Suzie Miller: Prima Facie

Inhalt

«Ich kann nicht anders als mich zu fragen: Wie ist es möglich, dass ich hier bin? Niemand hatte je daran geglaubt, dass ich hier landen würde. Den ganzen Sommer über haben Erwachsene zu mir gesagt, wie viel ‘Glück’ ich hätte, ‘so eine Gelegenheit zu bekommen’, immer hoben sie mein Glück hervor, ohne anzuerkennen, wie hart ich dafür gearbeitet habe.»

Tess kämpft sich mit Ehrgeiz und viel Arbeit durch die sozialen Schichten, kann mit einem Stipendium in Cambridge studieren und später in eine angesehene Kanzlei in London eintreten. Sie merkt, dass sie aus einer anderen Klasse stammt, es wird ihr überall bewusst: «Weil man mir anmerkt, dass ich nicht hierher gehöre.»

Sie versucht, sich anzupassen, die Verhaltensweisen anzueignen, die es braucht, um dazuzugehören, und sie verschafft sich Respekt durch ihre Leistung und ihr Können. Alles läuft auf graden Schienen, bis ein einziger, verhängnisvoller Abend alles zunichtezumachen scheint und ihre ganze Welt aus den Fugen gerät. Was soll sie tun? Was steht auf dem Spiel? Ist sie bereit, den Preis für ihre Überzeugungen zu bezahlen?

Gedanken zum Buch

Es gibt Bücher, die gehen tief. Die bewegen, die erschüttern, die verstören. Sie dringen in dein Innerstes und wühlen es auf. Das ist mir mit diesem Buch so gegangen. Hatte ich am Anfang noch Mühe, reinzukommen, weil mir der Stil nicht entsprach – zu kalt, zu sachlich, zu erklärend, zu aufzeigend, zu wenig persönlich -, wurde ich nach und nach reingezogen, immer mehr, immer tiefer. Und ich merkte, dass genau dieser Stil am Anfang wichtig war. Er zeigte etwas, eine Haltung, eine Rolle, ein Konstrukt, das Risse bekam, das erschüttert wurde. Durch einen Abend. Durch ein Erlebnis. 

«Vielleicht sind Leute wie ich nur besonders empfänglich für diesen Ton, den Männer in Machtpositionen anschlagen, wenn sie an einem zweifeln. Es ist schwer zu erklären, wenn man die leichte Herabsetzung nicht selbst wahrnimmt.»

Suzie Miller hat einen Roman geschaffen, der die sozialen Unterschiede und die Klassenschranken in den Blick nimmt. Sie zeigt auf, wie verschieden die Lebenswirklichkeiten in unterschiedlichen Klassen aussehen, erzählt davon, welche Abgründe es zu überwinden gilt, will man sich in einer anderen Klasse als der der eigenen Herkunft bewegen. Es sind oft subtile Kleinigkeiten, und doch können sie ganze Lebenswege definieren.

«Prima facie- lat. Für dem Anschein nach, auf den ersten Blick.»

Das Buch gewährt Einblicke in das Rechtssystem und die diesem zugrunde liegenden Prinzipien und Strategien. Was für das Recht gilt, zieht sich aber oft auch durch das normale Leben. Recht und Leben wirken aufeinander, bedingen einander, beeinflussen sich gegenseitig. Wie oft urteilen wir danach, wie etwas auf den ersten Blick scheint? Wir gehen aus von den vorgefertigten Bildern in unserem Kopf, die meist ein Relikt einer jahrelangen Prägung durch ein System sind, in dem wir gross wurden und das uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wir nehmen diese Vor-Verurteilung nicht mehr wahr, wir glauben, die Welt zu sehen, wie sie ist, und sehen doch immer nur die Welt, wie wir sie sehen, weil wir sind, wie wir sind, wie wir geworden sind.

Dieses Buch ist ein Augenöffner. Es zeigt, wie wir uns in Systeme hineinziehen lassen und sie oft fraglos übernehmen, weil uns die passenden Argumente, die sie stützen, gleich mitgeliefert werden und überzeugen. Es heisst nicht, dass diese Systeme grundsätzlich falsch sind, dass sie nicht eine Möglichkeit sind, wie die Welt gesehen werden kann, aber sie sind eben genau das: Eine Möglichkeit und nicht die absolute Wahrheit und einzige Sicht.

Am Schluss dieses Buches sassen die Tränen locker. Es ist ein Buch, das sich setzen muss, das nachhallt. Eine grosse Leseempfehlung.

Fazit
Ein wichtiges Buch, ein Buch, das aufzeigt, wie viel vom Patriarchat in unseren Systemen steckt und wie wir uns dem immer wieder unterwerfen. Sehenden Auges. Es zeigt, was es heisst, Mut zu haben, hinzustehen, aufzubegehren. Und wie wichtig es ist. 

Zur Autorin und zur Übersetzerin
Suzie Miller, geboren in Melbourne, hat Jahre lang als Strafverteidigerin gearbeitet, mit besonderem Augenmerk auf sexuellen Missbrauch. Ihr Stück, auf dem ihr Roman basiert, gewann alle großen Preise Australiens sowie den Olivier Award, die wichtigste Auszeichnung im britischen Theater. »Prima facie« ist ihr erster Roman.

Katharina Martl, geboren 1987, übersetzt aus dem Englischen und den festlandskandinavischen Sprachen. Sie lebt in München.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Kjona Verlag; 1. Edition (29. Januar 2024)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 352 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3910372214
  • Originaltitel ‏ : ‎ Prima facie



Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Inhalt

G.W.Pabst hat es geschafft. Er konnte Europa mit seiner Frau und seinem Sohn rechtzeitig verlassen und in den USA das tun, was er liebte: Filme machen. Der Erfolg hält nur kurz, zudem ist seine Mutter noch in Österreich und nicht bei bester Gesundheit. Mit seiner Familie reist er zurück, um die Mutter in ein Sanatorium zu bringen und dann – so gibt er vor – zurück in die USA zu gehen. Er bleibt, kommt in die Mühlen der Nazis, dreht fortan unter deren Augen. Der rote Pabst von einst plötzlich ein Nazizudiener?

Gedanken zum Buch
Daniel Kehlmann wollte keine Biografie schreiben, er schrieb einen Roman, den er um die Figur des Georg Wilhelm Pabst herum konstruierte. Interessiert hat ihn dabei, was möglich gewesen wäre, was vielleicht wirklich so stattgefunden hat, vielleicht auch nicht. Er erschafft also keine neue Welt, sondern durchforstet eine reale Welt nach ihren Möglichkeiten, die nicht immer verwirklicht worden sind. Es ist dabei nicht interessant, was wirklich passiert ist, zählen tut nur, ob die Welt, die Kehlmann konstruiert hat, in sich stimmig ist. Das ist ihm gelungen. In einer wortgewandten Sprache, in sprechenden Bildern, mit lebendigen Figuren zeichnet uns Daniel Kehlmann die Zeit von damals nach und lässt uns erfahren, was es heisst, sich in Fallstricken zu verfangen, aus denen man nicht mehr kommt.

«Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, was man will. Wichtig ist, Kunst zu machen unter den Umständen, die man vorfindet.»

Redet Pabst sich die Dinge schön? Sucht er eine Rechtfertigung für all die kleinen Entscheide, die ihn schlussendlich dahin brachten, wo er heute ist? Den Gegner des Naziregimes, den roten Pabst hatte man in eine Rolle gezwängt, die er nie hatte haben wollen, die er nun aber gezwungen war, auszufüllen. Zwar machte er keine Propagandafilme, aber er diente diesem System. Hatte er eine Wahl? Jetzt noch? Wo hätte er noch anders abbiegen können und war stattdessen den Weg hinein ins Verderben gefahren? Ist es an uns, zu urteilen, zu verurteilen? Vom sicheren Sofa aus, so viele Jahre später? Noch vor einigen Jahren wäre die Antwort wohl noch anders gewesen als heute. Wir stehen wieder vor Brüchen und Umbrüchen, vor Bewegungen, Spaltungen und latenten Gefahren, die an vielen Orten schon Realität geworden waren. Was tun wir heute? Wie viel unterscheidet uns von seiner Haltung damals?

Sicher ist: Seine Kunst stand für Pabst zuoberst. Ihr ordnete er alles unter, für sie fällte er Entscheidungen, die im Nachhinein ungünstig waren, bis er an einem Punkt angelangt war, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Aus dem sicheren Exil kam er zurück nach Deutschland, setzte seine Frau und seinen Sohn dieser Atmosphäre aus und brachte alle in Gefahr – wenn er nicht spurte.

«Sie verkennen die Lage. Ich diskutiere nicht. Wenn Sie nur die geringste Idee hätten, was ihnen blühen kann, würden Sie es nicht mal versuchen.»

Der Regisseur Pabst, der keine Widerworte duldet, der bestimmt, wann ein Film gut ist und der Szenen immer wieder neu drehen lässt, ist selbst ind er Position, dass ein Nein nicht mehr gilt.

Fazit
Ein grossartiger Roman um den bekannten Regisseur Georg Willhelm Pabst, erzählt in einer wunderbaren Sprache und allen Zutaten, die Literatur gross machen. Für Puristen vielleicht ein paar Längen zu viel, für Epiker ein Hochgenuss.

