg-Trakl-Förderungspreis für Lyrik 2018 und dem Theodor-Körner-Preis 2004. Zuletzt erschien ihr erstes Jugendbuch »Dicke Biber« Leykam 2021), das mit dem Kinderbuchpreis für junge Leser*innen ausgezeichnet wurde. www.balaka.at

Die Texte stammen von:
Marlene Streeruwitz, Barbara Honigmann, Katja Oskamp, Barbara Frischmuth, Katrin Seddig, Linda Stift, Barbara Hundegger, Sabine Scholl, Marianne Gruber, Zdenka Becker, Alida Bremer, Ruth Cerha, Renate Welsh, Ulrike Draesner und Bettina Balàka.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Leykam; New Edition (27. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3701182633

Tillie Olsen: Was fehlt

Inhalt

«Wen hören und lesen wir, wen nicht? Und warum nicht?»

Wie entstehen Kunstwerke, was steht diesem Entstehen im Weg? Wieso hört man viele Stimmen nicht, obwohl sie so wichtig wären? Wieso schweigen viele, die etwas zu sagen hätten, während andere sich ungehindert Gehör verschaffen können? Und: Wieso sind es oft Frauenstimmen, die nicht sprechen können, die nicht gehört oder gar verhindert werden?

Diesen Fragen geht Tillie Olsen in den in diesem Buch gesammelten Vorträgen und Essays nach und greift damit eine Diskussion auf, die auch heute noch aktuell ist (man denke nur an Nicole Seiferts «Frauenliteratur»).

«Was braucht das Schöpferische, um sich verwirklichen zu können? Ohne die Absicht oder den Anspruch, literaturwissenschaftlich vorzugehen, verspürte ich im Laufe der Jahre das Bedürfnis, alles darüber zu lernen, was ich in Erfahrung bringen konnte, blieb ich doch selber fast stumm und musste die Schriftstellerin in mir wieder und wieder sterben lassen.»

Gedanken zum Buch

«Warum werde so viel mehr Frauen zum Verstummen gebracht als Männer? Warum sind die wenigen Werke von Frauen, die es immerhin gibt…, so wenig bekannt, werden sie so spärlich im Unterricht behandelt oder Ausgezeichnet?»

Tillie Olsen (1912 – 2007) ist selbst eine der (fast) verstummten Stimmen. Neben der Betreuung ihrer Kinder sowie der Arbeit für den Lebensunterhalt blieb kaum Zeit für die eigene Kreativität. Vermutlich ist es diesem Umstand geschuldet, dass sie über viele Jahre Gründe sammelte für das literarische Schweigen. Auch Zeugnisse von Schreibenden, die mit dem Schreiben und mit Blockaden und Hindernissen kämpften, fanden Eingang in ihre Vorträge und Reden, es sind Zitate aus Tagebüchern und Briefen von Franz Kafka und Virginia Woolf, Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke, von Dorothy Parker und Carson McCullers, und vielen mehr.

«Man wächst auf mit dieser […] seltsamen Vorstellung von weiblicher Verfügbarkeit in jeder geistigen Beziehung und dass man jedem, der es einfordert, zu Diensten sein muss.»

Gerade Frauen fiel es mehrheitlich schwer, für ihr Schreiben einzustehen. Dies hing auch mit den Rollenbildern früherer Zeit zusammen, in welcher Schreiben und Kunst für Frauen nicht vorgesehen war, sie ihre ihnen zugeschriebenen Aufgaben in der Gesellschaft hatten und den Rest den Männern überlassen sollten.

«Wie viel nötig ist, um zu schreiben. Neigung (viel verbreiteter als angenommen), die rechten Umstände, Zeit, die Entwicklung des eigenen Handwerks – aber darüber hinaus: wie viel Überzeugung von der Wichtigkeit des eigenen Worts, des eigenen Rechts, es auszusprechen. Und der Wille, der unerschöpfliche Vorrat an Glauben an sich selbst, um die eigenen Lebenserkenntnisse zu finden, ihnen treu zu bleiben, sie in die richtige Form zu giessen.»

Olsen thematisiert aber nicht nur, wer alles schwieg und aus welchen Gründen, sondern sie beleuchtet auch die Bedürfnisse eines schreibenden Menschen: Was braucht es, damit ein schreibender Mensch seiner Berufung zu schreiben folgen kann? Welche äusseren und inneren Bedingungen müssen erfüllt sein?

«Letzten Endes ist Kreativität eine Abbildung der Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und der Umwelt, in der es lebt.»

