Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955 – 1963

Eine junge Frau schreibt Tagebücher. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, viele jungen Mädchen und Frauen tun es, auch einige Jungs und Männer. Es gibt Veröffentlichungen vieler Tagebücher von Schriftstellern, die Bandbreite des Inhalts reicht von Tagesbeobachtungen und Notizen zu Befindlichkeiten (man denke an Thomas Mann) über Schaffensprotokolle (derselbe),  bis hin zu hochphilosophischen Gedankengängen (Georg Lichtenberg, Hannah Arendt, Ayn Rand und viele mehr). Die Frage, ob solche Tagebücher, die eigentlich privat verfasst wurden, veröffentlicht werden sollten, kann sich moralisch stellen, wenn der Schreiber der Veröffentlichung nicht explizit zugestimmt hat, sie stellt sich aber auch im Hinblick auf den zu erwartenden Wert und Sinn für den Leser.

Beides ist für mich bei den vorliegenden Tagebüchern sehr in Frage gestellt. Als Leser wird man über Seiten mit spätpubertär anmutenden Liebesphantasien und -eskapaden einer jungen Frau überflutet. Jeder Mann ist ein potenzieller Liebhaber, entpuppt sich mehrheitlich als sehr angetaner Verehrer, und das schwache Weib kann nicht widerstehen, gibt sich hin, prahlt im Tagebuch einerseits mit ihrer Wirkung und kokettiert mit gespielter (für wen eigentlich) Selbstkritik. Dass dann und wann ein paar tiefgründige Gedanken einfliessen, wiegt die Sache leider bei Weitem nicht auf.

Diese endlosen Liebeleien und Schwankereien zwischen Männern waren schlicht ermüdend. Es geht mir nicht um Sitte und Moral, jeder kann, wie er mag. Aber: Ich möchte das nicht lesen. Nun kann man sagen: «Kein Problem, kauf das Buch nicht.» Aber ich frage mich dann, was für eine Motivation gibt es, das zu drucken? Worauf zielt man ab? Literarischen Mehrwert wohl kaum. Auf den Voyeurismus der Menschen? Sex sells? Der neugierige Blick hinter die Schlafzimmergardinen anderer als Verkaufsmagnet, im Wissen, dass das zieht? Tut es das wirklich?

«Ich habe längst keine rechte Lust mehr, mich mit meinem Tagebuch zu beschäftigen – ist ja doch alles Schwindel. Die ganze Welt ist ein Gewebe von Lügen, man sollte sich aufhängen. Aber dazu hat man ja doch keinen Mut, so treibt es einen weiter, und manchmal bildet man sich ein, glücklich zu sein.»

Bei mir zog es nicht. Im Gegenteil. Es war das erste Buch, was ich von Brigitte Reimann las, und irgendwie habe ich gar keine grosse Lust mehr, nun eines ihrer Werke zu lesen. Brigitte Reimanns eigene fehlende Lust auf diese Tagebücher kann ich nachvollziehen, so ging es mir auch. An den Satz angehängt findet sich zwar eine der sehr seltenen tieferen Betrachtung, die den Menschen hinter all der oberflächlichen Liebelei durchscheinen lässt – leider sind diese Einsichten zu dünn gesät.

Persönliche Betrachtung
Beim Lesen der vorliegenden Tagebücher merkte ich eines: Grundsätzlich trenne ich Werk und Autor. Ich lese meist ein Buch und will dann mehr über den Autoren erfahren, wenn mich dieses begeistert hat. Wenn im Nachhinein Details über einen Autor bekannt werden, die diesen diskreditieren, tangiert das sein Bild als Mensch, nicht aber meine Begeisterung für ein Buch. Wenn sich aber eine Antipathie für einen Künstler entwickelt hat, fehlt mir die Motivation, seinen Werken Zeit zu widmen.

Wie geht euch das?