Zum Autor
Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war eines der erfolgreichsten deutschen Bücher der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und gelangte auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Rowohlt Buchverlag; 3. Edition (10. Oktober 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 480 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3498003879
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3498003876

Margaret Atwood: Brennende Fragen

Eigentlich wollte ich nur mein Regal umräumen, da fiel mir dieses Buch in die Hände. Das Vorhaben war vergessen, weil ich den grossen Fehler gemacht habe, das Buch aufzuschlagen und irgendwo loszulesen. Da hatte mich Margaret Atwood an der Angel und liess mich nicht mehr los.

«Brennende Fragen – Warum dieser Titel? Vielleicht weil die Fragen, mit denen wir im 21. Jahrhundert konfrontiert sind, mehr als dringlich sind.»

«Brennende Fragen», Fragen und Themen, die umtreiben in dieser Zeit, in diesem 21. Jahrhundert. Margaret Atwood hat darüber geschrieben. Sie schrieb über soziale Ungerechtigkeit, über Gleichberechtigung und Revolution. Sie schrieb über Ungleichverteilung von Reichtum, über Probleme der Demokratie und übers Schreiben – das der anderen und das eigene. Sie beleuchtet diese ganze Welt mit ihrem klaren, scharfsinnigen Blick, vergisst dabei nie, eine kleine Prise Humor einzustreuen.

«Man braucht alle drei Teile: Talent, harte Arbeit und Leidenschaft. Hat man nur zwei davon, bringt man es nicht sehr weit.» Margaret Atwood

Sie hat offensichtlich alles davon. Habt ihr schon ein Buch von ihr gelesen? Welches ist euer Liebling?

Neue Regel fürs Bücherregalumräumen: Bücher bleiben geschlossen! Ich befürchte aber, es kommt damit gleicht heraus mit diesem Vorsatz wie mit den meisten, die fürs neue Jahr aufgestellt werden.

Habt einen schönen Tag!

Angaben zum Buch:

Der Klappentext
«Brennende Fragen – Warum dieser Titel? Vielleicht weil die Fragen, mit denen wir im 21. Jahrhundert konfrontiert sind, mehr als dringlich sind. Natürlich denkt man das in jedem Zeitalter über die jeweiligen Krisen, aber diese Ära erscheint definitiv ein anderes Kaliber zu sein. Da ist erstens unser Planet. Verbrennt die Welt sich buchstäblich selbst? Haben wir sie in Brand gesteckt? Können wir die Feuer löschen?

Wie steht es mit der eklatanten Ungleichverteilung von Reichtum? Wann werden die 99 Prozent Arme die Nase voll haben und – bildlich gesprochen – die Bastille in Flammen aufgehen lassen?

Dann die Demokratie. Schwebt sie in Gefahr? Was meinen wir überhaupt mit Demokratie? Hat es sie denn je gegeben, im Sinne von Gleichberechtigung aller Bürger? Meinen wir es ernst mit aller? Wie viel darf frei geäußert werden und von wem und zu welchem Thema? Die Revolution durch die sozialen Medien hat Onlinegruppierungen von Menschen, die je nachdem, ob man sie mag oder nicht, als ›Bewegungen‹ oder ›Mob‹ bezeichnet werden, bisher ungekannte Macht verliehen. Ist das gut, ist es schlecht oder nur eine neue Spielart der Meute, die etwas umtreibt?

Dies sind einige der brennenden Fragen, die man mir im Verlauf der vergangenen beiden Jahrzehnte gestellt hat und die ich mir selbst stelle. Hier nun ein paar Versuche dazu? Denn das ist ein Essay ja seiner Bedeutung nach: ein Versuch. Ein Bestreben.»

Die Autorin und die Übersetzende
Margaret Atwood, geboren 1939, ist unbestritten eine der wichtigsten Autorinnen Nordamerikas. Ihre national wie international vielfach ausgezeichneten Werke wurden in viele Sprachen übersetzt. »Der Report der Magd«, das Kultbuch einer ganzen Generation, wurde preisgekrönt als Serie verfilmt. 2017 erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels und für ihren Roman »Die Zeuginnen« wurde sie 2019 bereits zum zweiten Mal mit dem Booker-Preis für den besten englischsprachigen Roman ausgezeichnet. Atwood lebt in Toronto.

Martina Tichy studierte Germanistik und Amerikanistik und ist seit vielen Jahren als Übersetzerin aus dem Englischen tätig, u. a. von Amitav Ghosh, F. Scott Fitzgerald und Paul Murray.

Facts and Figures

  • Herausgeber ‏ : ‎ Berlin Verlag; 1. Edition (12. Oktober 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 704 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3827014733

Hilary Mantel: Sprechen lernen

Inhalt

«All diese Erzählungen sind aus Fragen über meine frühen Jahre entstanden, wobei ich nicht sagen kann, dass ich durch das Übertragen meines Lebens ins Fiktionale Rätsel gelöst hätte – aber zumindest habe ich einzelne Teile hin und her geschoben.»

In sieben Kurzgeschichten tauchen wir ein in das Leben der Arbeiterklasse im England in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Es ist die Welt, in der auch Hilary Mantel aufwuchs.

Es ist nicht immer leicht, über die eigene Kindheit zu schreiben, vor allem dann nicht, wenn diese kompliziert und voller Widersprüche ist. Hilary Mantel hat in sieben Kurzgeschichten versucht, die Welt ihrer Kindheit auferstehen zu lassen. In einer Mischung aus Erlebtem, Erinnertem, Gefühltem und Fiktionalem hat sie mit ihrer eindrücklichen Sprache und mit dem ihr eigenen Witz, der dazu dient, die Tragik noch klarer offenzulegen, die Stimmung ihres Aufwachsens einzufangen versucht. Es ist ihr auf eine eindrückliche Weise gelungen.

Gedanken zum Buch

«Ich möchte diese Geschichten nicht autobiografisch, sondern autoskopisch nennen. Aus einer entfernten, erhöhten Perspektive blickt mein schreibendes Ich auf einen auf seine bloße Hülle reduzierten Körper, der darauf wartet, mit Sätzen gefüllt zu werden. Seine Umrisse nähern sich meinen an, aber es gibt einen verhandelbaren Halbschatten.»

Hilary Mantel betont, dass es sich bei den vorliegenden Kurzgeschichten nicht um autobiografische Texte handelt. Die Frage stellt sich, wieso ihr diese Einordnung wichtig ist, scheinen die Texte doch an ihre Autobiografie «Von Geist und Geistern» anzuschliessen, diese zu ergänzen.

„Es war ein kaputter, steriler Ort ohne Bäume, wie ein Durchgangslager, mit der gleichen hoffnungslosen Dauerhaftigkeit, die solche Lager anzunehmen pflegen.“

Sie schildert das Geschehen aus der Perspektive von Kinderaugen auf die Erwachsenen, es ist zugleich der Blick zurück als Erwachsene auf das eigene Kindsein. Es gelingt Hilary Mantel, die Atmosphäre der Welt ihres Aufwachsens plastisch werden zu lassen, fast fühlt man sich beim Lesen mittendrin.

Schonungslos, scharfsichtig und ohne Sentimentalität zeichnet Hilary Mantel das Bild einer Gesellschaft, sie zeigt, wie die Leben der Erwachsenen, die der Kinder prägen und formen. Sie tut das in einer unglaublichen Sprachgewalt, die messerscharf und in passgenauen Bildern arbeitet. Sie zeigt auf, wie ein aufwachsender Mensch sich verändert, um sich vor dem, was um ihn passiert, zu schützen. Sie zeigt auf, wie im Nachhinein Erinnerungen verblassen und erst wieder scharf werden, wenn man sie bewusst hinterfragt.

Leider blieben die einzelnen Protagonisten der Geschichten seltsam blass, quasi auf Distanz. Das könnte dem Umstand geschuldet sein, dass sie doch nur als Stellvertreter für die eigentlich Erlebende dienten und ihnen dadurch zu wenig Aufmerksamkeit zuteil wurde beim Schreiben. Dies aber nur eine Spekulation und Anmerkung am Rande.

Fazit
Eine sprachgewaltige Autoskopie, die ein Porträt einer Zeit und einer sozialen Schicht aufzeigt.

Autorin und Übersetzer
HILARY MANTEL, geboren 1952 in Glossop, gestorben 2022 in Exeter, England, war nach dem Jurastudium in London als Sozialarbeiterin tätig. Für ihre Romane ›Wölfe‹ (2010) und ›Falken‹ (2013) wurde sie jeweils mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Bei DuMont erschien außerdem u. a. die Autobiografie ›Von Geist und Geistern‹ (2015) und zuletzt der dritte Band der Tudor-Trilogie ›Spiegel und Licht‹ (2020).

WERNER LÖCHER-LAWRENCE geboren 1956, ist als literarischer Agent und Übersetzer tätig. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen zählen u. a. John Boyne, Meg Wolitzer, Patricia Duncker, Hisham Matar, Nathan Englander, Nathan Hill und Hilary Mantel.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG; 1. Edition (15. August 2023)
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 160 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3832168162

Alex Schulman: Endstation Malma

Inhalt

«Diese legendäre Zugfahrt! Erzähl noch mal, wie das war! Sie haben die Geschichte so oft wiederholt, voreinander wie auch vor anderen. Einmal hat sie gesagt, sie wisse allmählich selbst nicht mehr, was daran stimme und was nicht, Oskar dagegen erinnert sich an alles.»