Wichtig zu sehen ist, dass das Verstummen vieler Stimmen nicht nur ein individuelles Problem ist, sondern ein systemimmanentes. So lange die Rollen zwischen den Geschlechtern aufgeteilt sind, wie das auch heute noch oft der Fall ist, haben Frauen es schwerer, sich die nötigen Bedingungen für ihr eigenes Schreiben zu schaffen. Dazu kommt, dass der Literaturbetrieb auch heute noch zu einem grossen Teil männlich dominiert ist, so dass Bücher von Männern mehr berücksichtigt, mehr beworben und mehr besprochen werden, und auch die Schullektüren vorwiegend männlich ausfällt. (Ein Blick in die Schweizer Pflichtlektüre für die Matur hat das leider aktuell bestätigt: Siehe hier, hier und hier). Den Bezug zur heutigen Situation stellt auch das persönliche, kompetente und aufschlussreiche Vorwort von Julia Wolf her, welches den Boden für das Buch quasi vorbereitet, in welchen die Samen der Gedanken des Buches nachher fallen sollen, um von da zu wachsen.

Dem Aufbau Verlag ist ein grosses Lob auszusprechen, dass er diese Autorin auf den deutschen Markt gebracht hat, einerseits mit dem vorliegenden Buch, andererseits mit dem Erzählband «Ich stehe hier und bügle».

Fazit
Ein wichtiges Buch über die Situation schreibender Menschen, was sie zum Schreiben brauchen und wie so viele von ihnen verstummen und nie gehört werden.

Zur Autorin und den Mitwirkenden
Tillie Olsen, 1912 als Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland in Nebraska geboren, musste als junge vierfache Mutter ihre fortschrittlichen politischen Ansichten mit künstlerischem Ehrgeiz und Brotarbeit unter einen Hut bringen. Gleich ihre erste Story, »Ich steh hier und bügle«, erschien in den »Best American Short Stories of 1957«, kurz darauf wurde sie mit dem begehrten O.-Henry-Preis ausgezeichnet. Obwohl sie die Highschool ohne Abschluss verlassen hatte, erhielt sie für ihr Werk diverse Stipendien, Ehrentitel und Gastprofessuren der großen amerikanischen Universitäten, darunter Stanford, Harvard und Amherst College. Ihr berühmter Essay »Was fehlt« entstand aus einem Vortrag, den sie 1962 am Radcliffe Institute der Harvard University gehalten hatte. Sie starb 2007 in Oakland, Kalifornien, und gilt heute als Vorreiterin der emanzipatorischen Literatur.

Nina Frey studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel, bevor sie sich als Übersetzerin selbstständig machte. Sie lebt in Wien.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. »Heinrich Maria Ledig-Rowohlt«-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Nele Holdack, leitende Lektorin moderne Klassik und Klassik, gab unter anderem Werke von Hans Fallada und Victor Klemperer, Lion Feuchtwanger und Mark Twain, Tillie Olsen und Brigitte Reimann heraus.

Julia Wolf ist Autorin und Übersetzerin. Zuletzt erschien ihr Roman »Alte Mädchen«. Sie ist Mitbegründerin des Kollektivs »Writing with Care/Rage« und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.
Tillie Olsen, 1912 als Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland in Nebraska geboren, musste als junge vierfache Mutter ihre fortschrittlichen politischen Ansichten mit künstlerischem Ehrgeiz und Brotarbeit unter einen Hut bringen. Gleich ihre erste Story, »Ich steh hier und bügle«, erschien in den »Best American Short Stories of 1957«, kurz darauf wurde sie mit dem begehrten O.-Henry-Preis ausgezeichnet. Obwohl sie die Highschool ohne Abschluss verlassen hatte, erhielt sie für ihr Werk diverse Stipendien, Ehrentitel und Gastprofessuren der großen amerikanischen Universitäten, darunter Stanford, Harvard und Amherst College. Ihr berühmter Essay »Was fehlt« entstand aus einem Vortrag, den sie 1962 am Radcliffe Institute der Harvard University gehalten hatte. Sie starb 2007 in Oakland, Kalifornien, und gilt heute als Vorreiterin der emanzipatorischen Literatur.

Nina Frey studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel, bevor sie sich als Übersetzerin selbstständig machte. Sie lebt in Wien.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. »Heinrich Maria Ledig-Rowohlt«-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Nele Holdack, leitende Lektorin moderne Klassik und Klassik, gab unter anderem Werke von Hans Fallada und Victor Klemperer, Lion Feuchtwanger und Mark Twain, Tillie Olsen und Brigitte Reimann heraus.

Julia Wolf ist Autorin und Übersetzerin. Zuletzt erschien ihr Roman »Alte Mädchen«. Sie ist Mitbegründerin des Kollektivs »Writing with Care/Rage« und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Aufbau; 1. Edition (11. Oktober 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 352 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3351039832
  • Übersetzung : Nina Frey und Hans-Christian Oeser
  • Originaltitel ‏ : ‎ Silences

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie

Inhalt

«Elisabeth Zott war ebenfalls nachtragend. Doch sie war das hauptsächlich in Bezug auf eine patriarchalische Gesellschaft, die auf der Idee fusste, Frauen seien weniger. Weniger fähig. Weniger intelligent. Weniger schöpferisch.»

Elisabeth Zott lebt in einer Zeit, in der Frauen hinter dem Herd stehen und die Männer das Leben aktiv gestalten. Sie will sich dem nicht fügen, sie will als Chemikerin ihren eigenen Weg gehen, beweisen, dass sie genauso viel kann wie ein Mann – und teilweise kann sie sogar mehr. Auch wenn sie mit schwierigen Startbedingungen in dieses Leben ging und dieses ihr immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft, gibt sie nicht auf. Dass sie als alleinerziehende Frau schlussendlich beim Fernsehen in einer Kochsendung landet, war so nicht vorgesehen, doch auch das hindert sie nicht daran, an ihre eigenen Ziele zu glauben. Im Gegenteil, sie nutzt das als Chance, auch anderen Frauen Mut zu machen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.

«Aber sie hatte nun mal Ziele, und verdammt, wieso sollte sie den anderen bloss zuschauen? Zuschauen brachte niemanden weiter.»

Gedanken zum Buch

«Wenn Selbstzweifel Sie beschleichen… wenn die Angst sie packt, denken Sie immer daran, dass Mut der Grundstein für Veränderung ist. Und wir sind chemisch dazu angelegt, uns zu verändern. Fassen Sie also morgen beim Aufwachen folgenden Vorsatz: Keine falsche Zurückhaltung mehr. Kein Unterordnen mehr unter die Meinungen anderer, die Ihnen sagen wollen, was sie leisten können und was nicht. Und nie wieder zulassen, dass andere Sie in Schubladen stecken, in sinnlose Kategorien wie Geschlecht, Rasse, wirtschaftlicher Status und Religion. Lassen Sie ihre Talente nicht schlummern, Ladys. Gestalten Sie Ihre eigene Zukunft.»

Die Geschichte spielt in den 60er Jahren, in einer Zeit, in der Männer das Sagen haben, Frauen aber langsam aufwachen. Es wird eine Gesellschaft dargestellt, die in ihren Strukturen patriarchalisch ist, in der es nicht vorgesehen ist, dass Frauen sich in der Wissenschaft oder sonst öffentlich durchsetzen. Auf eine feinfühlige, witzige, teilweise ein wenig dozierende Weise legt die Geschichte den Finger in die Wunden, zeigt die Missstände auf, die auch heute noch teilweise spürbar sind, und ruft dazu auf, sich für eine Veränderung einzusetzen. Entstanden ist ein Buch, das als Aufforderung gelesen werden kann, sich als Frau nicht unterwerfen zu lassen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, die eigenen. Ziele zu verfolgen, sich nicht selbst unterzuordnen. «Eine Frage der Chemie» ist ein Lebensratgeber in Romanform, eine Geschichte, die wichtige Themen des Seins als Mensch, als Frau, als Gesellschaft aufgreift und auf eine zutiefst menschliche, berührende, warmherzige Art behandelt.

«Menschen werden sich immer nach einer einfachen Lösung für ihre komplizierten Probleme sehnen. Es ist sehr viel leichter, an etwas zu glauben, das du nicht sehen, nicht berühren, nicht erklären und nicht verändern kannst, als an etwas zu glauben, bei dem das alles möglich ist… An sich selbst, meine ich.»

Mit Elisabeth Zott ist Bonnie Garmus eine Protagonistin gelungen, die kämpferisch, ehrlich, mutig und authentisch ist. Eine Frau, die ihr Leben in die Hand nimmt, die Probleme, die sich stellen angeht. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht die Dinge an, nennt sie beim Namen. Und doch hat auch sie Bereiche, die sich in Schweigen hüllen, die sie in sich verschliesst, weil sie zu nah gehen, weil sie zu schmerzhaft sind, und auch weil sie weiss, dass die Zeit dafür noch nicht reif ist. Elisabeth Zott ist eine Frau, die man ins Herz schliesst, der man sich verbunden fühlt, mit der man leidet, hofft und fühlt. Nie lässt sie einen einfach kalt, sie berührt auf eine unprätentiöse Art durch ihr ehrliches, pragmatisches, souveränes Auftreten. Dass ihr ein zweiter Protagonist an die Seite gestellt wird, ein zotteliger grosser Hund, der als gute Seele alles zusammenhält, aufpasst, dass nichts passiert, der mit feinem Gespür für Menschen weiss, wie es ihnen geht, wonach sie sich sehnen, und was sie von ihm brauchen, macht das Buch noch menschlicher.

«Die beste Methode, das Schlechte im Leben zu bewältigen, ist oft, es umzukehren, es als Stärke zu benutzen, nicht zuzulassen, dass das Schlechte dich bestimmt.»

«Eine Frage der Chemie» ist ein Buch, das Mut macht. Es ist ein Buch, das dazu aufruft, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und auch bei schwierigen Situationen nicht aufzugeben. Es ist ein Buch darüber, Missstände zu bekämpfen und sich ihnen nicht einfach zu ergeben. Es ist vor allem aber ein Buch, das berührt, das den Leser in den Bann zieht, das Resonanz erzeugt, indem es zum Lächeln und zum Weinen bringt.