Ein Mädchen fährt mit seinem Papa im Zug nach Malma. Ebenso tut es ein Ehepaar, welches Glück nur noch im Präteritum kennt, und eine junge Frau, die Antworten auf ihre Fragen sucht. *Endstation Malma», das sind drei Geschichten, die sich wie drei Stränge zu einem Zopf verbinden. Dreimal fahren wir als Leser mit den Protagonisten nach Malma, dreimal werden Zeugen von Beziehungen, ihren Tiefen und Abgründen und ihren Dynamiken. Wir nehmen Teil am Leben einzelner Menschen und machen uns mit ihnen auf die Suche nach den Antworten auf ihre brennenden Lebens-Fragen.

Gedanken zum Buch

«Harriet sucht nach Anzeichen von Verärgerung in seinem Blick oder in seinen Bewegungen. Heute achtet sie besonders darauf, denn dass sie diese Reise unternehmen, liegt an ihr, sie fühlt sich deshalb in ihrer Schuld. Nur ihretwegen steht Papa jetzt dort, sie trägt die Verantwortung dafür…»

Nach der Trennung der Eltern bleibt Harriet bei ihrem Vater, ihre Schwester geht mit ihrer Mutter fort. Harriet weiss, dass ihr Vater auch lieber ihre Schwester bei sich gehabt hätte, sie hörte es bei einem Streit der Eltern. Harriet hat Mitleid mit ihrem Vater, weil er sich mit ihr abfinden musste, und sie versucht fortan, ihm alles recht zu machen. Sie fühlt sich verantwortlich für seinen Schmerz, seine Probleme, und auch dafür, wenn die Welt für ihn nicht rund läuft.

«Da haben wir sie, in all ihrer Pracht, die grossartige Geschichte, wie sie sich kennenlernten. Immer haben sie sie als etwas durch und durch Romantisches erzählt. Doch jetzt, angesichts der Ereignisse am Abend zuvor, fällt Oskar plötzlich auf, dass ihre Geschichte genauso begonnen, wie sie geendet hat: mit einer Lüge.»

Max Frisch sagte einst, wir erzählen uns Geschichten, die wir dann für unser Leben halten. So geht es auch unserem Paar in dieser Erzählung. Sie lebten ein (gemeinsames) Leben und haben verschiedene Versionen von Geschichten. In glücklichen Zeiten waren es romantische, jetzt, im Angesicht der Krise, sind es ernüchternde. Die Frage ist schlussendlich: Welches ist  die richtige Geschichte? Gibt es überhaupt diese eine richtige Geschichte oder erzählen wir Geschichten je nach Stimmungslage und Situation anders? Sind vielleicht alle Versionen richtig, weil sich ein Leben nur durch einen Kontext erfahren lässt, welcher der Geschichte und dem Leben eine Form und einen Sinn gibt? Was passiert, wenn wir uns unsere Geschichten bewusst anders erzählen, als sie sich aktuell richtig anfühlen?

«Sie dachte wieder an ihre Mutter. Seit Jahren hatte sie keinen Gedanken an sie verschwindet. An dem Tag, an dem sie vor zwanzig Jahren aus ihrem Leben getreten war, hatte sie beschlossen, sie auszuradieren… Doch jetzt erschien sie ihr plötzlich in neuen Erinnerungsbildern, die ihr keine Ruhe liessen.»

Wir neigen oft dazu, unliebsame Erinnerungen aus dem Gedächtnis zu streichen. Wir verdrängen das Schmerzhafte, lassen nur dem Schönen Platz, um das Schwere aus der Vergangenheit nicht in die Gegenwart tragen zu müssen. Meist gelingt das nur vordergründig. Tief drin wirkt die Vergangenheit weiter, sie setzt sich fest, treibt ihr Unwesen im Unbewussten und bricht irgendwann wieder hervor. Nicht selten dann mit einer Gewalt, die vieles durcheinander wirbelt.

«Nur ein einziges Mal im Leben geschieht es, dass man einen Blick auf sich selbst erhascht. Und dies, und nur dies, wird entweder zum glücklichsten oder zum schrecklichsten Moment des eigenen Lebens.»

Drei Lebensgeschichten, eine Zugfahrt. Dass die drei Erzählstränge zusammenhängen, ist von Anfang an offensichtlich. Das tut der Spannung keinen Abbruch, da jede Geschichte viele offene Fragen mit sich bringt: Was haben die Protagonisten erlebt, wie wurden sie, wer sie sind, und wie hat die eine Geschichte die andere geprägt. Im Zentrum steht immer die Grundfrage, wie Verhaltensweisen, Muster und Eigenschaften in Familien weitervererbt werden. Für die Antworten dieser Fragen gilt: Einsteigen, Platz nehmen, lesen.

Das Buch scheint in seinem Erzählfluss das Thema aufzugreifen. Wie eine Dampflokomotive fährt die Geschichte schnaubend, etwas zäh an, nimmt dann mehr und mehr Fahrt auf, um schlussendlich mit Volldampf aufs Ende zuzusteuern.

Fazit

Ein tiefgründiger, vielschichtiger Roman darüber, wie Familien und Beziehungen prägen. Bewegend, warmherzig, zum Nachdenken anregend.

David Levithan, Jennifer Niven: Nimm mich mit dir, wenn du gehst

Inhalt

«Vielleicht hatte ich einfach genug davon, immer alle zu enttäuschen. Hatte die Nase voll davon, dass jeder von mir zu erwarten schien, ich würde eines Tages genau das tun, was ich jetzt getan habe – einfach verschwinden. »

Bea und Ezra wachsen bei ihrer Mutter und dem gewalttätigen Stiefvater Darren auf. Gewalt und Abwertungen sind an der Tagesordnung. Eines Tages ist Bea verschwunden. Keiner weiss wohin. Bis sie via Mail mit Ezra Kontakt aufnimmt. Im Mailaustausch kommen mehr und mehr die Schrecken des Aufwachsens zur Sprache, das Schreiben dient dem Erinnern, der Erkenntnis, dem Herausfinden, wer Bea und Ezra sind und was sie vom Leben erwarten (können und wollen). Und über allem steht immer die Frage: Wie geht es nun weiter? Wohin führt der Weg in Freiheit?

Gedanken zum Buch

««Ist bei euch zu Hause irgendetwas vorgefallen? Gibt es Probleme?»

Da verliess mich meine Wahrheitsliebe und Aufrichtigkeit. Ich konnte ja schlecht antworten: Bei uns zu Hause gibt es immer Probleme. Das wäre ja wie eine Einladung gewesen, bei mir noch weiter nachzuhaken. Und dann hätte ich noch mehr Probleme bekommen.»

Kinder, die zu Hause Gewalt erleben oder in prekären Verhältnissen aufwachsen, schämen sich oft dafür. Die Täter müssen ihnen oft nicht mal einbläuen, nach aussen den Schein zu wahren, die Scham und oft auch Schuldgefühle, selbst der Grund für diese Zustände zu sein, hindern sie am Reden. Und dann ist da noch die Angst: Angst, es könnte noch schlimmer werden, wenn jemand von all dem erfährt. Angst, dass die Gewalt sich potenziert und sich noch mehr auf ihnen entlädt. Diese Angst kann nur weniger werden, wenn sie lernen, zu vertrauen. Wenn sie merken, dass es Menschen gibt, die nichts Böses wollen, die da sind, die gut sind. Dabei ist Gewalt nie nie nur äusserlich, sie dringt tief in die Kinderseele ein und richtet da viel Unheil an. 

«Im Hinterkopf habe ich immer diesen fetten, nagenden Zweifel, der mir zuruft: Das schaffst du nicht. Du wirst scheitern. Du wirst immer bei allem scheitern, egal, was du tust, denn so ist es mit dir, das bist du, du bist eine Versagerin, eine Loserin, ein Nichts.»

Wenn ein Kind oft und lange hört, was es alles falsch macht, dass es zu nichts taugt, dass es nichts wert ist, brennt sich das ein. Die realen Stimmen mögen aus dem Leben verschwunden sein, doch sie wirken tief drin weiter. Sie setzen sich in Glaubenssätzen fest, die immer wieder auftauchen, die sagen: «Du bist nicht genug, du schaffst das nicht.“

«Wenn du daran gewohnt bist, dass alle Menschen mies mit dir umgehen, fällt es dir schwer, damit klarzukommen, wenn jemand einfach nur nett zu dir ist. Deine instinktive Reaktion ist dann, alles kaputtzumachen. Davonzurennen.»

Vertrauen bildet sich in der Kindheit. Das Aufwachsen in einem liebevollen Umfeld hilft dabei, einerseits Selbstvertrauen aufzubauen, andererseits auch auf andere Menschen zu vertrauen. Fehlt beides, steht man oft auf unsicherem Boden. Man zweifelt an sich und der Welt, kann kaum glauben, dass jemand einen liebt, dass jemand bei einem bleibt. Der möglichen Enttäuschung kommt man gerne zuvor, indem man selbst aus Beziehungen und Situationen flieht, bevor man gehen muss, weil der andere einen wegstösst.

Mit all dem hat vor allem Bea zu kämpfen, aber auch Ezra ist betroffen. Wir begleiten die beiden Jugendlichen auf ihrem Weg in ein eigenes Leben, das frei ist von all der Gewalt und seelischen Grausamkeit ihres Aufwachsens. Wir begleiten zwei junge Menschen dabei, herauszufinden, dass es möglich ist, auszubrechen und das eigene Leben in die Hand zu nehmen.  