Es gibt teilweise Längen im Buch, die den Erzählfluss zugunsten von halbtheoretischen Abhandlungen und zu langwierigen Situationsbeschreibungen unterbrechen. Es hätte der Geschichte gutgetan, diese zu kürzen. Trotzdem lohnt es sich, durchzuhalten, denn danach nimmt das Buch wieder Fahrt auf.

Fazit
Ein herzergreifendes Buch über eine Frau, die ihren Weg geht in einer Zeit, die das so nicht vorgesehen hat – berührend, unterhaltsam, klug.

Zur Autorin
Bonnie Garmus war als Kreativdirektorin international vor allem in den Bereichen Medizin, Erziehung und Technologie tätig. Privat bevorzugt sie das Schwimmen im offenen Meer, wobei sie sich darauf konzentrieren muss, nicht darüber nachzudenken, was alles sonst noch unter ihr schwimmt. Gebürtig aus Kalifornien lebte sie lange in Seattle, wo sie sich ausgiebig dem Wettkampfrudern widmete. Sie ist außerdem Mutter zweier erwachsener Töchter und lebt aktuell mit ihrem Mann in London. Dies ist ihr erster Roman.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 15. Edition (31. März 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 464 Seiten
  • Originaltitel ‏ : ‎ Lessons in Chemistry
  • Übersetzung ‏ : ‎ Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492071093

Thorsten Pilz: Weite Sicht

Zum Inhalt

«Charlottes Gedanken drehten sich weiter. Friedrichs Tod, sein Testament, sein Doppelleben…, ihre Freundschaft mit Sabine, die gemeinsame Zeit in ihrem Haus in Hamburg. All das wollte sich in dieser Nacht nicht zusammenführen lassen.»

Als Friedrich stirbt, kommen sie ans Licht – all die kleinen Lebenslügen. Charlotte, Friedrichs Witwe, blickt auf ihr Leben bislang, auf die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden, und merkt, dass es nun, mit über 70, an der Zeit ist, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, um das Leben zu leben, das sie zu leben nicht gewagt hatte. Sie ist damit nicht allein.

Gedanken zum Buch
Sartre sagte, wir würden in die Welt geworfen und es sei an uns, uns darin einzurichten als die, die wir sind. Das nannte er unsere Freiheit, zu welcher wir verdammt seien. Es scheint, dass wir dieser Verdammnis oft leicht entkommen, indem wir uns gesellschaftlichen und familiären Zwängen und Geboten unterwerfen. Wir nehmen ein Lebensmodell auf, von dem wir denken, es würde von uns erwartet – und oft ist dem auch so. Wir fügen uns in eine Lebenssituation ein, weil dies allein unsere Zugehörigkeit in der Gemeinschaft, zu der wir gehören wollen, sichert. Nicht selten befinden wir uns dann bei näherem Betrachten in einem Leben, das uns nicht entspricht. Dies widerfährt den Figuren in Thorsten Pilz’ Roman «Weite Sicht». Alle hatten sich vordergründig eingerichtet in ihren bürgerlichen Existenzen, hatten dafür (was oft verdrängt wurde) Träume und Lieben aufgegeben. Als Friedrich stirbt, kommt alles ans Licht.

Wieso dann, könnte man fragen? Vielleicht weil er mit einer offenen Aussprache (in Form eines durch den Nachlassverwalter vorgelesenen Briefs) den Stein ins Rollen brachte. Was sich vorher schon in kleinen Brüchen in der Fassade zeigte, brach nun durch. Jeder für sich war gefordert, hinzuschauen. Die Frage, wessen Leben man gelebt hatte und welchen Preis man dafür zahlte, lag nun offen da. Und sie suchte nach Antworten, die jeder für sich finden musste.

«No regrets in life! Just lessons learned.”

Thorsten Pilz hat ein wunderbares Buch über die menschliche Fähigkeit zur Anpassung geschrieben. Er thematisiert, wie über Jahre Lebenslügen aufrecht erhalten werden, um den Schein zu wahren. Er legt die Folgen für den jeweils Einzelnen offen, und er macht deutlich, wie daraus ein Beziehungsgefüge von eigentlich beziehungslosen Menschen entsteht. Dies alles gelingt Pilz ohne moralischen Zeigefinger oder psychologisierende Sozialkritik, sondern durch eine stille, sachliche, trotzdem menschliche und wohlwollende Erzählweise. Wir Leser begleiten Charlotte durch die Tage nach Friedrichs Tod, sehen Lügengebilde platzen, Trauer aufsteigen und neue Lebenspläne entstehen. Wir sind Teil eines Umbruchs, fühlen uns beim Lesen mittendrin und würden am liebsten das Glas hinhalten, wenn Rotwein eingeschenkt und das Leben besprochen wird.