Fazit
Ein packendes Buch zu einem wichtigen (und schwerwiegenden) Thema, das gerade bei Betroffenen viel auslösen kann. Darum: Eine Triggerwarnung ans Ende des Buchs zu stellen, ist etwa gleich sinnvoll wie ein Regenschirm, der einen zu Hause erwartet nach einem Spaziergang im strömenden Regen. Aber auch ein Buch, das Mut macht, das Hoffnung gibt, weil es Wege aufzeigt, weil es zeigt, dass viel möglich ist. Trotzdem.

(Jugendbuch, ab 14 Jahren)

Paul Auster: Baumgartner

Inhalt

«Sie fehlt mir, das ist alles. Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.»

Fast zehn Jahre ist es her, dass Baumgartners Frau Anna gestorben ist. Zehn Jahre, in denen er scheinbar wie früher weiterlebte, und doch nichts wie früher war. Baumgartner hält nur den Schein aufrecht, er stürzt sich in die Arbeit, in immer neue Buchprojekte. Anna war Dichterin und Übersetzerin. Eines Tages geht er in ihr Arbeitszimmer, das bis heute aussieht, wie sie es verliess. Er findet ihre Manuskripte, liest sie. Er erinnert sich an Anna, an ihre gemeinsame Geschichte, an das Leben, als es noch seines war. Das Leben gibt es nicht mehr, ein neues stellt sich nicht ein. Bis er eines Tages von Anna träumt. Nach diesem Traum ist alles anders. Nun fühlt er sich frei, sein eigenes Leben wieder in die Hand zu nehmen. Wohin es ihn wohl führen wird?

Gedanken zum Buch

«…Zeit ist jetzt das Wesentliche, und wie soll er wissen, wie viel ihm noch bleibt. Nicht nur, wie viele Jahre, bis er ins Gras beisst, sondern wichtiger, wie viele Jahre tätigen, produktiven Lebens, bevor sein Geist oder sein Körper oder beide ihn im Stich lassen und er zu einem schmerzgepeinigten, verblödeten Trottel wird, der nicht mehr lesen und schreiben kann, der vergisst, was vor vier Sekunden jemand zu ihm gesagt hat, und schlicht keinen mehr hochkriegt, ein Horror, an den er gar nicht denken will.»

Professor Seymor T. Baumgartner, so heisst unser Held, ist Pragmatiker. Er geht durchs Leben und sucht nach Lösungen für alles, was ansteht. Wir begleiten den Phänomenologen durch seinen Alltag, folgen ihm bei seinen Erinnerungen durch seine Kindheit, sein Aufwachsen, seine Beziehung mit Anna, und sind schliesslich Zeugen seines Umgangs mit deren Tod. Er ist älter geworden. Er vergisst Dinge, Missgeschicke passieren. All dem begegnet er mit Selbstironie. Er nimmt sich selbst nicht zu ernst. Damit kommt er mit allem gut zurande, nur mit einem nicht: Dem Verlust von Anna.

«Er denkt an Mütter und Väter, die um ihre toten Kinder trauern…, und wie sehr ihr Leid den Folgeerscheinungen einer Amputation gleicht, gehörte doch das fehlende Bein oder der fehlende Arm einmal zu einem lebenden Körper, wie der fehlende Mensch einmal zu einem anderen lebenden Menschen gehörte…»

Nachdem er schon viele philosophische Bücher geschrieben hat, befasst er sich aktuell mit Kierkegaard. Das ist wohl kein Zufall, handelt doch eines von dessen berühmtesten Werken von Krankheit und Tod. Baumgartner versucht, den Verlust seiner geliebten Frau wissenschaftlich zu erfassen, er zieht den Vergleich mit einer Amputation und dem Phantomschmerz, den der Betroffene sein Leben lang fühlt. Das Gefühl, dass ihm eine Hälfte (und wohl im wahrsten Sinne des Wortes die bessere) wegfiel und ihn unvollständig zurückliess, lässt nicht nach.

Knapp zehn Jahre nach Annas Tod träumt er einen Traum, in dem Anna lebt und zu ihm spricht. Obwohl er weiss, dass dies alles nicht Realität ist, hat es auf ihn eine Wirkung: Er ist frei für ein Weiterleben. Musste er sich zuerst all den Erinnerungen stellen, um an den Punkt zu kommen? Brauchen gewisse Dinge einfach ihre Zeit, die für jeden Menschen anders sind?

Fazit
Grossartige Literatur von einem wahren Meister seines Fachs. Das Buch ist still und leise, nie pathetisch, ohne Kitsch und Sentimentalität. Obwohl das Thema traurig ist, Baumgartner eigentlich ein Leidender, besticht das Buch durch eine Leichtigkeit, eine Hoffnung, die zwischen den Zeilen mitschwingt, dass das Leben doch gelebt werden will und soll und es auch wird. Wie nur soll so ein Buch enden? Auch das ist Paul Auster wunderbar gelungen. Ich ziehe meinen Hut!

Lizzie Doron: Nur nicht zu den Löwen

Inhalt

«Ich wollte, dass man versteht, dieser Ort ist nicht nur ein Zuhause, es ist eigentlich ein Museum, oder wenn Sie so wollen, eine Gedenkstätte für alles, was mir im Leben passiert ist. Und noch passieren wird.»

Rivis Haus, in dem sie ihr Leben lang wohnte, wird abgerissen. Sie verliert ihr Zuhause, sie muss raus. Rivi fängt an zu schreiben. Sie schreibt Briefe an Menschen, die ihr Unrecht taten, schreibt über ihre Erinnerungen, ihre Herkunft, ihr Leiden, ihre Einsamkeit. Und sie kämpft. Gegen den Abbruch, dagegen, Opfer zu sein. Doch bei all dem Leiden liegt die Möglichkeit, dass alles viel schöner war, als sie sich erinnert. Und wer weiss, vielleicht wird die Zukunft auch schöner, als sie im Moment befürchtet. 


Gedanken zum Buch

«Ich war ein Mädchen, das die meiste Zeit schwieg, doch tatsächlich wollte ich mein ganzes Leben lang reden, wollte nichts lieber als das. Und jetzt kommt der Tag, und ich rede, oder schreibe vielmehr.»

Rivi hat lange das gemacht, was andere für sie bestimmt haben. Sie liess sich – auf eine manchmal fast erzürnend naive Weise – umherschieben, an der Nase herumführen und hinhalten. Sie spielte das Spiel der Männer mit, die mit ihr ein leichtes hatten. Nun ist der Moment, das zu ändern. Die Aussicht, dass ihr Zuhause abgerissen werden soll, dass sie fremden Bestimmungen weichen muss, weckt ihre Widerstandskräfte, lässt sie endlich ihre Stimme entdecken. Sie will kämpfen. Und sie will aufräumen mit ihrer Vergangenheit und den Menschen, die diese geprägt haben.

«Grosser Gott, wusstest du, dass die Vergangenheit niemals etwas ist, das aus und vorbei ist?»

Auch wenn vergangene Zeiten und was in ihnen geschehen ist, vorbei sind, greifen sie in die Gegenwart hinein. Sie hinterlassen ihre Spuren, prägen das Denken, Fühlen und Handeln. Durch Verdrängen wird man die Vergangenheit nie los, man muss sich ihr stellen. Das will Rivi tun. Sie tut es auf ihre Weise, indem sie Briefe schreibt und den Menschen aus ihrer Vergangenheit ihre Sicht darlegt.

«Diese Idee des Schreibens hat Besitz von mir ergriffen, mein Kopf rast vorwärts, oder besser, rückwärts, und du kennst mich, meine Obsessionen und ich schwenken keine weisse Fahne, ehe die Aufgabe nicht bewältigt ist.»

Einmal angefangen, kann sie nicht mehr aufhören. Immer weitere Gedanken gehen ihr durch den Kopf, immer mehr will sie zu Papier bringen und an die entsprechenden Menschen schicken. Fast scheint es, als ob ein Ventil aufgegangen ist und sich nun alles ergiesst, was vorher angestaut war.

Fazit

Ein Buch in Briefen, Fragmente von Lebenserinnerungen werden zusammengetragen und adressiert. Nach anfänglichem Kampf und Fast-Abbruch nahm das Buch Fahrt auf und zog mich in seinen Bann.

Annie Ernaux: Die Jahre

Inhalt

«Sie würde die vielen verschiedenen Bilder ihrer selbst, die getrennt voneinander existieren, asynchron, gern in einer Erzählung vereinen, der Erzählung ihres Lebens, von der Geburt während des Zweiten Weltkriegs bis heute. Eine einzelne Existenz, die in der Bewegung einer ganzen Generation aufgeht.»

Annie Ernaux zeichnet das Bild einer Generation, sie erzählt von den sich verändernden Umständen und den eigenen Gefühlen, Erfahrungen und Lebensentwürfen. Sie will ein Buch über all das schreiben, sammelt Notizen, Fotos, fängt doch nicht an. Sie hat eine Idee, verwirft sie, häuft Material an – es bleibt beim Vorhaben. Und irgendwann hat sie es doch geschrieben und wir lesen es. Wir lesen das Porträt einer Zeit und eines Lebens, eine Mischung aus Erinnerungen an das Zeitgeschehen, soziale wie politische Gegebenheiten, Redewendungen, Gesinnungen, Sitten und Gebräuche. Und mitten drin immer wieder das eigene Leben.

Gedanken zum Buch

«Ich habe Angst, mich in diesem bequemen Leben einzurichten, Angst, irgendwann festzustellen, dass ich nicht bewusst gelebt habe.»

Annie Ernaux hat sich aus der sozialen Unterschicht ins Kleinbürgertum hochgekämpft, sie ist Lehrerin geworden und hat, wie es in diesem Milieu üblich ist, eine Familie gegründet. Die Träume aus der Kindheit und Jugend, der Traum vom Schreiben, von einem freien und unabhängigen Leben, sind verblasst, der Alltag mit Kindern, Mann und Haus ist zum gewählten Leben geworden. Manchmal blitzen die alten Träume auf, doch der Gedanke, das jetzige Leben zu verlieren, ist zu schmerzhaft, sie hat sich eingerichtet.

«Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird.»

Als die Ehe zerbricht, kommt eine neue Dynamik in ihr Leben. Die neugewonnene Freiheit wirkt sich auf allen Ebenen aus, eröffnet neue Möglichkeiten. Fast fühlt sie sich, als wäre das Leben dazwischen nur ein Intermezzo gewesen, nach welchem sie nun nahtlos an die Jugendzeit anknüpft. Nun reift auch der Wunsch, endlich das Buch zu schreiben, das sie schon so lange in sich trägt. Annie Ernaux will erzählen, von all dem, was war, von sich, von der Zeit.

«Es gab keine unsagbar schöne Welt, die wundersamerweise durch eine inspirierte Sprache zum Vorschein kommen würde, sie hatte nur ihre eigene Sprache zur Verfügung, die Sprache aller, sie war da einzige Werkzeug, mit dem sie sich gegen das, was sie empörte, auflehnen konnte. Das zu schreibende Buch würde ihr Beitrag zur Revolte.»

Über viele Jahre hat Annie Ernaux Notizen angehäuft, Tagebucheinträge und Fotos gesammelt. Sie sucht nach der richtigen Form für ihr Buch, sie sucht nach der passenden Sprache, um ihr Leben zu erzählen und wie dieses in die Zeit gebettet war. Sie verbindet persönliche Erfahrungen mit politischem Zeitgeschehen, zeichnet ein Bild der sozialen Schichten und den jeweiligen Gebräuchen in denselben. Sie webt aus den verschiedenen Fäden einen Teppich ihres Lebens und der Zeitspanne, die dieses überdauerte.

Fazit
Ein persönliches Buch über das eigene Leben und wie es in die Zeit gestellt ist. Sehr empfehlenswert!

Vigdis Hjorth: Die Wahrheiten meiner Mutter

Inhalt

„Ich schäme mich, weil ich Mutter angerufen hatte. Es war gegen die Regeln, aber ich hatte es trotzdem getan. Ich hatte gegen ein Verbot, das ich mir selbst auferlegt hatte, und gegen ein Verbot, das mir auferlegt worden war, verstossen.“

Die Künstlerin Johanna verlässt den frischgebackenen, angemessen Ehemann und die gutbürgerliche Familie, um in Amerika mit ihrer grossen Liebe, einem Künstler, ein neues Leben aufzubauen. Nach 30 Jahren ohne Kontakt zu ihrer Familie kehrt sie wegen einer Ausstellung ihrer Bilder in ihre Heimat zurück und möchte die Vergangenheit mit ihrer Mutter aufarbeiten. Sie ruft an, doch Mutter drückt sie weg. Sie verweigert den Kontakt. Ein Versteckspiel beginnt.

Ein Roman aus der Tiefe des Ichs einer verletzten Tochter, die von vielen offenen Fragen geplagt wird und nach Antworten sucht. Eine Erzählung aus der Sicht einer Tochter, die sich in inneren Monologen klarzuwerden versucht, wer diese Mutter wirklich war und heute noch ist. Ein Roman ums Mutter- und Tochtersein, um Schuld und Verpflichtung, um Familie und Eigenständigkeit. Packend, einnehmend, grossartig.

Gedanken zum Buch

«Ich fahre schweissnass aus dem Schlaf hoch und begreife, dass unsere frühere Beziehung in mir überlebt hat, dass die Abhängigkeit, in der ich einmal zu ihr stand und die ich gleichzeitig geliebt und verabscheut habe, in mir lebt.»

Beziehungen, gerade solche, die schwierig waren, würden wir oft gerne hinter uns lassen. Wir möchten das Schwere vergessen, die Vergangenheit abhaken, nach vorne schauen, unbeschwert. Meist ist das nicht so leicht, schon gar nicht, wenn es sich bei der Beziehung um die zur eigenen Mutter handelt. Sie hängt einem nach, meist ein Leben lang, egal, ob man real Kontakt zu ihr hat oder nicht, egal, ob man die Beziehung als störend, verstörend gar, vielleicht auch verletzend empfand. Sie ist und wird es immer bleiben: Die Mutter. Schon in dem Wort stecken Bilder, Hoffnungen, (erfüllte und noch mehr unerfüllte) Sehnsüchte – und mit allem muss man sich irgendwie zurechtfinden.

«Mutter hat sich längst mit dem Tochterverlust abgefunden. Sie will das Beste aus ihrem Leben machen. Warum finde ich mich nicht mit dem Mutterverlust ab? Ich finde mich mit dem Mutterverlust ab, aber ich finde mich nicht damit ab, dass Mutter sich mit dem Tochterverlust abgefunden hat?»

Ist es für eine Mutter möglich, zu sagen, sie habe kein Kind mehr? Kann eine Mutter ihr Kind einfach vergessen, ihr Leben weiterführen, als hätte es dieses Kind nie gegeben? Wie geht man als Kind mit einem solchen Gedanken um? Wie fühlt es sich als Kind an, von der eigenen Mutter vergessen worden zu sein, der Mutter, die man im Gegenzug nicht aus den eigenen Gedanken bringt, egal, wie sehr man es möchte? Wünscht man sich, dass sie sich genauso quält wie man selbst? Weil man denkt, so wenigstens einen Stellenwert bei ihr zu haben, wie sie ihn bei einem selbst hat? Oder ist es eine Form der Rache? Sie soll keine Ruhe haben, weil sie mir keine lässt?

«Sie kann es nicht geschafft haben, mich so in sich zu töten, dass sie nicht mehr wissen will, wie es mir geht. Aber ich weiss, dass sie nicht ans Telefon kommen wird, ich habe es ja probiert, und trotzdem rufe ich an.»

Es ist kaum zu glauben, dass es einer Mutter gelingen sollte, das eigene Kind in sich abzutöten, indem sie es so weit verdrängt hat, dass es de facto nicht mehr existiert. Der Gedanke, von dem Menschen vergessen worden zu sein, dem die bedingungslose Liebe in die Rolle geschrieben ist, schmerzt. Die Verzweiflung, die aus dieser Verleugnung, dieser Verdrängung wächst, hat etwas Monumentales, denn sie ist nicht vorgesehen in unserem Bild vom Leben, vom Muttersein, vom Kindsein.

«…ich bin die verlorene Tochter, die heimgekehrt ist, aber niemand nimmt sie in Empfang, das ist meine Schuld.»

Die biblische Geschichte vom heimgekehrten Sohn hält dieses Bild aufrecht. Der Sohn, der ging, der alles hinter sich liess. Als er wiederkommt, wird er mit einem Fest und mit Freude empfangen. Was, wenn dieses Bild falsch ist? Wenn dieses Bild nicht auf einen selbst und die Mutterbeziehung passt? Was, wenn man die Tochter ist, die nicht mehr heimkehren kann, weil die Tür zubleibt? Wie viel gerät da ins Wanken?

«Mutter, ich erdichte dich mit Wörtern, um ein Bild von dir zu haben.»

Das Buch «Wahrheiten meiner Mutter» stellt die Mutter-Tochter-Beziehung in Frage. Es wirft Fragen auf und zeigt die innere Auseinandersetzung einer Tochter mit ihrer Mutter, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat, ihn aber wieder aufnehmen möchte. Die Vergangenheit hat offene Fragen zurückgelassen, doch die Antworten bleiben aus, weil die einzige Person, die sie geben könnte, sich verweigert. Die Mutter schweigt. Der Tochter bleibt nur, sich ihr eigenes Bild der Mutter zu zeichnen. Ob sie dabei die Wirklichkeit trifft oder nicht, bleibt offen.

Persönliches Fazit

Das Buch hat mich von der ersten Seite an gepackt und nicht mehr losgelassen. Es regte mich zum Nachdenken, zum Nachfühlen an, als ich zum Ende kam, wollte ich einerseits wissen, wie alles aufgelöst wird – glaubend, dass es kein wirkliches Ende geben konnte –, aber ich wollte es auch herauszögern, weil ich nicht aus dieser Welt auftauchen wollte, in der ich mich so tief drin fühlte. Grossartig!

Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens

Inhalt

«Das Leben ändert sich schnell
Das Leben ändert sich in einem Augenblick.
Man setzt sich zum Abendessen, und das Leben,
das man kennt, hört auf.
Die Frage des Selbstmitleids»

Joan Didions Mann stirbt bei einem Nachtessen an einem Herzinfarkt, ein Tod aus dem Nichts, den sie lange nicht fassen kann, nicht wahrhaben will. In diesem Buch erzählt sie vom Tod und seinen Hinterlassenschaften, von ihren Gefühlen, von ihrem Erleben, von all den Dingen und Begebenheiten, die sich mit und nach dem Tod eingestellt haben.