Fazit
Ein warmherziges, einnehmendes, berührendes Buch über Liebe und Tod, Schein und Sein, Beziehungen und Eigenverantwortung. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Thorsten Pilz (Jahrgang 1969) ist Redakteur beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Seine Liebe zu Dänemark begann in Sommerurlauben an der jütländischen Westküste mit Softeis, Pølser und scheinbar endlosen Sandstränden. WEITE SICHT ist sein erster Roman. Thorsten Pilz lebt in Hamburg.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Lübbe; 1. Aufl. 2023 Edition (31. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 288 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3785728376

Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955 – 1963

Eine junge Frau schreibt Tagebücher. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, viele jungen Mädchen und Frauen tun es, auch einige Jungs und Männer. Es gibt Veröffentlichungen vieler Tagebücher von Schriftstellern, die Bandbreite des Inhalts reicht von Tagesbeobachtungen und Notizen zu Befindlichkeiten (man denke an Thomas Mann) über Schaffensprotokolle (derselbe),  bis hin zu hochphilosophischen Gedankengängen (Georg Lichtenberg, Hannah Arendt, Ayn Rand und viele mehr). Die Frage, ob solche Tagebücher, die eigentlich privat verfasst wurden, veröffentlicht werden sollten, kann sich moralisch stellen, wenn der Schreiber der Veröffentlichung nicht explizit zugestimmt hat, sie stellt sich aber auch im Hinblick auf den zu erwartenden Wert und Sinn für den Leser.

Beides ist für mich bei den vorliegenden Tagebüchern sehr in Frage gestellt. Als Leser wird man über Seiten mit spätpubertär anmutenden Liebesphantasien und -eskapaden einer jungen Frau überflutet. Jeder Mann ist ein potenzieller Liebhaber, entpuppt sich mehrheitlich als sehr angetaner Verehrer, und das schwache Weib kann nicht widerstehen, gibt sich hin, prahlt im Tagebuch einerseits mit ihrer Wirkung und kokettiert mit gespielter (für wen eigentlich) Selbstkritik. Dass dann und wann ein paar tiefgründige Gedanken einfliessen, wiegt die Sache leider bei Weitem nicht auf.

Diese endlosen Liebeleien und Schwankereien zwischen Männern waren schlicht ermüdend. Es geht mir nicht um Sitte und Moral, jeder kann, wie er mag. Aber: Ich möchte das nicht lesen. Nun kann man sagen: «Kein Problem, kauf das Buch nicht.» Aber ich frage mich dann, was für eine Motivation gibt es, das zu drucken? Worauf zielt man ab? Literarischen Mehrwert wohl kaum. Auf den Voyeurismus der Menschen? Sex sells? Der neugierige Blick hinter die Schlafzimmergardinen anderer als Verkaufsmagnet, im Wissen, dass das zieht? Tut es das wirklich?

«Ich habe längst keine rechte Lust mehr, mich mit meinem Tagebuch zu beschäftigen – ist ja doch alles Schwindel. Die ganze Welt ist ein Gewebe von Lügen, man sollte sich aufhängen. Aber dazu hat man ja doch keinen Mut, so treibt es einen weiter, und manchmal bildet man sich ein, glücklich zu sein.»

Bei mir zog es nicht. Im Gegenteil. Es war das erste Buch, was ich von Brigitte Reimann las, und irgendwie habe ich gar keine grosse Lust mehr, nun eines ihrer Werke zu lesen. Brigitte Reimanns eigene fehlende Lust auf diese Tagebücher kann ich nachvollziehen, so ging es mir auch. An den Satz angehängt findet sich zwar eine der sehr seltenen tieferen Betrachtung, die den Menschen hinter all der oberflächlichen Liebelei durchscheinen lässt – leider sind diese Einsichten zu dünn gesät.

Persönliche Betrachtung
Beim Lesen der vorliegenden Tagebücher merkte ich eines: Grundsätzlich trenne ich Werk und Autor. Ich lese meist ein Buch und will dann mehr über den Autoren erfahren, wenn mich dieses begeistert hat. Wenn im Nachhinein Details über einen Autor bekannt werden, die diesen diskreditieren, tangiert das sein Bild als Mensch, nicht aber meine Begeisterung für ein Buch. Wenn sich aber eine Antipathie für einen Künstler entwickelt hat, fehlt mir die Motivation, seinen Werken Zeit zu widmen.

Wie geht euch das?

Zur Autorin und weiteren Mitwirkenden
Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

Angela Drescher, geboren 1952, ist Lektorin und gab Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“ heraus, außerdem die Tagebücher Brigitte Reimanns und die ungekürzte Neuausgabe des Romans „Franziska Linkerhand“.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Aufbau; 1. Edition (14. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 592 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3351041861

Ingeborg Bachmann, Max Frisch: «Wir haben es nicht gut gemacht.»