«Leid kommt, wenn es eintrifft, in nichts dem gleich, was wir erwarten.»

Sie schreibt dicht aus dem Leben, dem Denken und Fühlen entlang. Sie entlarvt ihre eigenen Gedanken und Gefühle schreibend, versucht, sie so selbst zu verstehen. Sie erklärt, wieso sie in Situationen handelte, wie sie es tat, sie hatte Gründe, die erst im Nachhinein klar wurden. Sie erkennt die Mechanismen und Ängste, die in allem stecken, sie ordnet ihre Reaktionen ein.

«Dies ist ein Fall, in dem ich mehr als Worte brauche, um den Sinn zu finden. Dies ist ein Fall, in dem ich alles brauche, was die Fassade durchdringt oder durchdringen könnte, wenigstens für mich.»

Entstanden ist ein feines, stilles, zum Nachdenken anregendes Buch, das ohne Pathos oder Selbstmitleid vom persönlichen Umgang mit dem Tod spricht. Ein Buch, das zu Herzen geht, weil es von Herzen kommt.

Gedanken zum Buch

«Leid ist anders. Leid kennt keinen Abstand. Leid kommt in Wellen, in Anfällen, in plötzlichen Befürchtungen, die die Knie weich machen und die Augen blind und den Alltag auslöschen.»

Leid lässt sich nicht planen. Es lässt sich auch nicht steuern. Leid kommt und ist dann unmittelbar da, trifft den Menschen mit ganzer Wucht, durchdringt all seine Zellen. Leid ist kein Zustand, es ist ein Aufwallen und langsames Abebben – bis zum nächsten Mal. Im Leid prägt dieses alles, was passiert, es ist überall Teil, ein bestimmender, alles übrige einfärbender.

«Natürlich wusste ich, dass John tot war… Trotzdem war ich keineswegs darauf vorbereitet, diese Nachricht als eine endgültige zu akzeptieren: Es gab eine Ebene, auf der ich glaubte, dass das, was passiert war, rückgängig gemacht werden konnte. Deshalb musste ich allein sein… Ich musste allein sein, damit er zurückkommen konnte. So begann mein Jahr des magischen Denkens.»

Joan Didion zögert, Johns Schuhe und anderen Dinge wegzugeben. Er würde sie brauchen, wenn er zurückkäme. Sie zögert mit allem, was den Tod offensichtlich, unwiderruflich macht. Die Logik des Verstands ist ausgeschaltet, die diffuse Hoffnung, jegliche Wahrscheinlichkeit entbehrend, behält die Oberhand.

«Hatte er mich nicht immer ermahnt, wenn ich mein Notizbuch vergessen hatte, dass die Möglichkeit, einen Gedanken sofort zu notieren, ausschlaggebend war für den Unterschied zwischen Schreiben-können und Nicht-schreiben-können?»

Schreiben ist für Joan Didion das, was sie ausmacht. Von Kind an steht diese Berufung fest, sie ist die Konstante das ganze Leben hindurch. Mit John Dunne hat sie einen Mann an ihrer Seite gehabt, der sein Leben ebenso dem Schreiben widmete wie sie selbst. Neben gemeinsamen Projekten gab es auch die je eigenen, bei denen der jeweils andere aber immer Anteil hatte. Das Schreiben bleibt auch nach dem Tod von John Dunne zentral. Es ist Halt, es ist Mittel, zu verdrängen, aber auch Mittel, um sich dem Verstehen anzunähern.  

«Ich war mein Leben lang Schriftstellerin. Als Schriftstellerin sogar als Kind und lange bevor das, was ich schrieb, überhaupt veröffentlicht wurde, entwickelte ich ein Gefühl dafür, dass der eigentliche Sinn bereits im Rhythmus der Worte und Sätze und Abschnitte angelegt ist; eine Technik, um genau das zu verschweigen, was sich, wie ich vermutete, hinter der immer undurchdringlicheren Fassade befand. Die Art, wie ich schreibe, ist das, was ich bin oder geworden bin.»

Fazit
Ein stilles, ruhiges, persönliches, nachdenkliches und zum mitfühlen und -denken anregendes Buch.

Franz Hohler: Das Jahr, das bis heute andauert

Ein Gespräch mit Klaus Siblewski

Inhalt

«Alles, was man selbst erlebt hat, fliesst mit ein in das, was man erzählen möchte. Ich denke, das gilt für die Literatur, das gilt aber auch für die bildende Kunst, die Musik. Schreiben schliesst alles mit ein, ob man es merkt oder nicht.»

Franz Hohler spricht mit Klaus Siblewski über seine Herkunft, seine Familie und sein Aufwachsen. Er erzählt von seinem Weg hin zum Schriftsteller, von seinen einzelnen Stationen und verschiedenen Projekten. Er lässt den Leser teilhaben an seinem Schreibprozess, an Gedanken hinter und zu seinen Büchern, bietet Einblicke in sein Leben und Schaffen. Ein sehr persönliches Buch, das sich mit den verschiedensten Themen beschäftigt, das von Hunden und Spaziergängen, von Fussball und Herkunft, von Ideen und deren Weiterentwicklung, und immer auch vom Schreiben handelt.

Gedanken zum Buch

«Jetzt mache ich ein Jahr lang Auftritte und schreibe, dann sehe ich weiter. Für dieses Jahr meldete ich mich von der Universität ab, und dieses Jahr dauert bis heute an.»

Franz Hohler studierte Germanistik und Romanistik, schrieb daneben kurze Texte, Lieder, Monologe und kleine Szenen. Ihm kam der Gedanke, diese auf die Bühne zu bringen, was ein grosser Erfolg wurde. Obwohl seine Eltern lieber gesehen hätten, wenn er zuerst das Studium abschliesst und dann ein Leben als Schriftsteller ausprobiert, entschied er sich für den anderen Weg: er wollte ein Jahr lang ausprobieren, ob er mit dem Schreiben weitere Erfolge habe, ansonsten ginge er an die Uni zurück. Mittlerweile schaut er auf einige Jahrzehnte dieses freien Schaffens zurück, entstanden sind mehrere Erzählbände, Romane und Bühnenprogramme.

«Für mich war die Welt der Phantasie von grosser Bedeutung. Dort habe ich meine Sujets gesucht, und in der Phantasie ist auch die Groteske daheim. Die Phantasie half mir vorzustellen, wie etwas sein könnte, und nicht bei dem stehen zu bleiben, wie es war.»

Wir gehen durchs Leben und sehen die Welt, wie sie sich uns darstellt. Wir erleben Situationen und nehmen sie für die Realität. Doch ist das alles? Könnte nicht vieles auch anders sein? Könnten aus der scheinbaren Realität nicht viele Möglichkeiten entstehen, wie es auch sein könnte? Was wäre, wenn sich etwas ändern würde? Was wäre, wenn man sich an einem Punkt des Lebens anders entschieden oder die Geschichte einen anderen Gang genommen hätte? Die Fantasie ist ein Türöffner in all die Welten, die hinter der eigentlichen, der sichtbaren, verborgen schlummern und nur darauf warten, entdeckt zu werden. Durch die Fantasie wird eine Vielzahl von Möglichkeiten zum Leben erweckt – realistische, surreale und groteske.

«Ich blickte jetzt auf die Welt, in der ich mich aufhielt. Ich habe immer stärker daran zu glauben begonnen, dass das, was du siehst und erlebst, wenn du aus dem Haus rausgehst, dein Gartentor öffnest und hinter dir lässt, dass dort die Welt beginnt, gleich hinter dem Gartentor oder schon im Garten. Und dass das, was du im Normalbetrieb siehst, die Welt ist, so wie sie ist, und dass es sich lohnt, diese Welt zu beschreiben.»

Aber auch die Welt selbst bietet viel für den, der die Augen offenhält. Wie oft laufen wir durch sie hindurch, sind in Gedanken vertieft und im Geist an einem anderen Ort? Wie oft verpassen wir so das Leben um uns, die kleinen Besonderheiten, die sich im Alltäglichen verbergen? All dies sieht Franz Hohler und beschreibt es in seinen Büchern. Er erzählt von Spaziergängen und davon, was er am Wegesrand sieht, er erzählt von Begegnungen, Eindrücken, Gegenständen und Menschen. Es sind keine spektakulären Berichte von herausragenden Geschehnissen, sondern die kleinen feinen Alltagsbeobachtungen, denen er seine Aufmerksamkeit widmet und dadurch die des Lesers weckt.

«Wir gehen dauernd durch Geschichten. Jeden Tag streifen wir Geschichten, erleben Geschichten, aber bemerken es nicht.»

Es sagte mal jemand, dass der, welcher seine Kindheit überlebt hätte, genug Material zum Schreiben für ein ganzes Leben hätte. Geschichten machen das Leben aus, durch Geschichten erzählen wir uns, wer wir sind und was wir erlebt haben. Geschichten gehören zum Menschsein dazu, sie dienen dem Bewusstwerden der eigenen Existenz. Von Joan Didion stammt der Ausspruch, dass wir uns Geschichten erzählen, um zu leben. Geschichten machen unser Menschsein aus, sie gehören zu unserer Existenz. O5Max Frisch führte den Gedanken fort und sagte, dass wir uns Geschichten erzählen und sie für unser Leben halten. Die Geschichten, die wir uns erzählen, sind nie die ganze Wahrheit, es sind kleine Auszüge aus einem grossen Ganzen, das wir selten wirklich überblicken. Aus dem Grund sind da immer noch viele andere Geschichten im Verborgenen, die wir ausgraben und erzählen könnten.