Der Briefwechsel

Inhalt

«Wir wären ein Unheil füreinander. Aber auch so kein Heil.» (MF)

Diese Worte schreibt Max Frisch an Ingeborg Bachmann, nicht lange nach ihrem ersten Treffen, in dem schon die Ahnung lag, was kommen wird. Es muss eine grosse Liebe gewesen sein, die einschlug und beide ergriff. Und doch war wohl beiden bewusst, wie schwer es für jeden von ihnen selbst ist, mit einem anderen Menschen zu eng zusammen zu sein, wie schwer es durch denselben Beruf und auch die Öffentlichkeit, in welcher beide standen, sein würde.

«…Lass das nicht zu! Ich möchte mit Dir ans Ende gehen, und wenn Du mich verlassen musst, nie wieder lieben…» (MF)

Der Leser wird Zeuge eines verzweifelten Ringens von zwei Personen um die Lebbarkeit einer Liebe, er liest sich Zeile für Zeile durch Alltäglichkeiten, Hoffnungen, Abgründe, Schmerz und Liebe. Es waren zwei Königskinder, die zwar sich, aber nicht wirklich zueinander im Sinne eines Miteinanders fanden.

Der hier veröffentlichte Briefwechsel gewährt erstmals einen offenen Blick auf eine Beziehung, die von Mythen umgeben war. Vor allem auf der Seite der Bachmannanhänger existierte das Bild der zum Opfer eines Beziehungstyrannen gewordenen Frau. Die 3jährige Arbeit von vier Herausgebern, Bachmann- und Frisch-Experten, legen einen neuen Grundstein für einen neuen Blick sowohl auf die Lebens- und Beziehungswege sowie die Werkbezüge der beiden Autoren.

Gedanken zum Buch

«Jetzt weiss ich es aus Erfahrung, dass ich in deiner Liebe, uns wenn sie mir über Jahre erhalten bliebe, allein sein werde… Man kann nicht zuhause sein zu zweit und allein sein. Du wirst mich aber immer allein lassen.» (MF)

Max Frisch suchte die Zweisamkeit, er wollte die Liebe im Alltag präsent haben und sah sich mit einer Frau konfrontiert, die sich diesem Wunsch immer wieder entzog, die sich nicht einengen lassen wollte und wohl auch nicht konnte. Dies lag wohl in ihrem Naturell, welchem sie sich nicht entziehen konnte. Ihre Worte klingen anders:

«Es ist schwer für mich, weil ich so gerne etwas Ganzes möchte, etwas Kompromissloses mit Mann und Haus und Kind.» (IB)

Ingeborg wollte eigentlich alles, sie suchte die Liebe, sie brauchte sie, sie lechzte förmlich danach. Und doch konnte sie sie nicht so leben, sie konnte die Nähe nicht aushalten, floh immer wieder nach kurzer Zeit oder, wenn schon weg, verzögerte die Rückkehr. So lebten die beiden zwar in einem Haushalt, und waren doch sehr selten beide am gleichen Ort.

«…ich habe in der Liebe und durch die Liebe immer den Boden verloren und daher nie einen gehabt… ich werde, solange ich liebe, keinen Platz in der Welt finden, nie das bekommen, was ich am meisten ersehne, und darum wird alles, was ich sonst bekomme und wofür ich mich bemühe , dankbar zu sein, für immer ohne Glanz sein.» (IB)

Es klingt, als ob Ingeborg Bachmann resigniert hat, als ob sie Angst hat, die Liebe zu leben, wie sie sie gerne leben würde, aus Angst vor neuem Schmerz, wie sie ihn in der Vergangenheit erlebt hat. Indem sie sich also nicht auf Max Frisch einlassen kann, entzieht sie ihm das, was er wiederum bräuchte, um ihr das zu bieten, wonach sie sich tief drin sehnen würde. Und so drehen sich die beiden im Kreis eines sich gegenseitig befeuernden Entziehens, mit dem schlussendlich beide nicht zurechtkommen.

«Ich fand keine Brücke, keine Möglichkeit einer Brücke. Ich bin auf Brücken angewiesen, Du wahrscheinlich nicht. Ich zweifle nicht an deiner Liebe, Ingeborg, nicht an der Grösse deiner Liebe, wenn du liebst. Ich weiss nur, dass ich nicht beziehungslos lieben kann… Vielleicht weil bei mir die Leidenschaft nicht ausreicht, um sich selbst zu genügen. Ich kann nicht allein sein.» (MF)

Wir lesen diese Briefe mit steigernder Bestürzung, wir werden Zeuge eines Paares, das mit sich und mit dem anderen ringt, das leidet, kämpft und doch immer wieder resigniert. Wir lesen Liebesschwüre, Anschuldigungen, wir lesen Entschuldigungen und Selbstverteidigungen, wir lesen von Lösungsansätzen und Missverständnissen und sind tief in einer Zweierkiste der Dritte, irgendwie nicht ganz zu Recht da. Es stellt sich die Frage, ob es legitim ist, eine so intime Geschichte so nah mitzuverfolgen. Es stellt sich die Frage, ob wir als Voyeure dieses privaten Austauschs nicht zu weit gehen, eine Grenze überschreiten. Und doch gibt es diesen Briefwechsel, er ist gedruckt worden und das hatte Gründe, die vielschichtig sind.

Für die Literaturwissenschaft ist der Briefwechsel wohl ein Geschenk. Es sind Briefe von hohem literarischem Niveau, die nicht einfach nebenbei geschrieben, sondern regelrecht sprachlich komponiert sind. Man merkt den Briefen die Mühe und Sorge an, welche die Schreibenden einfliessen liessen. Die Briefe sind zudem ein weiterer Schritt zur Erschliessung zweier Werke, die durch diese Offenlegung einen neuen Schlüssel zu ihrer Interpretation erhalten.

«Ich möchte wieder lieben können – Dich und vieles und auch mich.» (IB)

Die vorliegende Korrespondenz ist nichtsdestotrotz privat und sie legt intime Gedanken und Gefühle zweier Menschen offen. Ingeborg Bachmann wollte aus diesem Grund nicht, dass die Briefe veröffentlicht werden, und Max Frisch hatte ihr testamentarisch zugesichert, dass dies nie passieren wird. Er hat später seine Meinung geändert und sie lediglich für eine bestimmte Zeit nach seinem Ableben gesperrt. Da diese Frist bald ausläuft, wären die Briefe bald öffentlich zugänglich. Diesen Umstand nennt Heinz Bachmann, Ingeborg Bachmanns Bruder, als eine Begründung, wieso er einer Veröffentlichung in diesem vorliegenden Rahmen zustimmte: so sei immerhin die sorgfältige und gewissenhafte Aufarbeitung gewährleistet. Dies ist auch gelungen. Ergänzt wird der Briefwechsel durch verschiedene sachkundige Kommentare der Herausgeber sowie einen ausführlichen Stellenkommentar.

«Wir haben es nicht gut gemacht.»

Was Frisch hier zum Ausdruck bringt, kann als sachliches Fazit gesehen werden. Wer die Briefe gelesen hat, weiss, dass keiner der beiden so sachlich gewesen ist, was diese Beziehung anbetraf. Beiden ging sie tief, beide litten sie, beide nagten am Ende und zogen ihre Wunden ins weitere Leben hinein. Als Leser bleibt man tief betroffen und auch nachdenklich zurück. Das ist kein Buch, das man einfach mal durchliest und beiseitelegt. Es hallt nach.

Fazit
Ein bewegendes, berührendes, ab und zu auch bedrückendes Buch, das einen neuen Schlüssel zur Erschliessung von Leben und Werk zweier grossartiger Schriftsteller liefert.

AutorInnen und Herausgebende
Ingeborg Bachmann, geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, wurde durch einen Auftritt vor der Gruppe 47 als Lyrikerin bekannt. Nach den Gedichtbänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956) publizierte sie Hörspiele, Essays und zwei Erzählungsbände. Malina (1971) ist ihr einziger vollendeter Roman. Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom.

Max Frisch, geboren am 15. Mai 1911 in Zürich, arbeitete zunächst als Journalist, später als Architekt, bis ihm mit seinem Roman Stiller (1954) der Durchbruch als Schriftsteller gelang. Es folgten die Romane Homo faber (1957) und Mein Name sei Gantenbein (1964) sowie Erzählungen, Tagebücher, Theaterstücke, Hörspiele und Essays. Frisch starb am 4. April 1991 in Zürich.

Hans Höller war bis 2012 Professor für Neuere Deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg und bis 2020 einer der Gesamtherausgeber der Salzburger Bachmann Edition. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher zur zeitgenössischen Literatur, Mitherausgeber mehrerer Bände der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und der Jean-Améry-Ausgabe.

Renate Langer ist Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik der Universität Salzburg, Herausgeberin der Bände 3 und 6 der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und Herausgeberin mehrerer Bände der Salzburger Bachmann Edition.

Thomas Strässle ist Professor für Neuere deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Leiter des transdisziplinären Y Instituts an der Hochschule der Künste Bern. Er ist Präsident der Max Frisch-Stiftung.

Barbara Wiedemann, Literaturwissenschaftlerin mit editionsphilologischem Schwerpunkt, Lehrbeauftragte an der Universität Tübingen, Herausgeberin von Werken und Briefen Paul Celans, quellenkritische Studien zu Paul Celan im Kontext der zeitgenössischen Literatur (u. a. von Ingeborg Bachmann und Nelly Sachs).

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Suhrkamp Verlag; 3. Edition (21. November 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 1039 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3518430699

Caroline Schmitt: Liebewesen

Inhalt

«Wer sein Herz an Lebewesen hängt, kann nur verlieren, dachte ich.»

Lio lernt Max kennen, zwei Menschen kommen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Was sie verbindet: Sie sind beide auf ihre Weise verletzte Seelen. Während Max aber offen durch die Welt geht, so auch versucht, in Lios Welt einzudringen, ist Lio verschlossen und versucht krampfhaft, ihn draussen zu halten. Zu gross sind ihre Ängste, zu tief die Verletzungen ihres vergangenen Lebens. Die Bestrebungen, näher zusammenzuwachsen, zeigen langsam Früchte, doch dann wird Lio schwanger und alles verändert sich erneut.