«Jede Seite wurde so lange geschrieben und wieder geschrieben, bis keine Korrekturen mehr nötig waren. Das mehrmalige Schreiben jeder Seite hat den Vorteil, dass ich in den Schreibfluss hineinkomme und jedes Wort persönlich kenne.»

Jeder Schriftsteller hat seinen eigenen Schreibprozess, der für ihn stimmt. Die einen machen erst genaue Skizzen, wie alles sich entwickelt, um es dann niederzuschreiben, andere schreiben darauf los, um zu sehen, wo die sich entwickelnde Geschichte sie hinführt. Franz Hohler gehört zur zweiten Sorte. Er geht von einer Idee aus und kennt am Anfang das Ende noch nicht – er lässt sich von der sich entwickelnden Geschichte selbst überraschen. Dieses Überraschende, dieses Suchen nach der in der Idee verborgenen Geschichte, macht das Schreiben spannend, so Hohler. Was auf den ersten Blick nach reinem Zufall aussieht, ist auf den zweiten Blick, wenn es um die Sprache geht, alles andere als zufällig, sondern Arbeit, eine Art Komposition mit Worten. Franz Hohler feilt an einzelnen Ausdrücken und Sätzen, bis der Lesefluss zur Geschichte passt. Er zielt auf eine innere Stimmigkeit von Wort, Satz, Melodie.

Fazit
Ein persönliches Buch über das Leben und Schreiben des Schriftstellers Franz Hohler, ein Blick hinter die Kulissen, der ein lebendiges Bild des Menschen hinter den vielen Erzählungen, Romanen und Bühnenstücken zeigt.

Joan Didion: Blaue Stunden

Inhalt

«Wären sie an diesem Tag auf der Amsterdam Avenue vorbeigekommen und hätten einen Blick auf die Hochzeitsgesellschaft geworfen, hätten sie dann gesehen, wie vollkommen unvorbereitet die Brautmutter auf das war, was passieren würde, bevor das Jahr 2003 überhaupt zu Ende ging?»

Innerhalb von zwei Jahren verliert Joan Didion ihren Mann und ihre Tochter. Ihr Mann starb an einem Herzinfarkt, ihre Tochter nach einer Reihe von Krankheiten knapp zwei Jahre später.

Joan Didion erinnert sich. Sie erzählt die Geschichte ihrer Tochter von dem Tag ihrer Adoption bis zu ihrem Tod. Sie erzählt eine Geschichte von Liebe, Tod, Abschied, Freude und Angst. Sie erzählt von ihren Zweifeln an ihrer Mutterrolle, von ihrem Erinnern, sie hinterfragt sich und das Leben. Ein persönliches Buch, ein tiefgründiges und bewegendes Buch. In einzelnen Sätzen und Textfragmenten, fast staccatoartig, entwickelt sich ein Gefühlsbild, stellt sich die Trauer um den Verlust und der Kampf ums eigene Weiterleben dar.

Gedanken zum Buch

«Die Zeit vergeht. Ja, einverstanden, eine Banalität, natürlich vergeht die Zeit. Aber wieso sage ich es dann, warum habe ich es schon mehr als einmal gesagt? …Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe?»

Die Zeit vergeht, doch was bedeutet das? Steckt in dem Vergehen ein Abschied mit drin? Ist ein Verdrängen der vergehenden Zeit ein Verdrängen eines möglichen Tods und damit die Hoffnung, dass alles immer so bleibt, wie es ist? Ist der Gedanke an eine vergehende Zeit, die einen Abschied in sich trägt, so schwer zu tragen, dass man dem Vergehen der Zeit darum positive Eigenschaften zuschreibt, wie zum Beispiel, dass das Heilen von Wunden? Und: Werden die Wunden geheilt oder trocknen sie nur langsam aus, so dass sie vordergründig nicht mehr so präsent gefühlt werden?

«Tatsache ist, dass ich diese Art Andenken nicht länger schätze. Ich möchte nicht an das erinnert werden, was zerbrach, verlorenging, vergeudet wurde.»

Es heisst, in der Erinnerung leben die Menschen, die von uns gingen, weiter. In Erinnerungen werden Momente wieder präsent und bringen die Freude zurück. Das ist die eine Seite, doch die andere gibt es auch: Erinnerungen zeigen immer auch, was nicht mehr ist. Sie bringen uns Menschen ins Gedächtnis, die wir gehen lassen mussten, machen den Schmerz dieses Abschieds wieder präsent. Und manchmal ist dieser Schmerz so gross, dass es einfacher scheint, die Erinnerung auszublenden, sie dem Vergessen anheim zu geben.

«Theoretisch dienen diese Andenken dazu, den Augenblick zurückzurufen. Tatsächlich dienen sie nur dazu, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.»

Erinnerungen können auch bewusst machen, wie blind wir durch die Zeit und durch unser Leben gehen und gegangen sind. Wie oft tun oder erleben wir etwas, sind aber in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt? Wie oft sehen wir nicht, was um uns ist, weil innerlich schon an einem anderen Ort sind? Vielleicht schmerzen die Erinnerungen am meisten, die von nicht bewusst gelebten Momenten erzählen, weil die Erinnerungen erst sichtbar machen, was wir verpasst haben. Sie zeigen uns unwiederbringliche Chancen und Möglichkeiten und haben dabei die eine Botschaft: Das ist vorbei.

«Ich werde noch nicht einmal darüber diskutieren, ob sie eine ‘gewöhnliche’ Kindheit hatte, obwohl ich mir nicht sicher bin, wer genau eigentlich eine solche hat.»

Zum Elternsein gehören wohl immer auch Zweifel. Die Gesellschaft hält uns Bilder von Familien vor, zeigt, was eine normale Familie ausmacht. Aber: Was ist normal? Was bedeutet eine schöne Kindheit, wie muss sie aussehen? Wann ist man eine gute Mutter, ein guter Vater? Wo hat man als Eltern versagt? All diese Fragen stellt sich Joan Didion und umkreist sie dann. Die Antwort bleibt offen, weil es auf diese Fragen keine Antwort gibt, die allgemeingültig und damit abschliessend ist.

«Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.»

Joan Didion schreibt in einem eigenwilligen Stil, sie pendelt durch die Zeiten, stellt Gedanken neben Erlebnisse, erzählt von Häusern und Menschen. Sie arbeitet immer wieder mit Wiederholungen, die wie ein Refrain im Text wirken, ein Zurückholen des Ausgangs einer Gedankenkette, die man gerade lesend durchlaufen hat. Der Text an sich gleicht dem spontanen Erinnerungsprozess, er reiht einzelne Erinnerungsfetzen aneinander, die sich zu einem Ganzen fügen.

Fazit
Ein persönliches und bewegendes Buch über das Erinnern, über die Liebe, den Tod und das Leben, geschrieben in einem eigenwilligen Stil, der dem Erinnerungsprozess nachempfunden ist, dem Auftauchen einzelner Fragmente und Erinnerungsfetzen.

Herta Müller: Mein Vaterland war ein Apfelkern

Inhalt

«Mein Vaterland war
ein Apfelkern man
irrte umher zwischen
Sichel und Stern»

In einem ausführlichen Gespräch mit Angelika Klammer erzählt Herta Müller von ihrem Aufwachsen in Rumänien, von ihren Fantasien und Ängsten als Kind. Sie erzählt von der Bespitzelung, von der Unterdrückung, von der Auswanderung, erzählt von Leid und dem Erbe eines solchen Aufwachsens. Und immer wieder spricht sie auch von ihrem Schreiben, vor allem dem an der „Atemschaukel“, sowie vom Kleben ihrer Collagen.

Gedanken zum Buch

„Privat anständig bleiben bedeutet öffentlich versagen.“

Im sozialistischen System Rumäniens hatte man zwei Möglichkeiten: Einerseits Gehorsam und Kooperation, dann konnte man es zu etwas bringen, andererseits aber Verweigerung und Ablehnung, dann hatte man kaum eine Chance, wurde im Gegenteil verfolgt, bespitzelt, diffamiert und ausgeschlossen – auf oft subtile Art. Herta Müller hat die Kooperation mit klaren Worten abgelehnt. Es blieb nicht ohne Konsequenzen für sie. Sie wurde verleugnet, schikaniert und verlor schlussendlich ihre Stelle. Sie nahm das im Kauf, weil alles andere nicht mit dem zusammengepasst hätte, was sie von sich als Mensch erwartete.  

„Es kann einen niemand zwingen, so zu werden, wie man erzogen worden ist, oder so zu bleiben.“

Blinder Gehorsam ist der Weg des geringsten Widerstands. Er entbehrt jeglicher Selbstverantwortung, weil man einfach in vorgespurten Mustern bleibt, ohne diese zu hinterfragen. Für Herta Müller kam das nicht in Frage. Sie sah sich in der Pflicht, ihren Werten gemäss zu handeln, was bedeutete, nicht mit einem ausbeuterischen und faschistischen Regime zusammenzuarbeiten. Dass sie sich damit keine Freunde machte, liegt auf der Hand. Allerdings sieht sie das nicht als Heldenleistung Ihrerseits, sondern als Selbstverständlichkeit und Pflicht als verantwortungsbewusster Mensch.