Gedanken zum Buch

«Zuerst war ich meiner Mutter der Dorn im Auge, der ihre Zweisamkeit zerstörte, dann der Dorn, der ihre Nippel wund biss, anstatt daran zu saugen, und dann der Dorn, der ihr das Geld aus der Tasche zog.»

Lio wächst mit dem Gefühl auf, ungewollt zu sein. Die Botschaft, fehl am Platz zu sein, eine Last und überflüssig, hat sich tief in ihre Seele eingegraben. Die Schläge und Übergriffe in der Kindheit und Jugend haben tiefe Narben hinterlassen, sie haben dazu geführt, dass Lio eine dicke Mauer aus Ironie, Zynismus und Distanz um sich aufgebaut hat, hinter der sie sich versteckt und mit der sie sich schützen will. Nun verletzt nur noch sie selbst sich immer wieder – auf allen Ebenen.

«Ich war der unentspannteste und hässlichste Mensch, der je unter ihm gelegen hatte. Ich wollte raus aus dieser Situation und raus aus diesem Körper, nicht nur für den Moment, sondern für immer, ich wollte sterben, aber den Gefallen tat mein Körper mir nicht.»

Lio leidet an sich selbst und an den Erfahrungen, die sich so tief in ihren Körper und ihre Seele eingebrannt haben, dass sie sie von innen heraus zu verbrennen scheinen. Das Gefühl, nichts wert zu sein, lässt sie daran zweifeln, dass jemand sie lieben könnte. Ihr Körper ist ihr so fremd, dass sie ihn lieber zerstören würde, als dass sie ihn geniessen kann. Max will ihr helfen, er will ihr einen Weg zu sich selbst zurück zeigen. Er will mit ihr über das sprechen, was sie an den Punkt gebracht hat, wo sie heute ist. Doch auch Max hat seine Verletzungen und Abgründe, die regelmässig die Beziehung erneut auf eine grosse Probe stellen.

«Vielleicht krachen nicht wir gegeneinander, sondern die Welten, aus denen wir kommen.»

Wir sind, wer wir wurden, weil wir erlebten, was uns begegnete im Leben. Was wir in der Kindheit erfahren, zieht seine Fäden ins Erwachsenenleben und wirkt durch uns hindurch. Es ist schwer, das abzulegen. Und so prallen mitunter Welten aufeinander, die aus einer anderen Zeit stammen und in der heutigen nicht zusammenpassen. Das müssen auch Lio und Max mit der Zeit anerkennen.

«…mir ist im Laufe der Zeit immer klarer geworden, was mit mir alles nicht stimmt. Wenn ich dich anschaue, sehe ich mein Versagen.»

Es sind Beziehungen, die uns zeigen, wer wir sind. Erst durch ein Du erfahren wir das Ich in all seinem Sein und Tun wirklich. Der Partner wirkt gleichsam als Spiegel, der einem vorgehalten wird. Das macht das Zusammensein mitunter schwer. Das müssen auch Lio und Max erkennen und einen Weg suchen, wie sie damit umgehen wollen und können.

«Liebewesen» ist ein tiefgründiges Buch, das grundlegende Themen des Lebens aufgreift. Es geht um das eigene Werden und Sein, um Vertrauen, Verrat, Verletzungen und (Selbst-)Zerstörung. Es geht um Liebe und Tod, um Neuanfänge und Enden. Es ist ein Buch über das Schweigen und die Sprachlosigkeit in Bezug auf das, was schmerzt. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die tief verletzt und doch tapfer einen gemeinsamen Weg suchen und gehen wollen. Es ist dadurch auch ein Buch voller Hoffnung. Caroline Schmitt nähert sich all diesen Themen auf eine leichte und oft auch humorvolle Weise, ohne dabei den Ernst zu verdecken. Es gelingt ihr, die eigentlich schweren Themen in eine flüssig lesbare Form zu bringen, so dass sie nicht erschlagen beim Lesen, sondern einen in den Bann ziehen, weil immer wieder die Hoffnung da ist, dass es einen Weg gibt, all das Schwere hinter sich zu lassen, so dass doch noch alles gut kommt. Was auch immer gut bedeuten mag.

Fazit
Ein tiefgründiges, nachdenkliches, aber auch humorvolles Buch über die Beziehung zweier verletzter Seelen, die mit den eigenen Abgründen kämpfen und auf eine bessere Zukunft hoffen.

Zur Autorin
Caroline Schmitt, Jahrgang 1992, studierte Journalismus an der University of the Arts London. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Journalistin für Deutsche Welle, ZDF und funk. LIEBEWESEN ist ihr erster Roman.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Eichborn; 2. Aufl. 2023 Edition (27. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 224 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3847901303