„Umwege, weil es die richtigen Wege beim Schreiben gar nicht gibt. Nein, ich glaub, die Umwege sind die richtigen Wege. Ich muss doch, um einen Satz zu schreiben, aus den sprachlichen Gewohnheiten der Wörter ausscheren, die Wörter finden sich aufgrund von Takt und Klan, sie werden auf unerwartete Weise genau und sagen, was ich nicht wusste, dass ich es weiss, zum ersten Mal.“

Texte fliessen nicht einfach druckreif aufs Papier, sie finden ihren Weg über die Suche nach dem richtigen Wort, nach den richtigen Zusammenhängen und dem klangvollen Zusammenspiel von Wörtern. Texte werden so förmlich komponiert, bis durch die Kombination von Wort, Takt und Klang ein Ausdruck ihrer Bedeutung entsteht.

„das Schreiben ist eine innere Notwendigkeit gegen einen inneren Widerstand. Ich schreibe immer für und gegen mich selbst.“

Es ist keine Option, nicht zu schreiben, das Schreiben sucht sich seinen Weg. Die Worte wollen zu Papier gebracht werden, und so ergreift das Schreiben Besitz vom Schreibenden und lässt ihn nicht mehr los. Es ist Kampf und Freiheit, es ist eine Notwendigkeit aus sich selbst heraus.

„das Schreiben hat mit dem Schweigen zu tun, nicht mit dem Reden. Die Sätze sagen natürlich etwas, aber das hat man mit sich selber ausgemacht, man war in der Komplizenschaft mit dem Schweigen, nicht mit dem Reden.“

Schreiben ist ein Tun, das darüber Reden bringt wenig. Um Schreiben zu können, braucht es die Ruhe, das Schweigen, denn nur in dieser Stille zeigen sich die Wörter, formen sie sich zu Sätzen, dabei Form, Rhythmus, Klang gehorchend. Wer viele Worte schreibt, steht oft im Verdacht, auch viel zu reden, das Gegenteil ist meist der Fall: Das zu Sagende braut sich im Stillen, im Schweigen zusammen, und bricht  dann als Schrift heraus, fliesst quasi komponiert zu Papier.

Ein wunderbar tiefgründiges, persönliches, informatives, intelligentes Gespräch einer mutigen und spannenden Frau und einer grossartigen, sprachgewaltigen Autorin.

Fazit
Ein persönliches, bewegendes Buch mit tiefen Einblicken in die sozialistische Welt Rumäniens, das Aufwachsen in ihr sowie das Schreiben und Kleben von Literatur. Sehr empfehlenswert.

Buchtipp – Edouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden

Inhalt

«…ich habe seit Langem das Gefühl, dass ich schon zu viel erlebt habe; vermutlich habe ich deshalb ein so grosses Bedürfnis zu schreiben, das Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien.»

Nach einer Kindheit, die von Armut, Spott und Gewalt geprägt war, zieht Edouard nach Amiens, um da das Gymnasium zu besuchen. Er kommt in neue Kreise, steigt in die bürgerliche Gesellschaft auf, fühlt sich endlich frei und zugehörig. Er lebt das Leben, das er immer haben wollte und wovon er kaum zu träumen wagte. Doch bald merkt er: Es reicht noch nicht, er will noch weiter aufsteigen, er will die Distanz zu seiner Herkunft noch mehr vergrössern, als Rache an allen, die ihn vorher verspottet haben. Mit voller Kraft und viel Ehrgeiz stürzt er sich in das Projekt, ein anderer zu werden.

Eine berührende und aufwühlende Autobiografie.

Gedanken zum Buch

«Ich musste eine Daseinsberechtigung für meinen Körper und eine Geschichte wie meine finden, mehr nicht.»

«Anleitung ein anderer zu werden» ist die Fortsetzung von «Abschied von Eddy», Edouard Louis’ erstem Roman. Hier erzählt er die Geschichte von Eddy weiter, erzählt von seinem Umzug nach Amiens, den Herausforderungen eines neuen Lebens und den Veränderungen, die dieses mit sich brachte. Er erzählt davon, wie ein Mensch, der an seinem Sein gelitten hatte, anders werden wollte, wie er sich immer wieder neu erfand, in der Hoffnung, dann endlich am Ziel und glücklich zu sein.

«Alles in mir veränderte sich, aber paradoxerweise wurdest du, je weiter ich mich von dir entfernte, umso präsenter in meinem Leben. Du wurdest zu einer negativen Präsenz.»

Leider ist das nicht so einfach mit dem Glück, man nimmt sich immer mit und damit auch die Vergangenheit, von der man sich distanzieren wollte.

«Wenn ich meinen Vater oder meine Mutter besuchte, hatten wir uns nichts mehr zu sagen, wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache, alles, was ich in dieser kurzen Zeit erlebt und durchgemacht hatte, trennte uns voneinander.»

Edouard einziger Wunsch, sein ganzes Trachten hatte nur den Inhalt, aus dem Dorf, in dem er seine Kindheit verbracht hatte, wegzukommen, weg von seinen Eltern, von den Menschen da, die ihn verspotteten und zu denen er nicht zu gehören schien. Er wollte ein anderer werden, er wollte aufsteigen. Er fand schnell Anschluss in Amiens, er trat in die bürgerliche Gesellschaft ein und passte sich mehr und mehr an. Es war weniger die örtliche Distanz als die der Klasse mit all ihren Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die ihn von seiner Herkunft trennte. Er tat alles, diese Distanz so gross wie möglich werden zu lassen.

Edouard wollte schreiben wie sein grosses Vorbild Didier Eribon. Er kopierte dessen Arbeitsweise, träumte vom grossen Erfolg, wie ihn dieser hatte.

«Ich schrieb, um zu existieren… Wenn ich es schaffe, einen Roman zu schreiben und zu veröffentlichen… werde ich vielleicht endgültig, ein für alle Mal vor der Armut gerettet sein, dann kaufe ich eine Wohnung, das wird das Erste sein, was ich tue, mir eine Wohnung kaufen, um bis an mein Lebensende abgesichert zu sein, um niemals auf der Strasse zu landen.»

Es wollte nicht gelingen. Er musste merken, dass er die Herkunft nicht losgeworden war, so sehr er sich auch gemüht hatte. Sie sass noch immer in ihm und trieb ihn an. Vor allem sass da diese Angst, die Armut könnte zurückkommen und damit all das Leid, das er von Kindheit an kannte. All das sass ihm förmlcih im Nacken – und es blieb da. Es sind diese frühkindlichen Prägungen, die sich in uns festgeschrieben haben und sich im Leben immer wieder zeigen, mal bewusst, mal unbewusst.

«Ich hatte noch nicht begriffen, dass die Differenz zwischen meinem und deinem Leben eine Folge von sozialer Ungerechtigkeit und Klassengewalt war, für mich war sie nur der Beweis, dass ich für ein schöneres, bedeutenderes Leben bestimmt war.»

«Anleitung ein anderer zu werden» handelt von Armut und davon, wie sie Menschen benachteiligt. Armut zeigt sich in allem, nicht nur in fehlenden finanziellen Möglichkeiten, sie sitzt im Körper, im Geist, in der Haltung, im Auftreten, in der Sprache. Diese Unterschiede schaffen Distanz zwischen den verschiedenen Klassen, Distanz zwischen den einzelnen Menschen. Wenn nun einer von einer Klasse in eine andere wechselt, entfernt er sich von all denen, die in seiner alten bleiben, den Menschen, die bisher sein Leben teilten. Das kann teilweise gewollt sein, ist aber doch immer auch ein Bruch – und Brüche schmerzen oft irgendwann. Dazu kommt die Frage, ob man in der neuen Klasse wirklich je ankommt, so ganz, oder ob nicht doch die alte so in einem verankert ist und an einem haften bleibt, dass man fortan zwischen den Welten lebt.

«Anleitung ein anderer zu werden» ist aber auch ein autofiktionales Buch von einem jungen Mann, der seinen Platz in der Welt sucht, der sein will, wer er ist mit allem, was ihn ausmacht. Er will sein Begehren leben, wofür er sich bislang immer schämte, und das er verbergen musste, um nicht Spott und Gewalt ausgesetzt zu sein. Er will dazugehören und nicht immer nur am Rand stehen.

«Anleitung ein anderer zu werden» ist zudem ein Buch über Bildung und den Wert, den diese hat, wenn es darum geht, das eigene Leben gestalten zu können. «Wissen ist Macht» schreibt Edouard Louis einmal und er trifft es damit auf den Punkt. Die Ungerechtigkeit, dass dieses Wissen nicht allen zugänglich ist, wiegt deswegen schwer, weil sie das Schicksal der Kinder zementiert, die nicht das Glück hatten, in einem bildungsnahen Haushalt aufzuwachsen. Eddy hat den Ausstieg geschafft, aber er sagt selbst, dass es (neben durchaus viel Aufwand und Einsatz) dank Zufällen, Glück und unterstützenden Menschen möglich war. Dieses Glück haben nicht alle.

Fazit
Ein grossartiges Buch, ein Buch, das schonungslos aufzeigt, wie grausam die Welt für Menschen sein kann, die nicht dazugehören, und wie schwer der Weg ist, das zu ändern. Ein Buch, das berührt, das ergreift, das nicht mehr loslässt – auch dann nicht, wenn es längst ausgelesen ist.