Zur Autorin und weiteren Mitwirkenden
Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

Angela Drescher, geboren 1952, ist Lektorin und gab Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“ heraus, außerdem die Tagebücher Brigitte Reimanns und die ungekürzte Neuausgabe des Romans „Franziska Linkerhand“.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Aufbau; 1. Edition (14. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 592 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3351041861

Andenken an Anne Frank

Heute würde Annelies Marie, genannt Anne, Frank 92 Jahre alt. Schreiben wollte sie, Schriftstellerin werden, doch sie ahnte schon bald, dass dies vielleicht nicht klappen könnte:

«Mit Schreiben werde ich alles los. Mein Kummer verschwindet mein Mut lebt wieder auf. Aber, und das ist die grosse Frage, werde ich jemals etwas Grosses schreiben können, werde ich jemals Journalistin und Schriftstellerin werden?»

Sie hat nur ein Buch hinterlassen, nämlich ihr Tagebuch. In diesem hält die 13 Jahre alte Anne Frank ihr Leben, Denken und Fühlen während der 25 Monate im Versteck vor den Nationalsozialisten fest. Die Familie Frank, Vater, Mutter und zwei Mädchen und noch vier Menschen versteckten sich in dieser Zeit in insgesamt vier Zimmern in einem Hinterhaus. Vor allem zu ihrem Vater hat Anne ein enges Verhältnis. Dass das Leben auf so engem Raum nicht einfach ist, es auch zu Streit kommt, liegt auf der Hand. Einmal hält Anne Frank fest:

«Ich bin ausser mir vor Wut, aber ich darf es nicht zeigen. Ich möchte mit den Füssen stampfen, schreien […]: Lasst mich doch, gönnt mir doch Ruhe! Muss ich denn jeden Abend meine Kissen nassweinen und mit brennenden Augen und zentnerschwerem Kopf einschlafen? Lasst mich, ich möchte fort von allem, am liebsten aus der Welt. Aber es nützt nichts. Sie haben ja keine Ahnung von meiner Verzweiflung!»

Und schreibt etwas später weiter:

«Wenn du meine Briefe einmal hintereinander durchlesen würdest, würdest du merken, in welchen verschiedenen Stimmungen sie geschrieben sind. Es ist dumm, dass ich hier im Hinterhaus so abhängig bin von Stimmungen. Aber ich bin es nicht allein, wir sind es alle.»

Der letzte Eintrag stammt vom 1. August 1944, drei Tage später wird das Versteck gefunden und Anne Frank wird deportiert. Sie stirbt sieben Monate später im Konzentrationslager Bergen-Belsen.

Auf dass wir nie vergessen, auf dass wir achtsam bleiben, hinsehen, den anderen in seinem Anderssein annehmen und nicht verdammen. Das muss im Kleinen anfangen und sich hoffentlich auf die Welt ausdehnen.

Ebenfalls erschienen hier: Anne Frank (*12. Juni 1929)

Rezension: Susan Sontag – Tagebücher 1964 – 1980

Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke

Gefühl mangelnder Einheit der Persönlichkeit. Meine verschiedenen Ichs – Frau, Mutter, Lehrerin, Geliebte, etc. – wie fügen sie sich zusammen?

David Rieff , der Sohn von Susan Sontag, leitet die Tagebücher mit persönlichen Worten über seine sensible, oft melancholische, nachdenkliche Mutter ein. Er verweist auf die Widersprüche in ihrem Denken, ihre Natur als lebenslang Lernende. Liest man die Tagebücher, zeigt sich eine Frau, die kein Glück in der Liebe hat, die über die gescheiterten Beziehungen nachdenkt, sich hinterfragt, die anderen hinterfragt. Die Erfüllung ihres Lebens ist ihr das Schreiben. In ihm findet sie sich, erkennt sie sich, kann sie ihr Denken strukturieren.

[…]die Tatsache, dass sie kein Glück in der Liebe erlebte, [ist] meines Erachtens genauso sehr Teil ihrer Persönlichkeit wie die tiefe Erfüllung, die sie im Schreiben fand, un die Leidenschaft, mit der sie, wenn sie gerade nicht schrieb, ihr Leben als ewig Lernende anging, als eine Art ideale Leserin bedeutender Literatur, ideale Liebhaberin bedeutender Kunst, ideale Betrachterin beziehungsweise Hörerin bedeutender Theaterstücke, Filme, Musik.

Susan Sontag ist sehr ambivalent in ihrem Denken. Einerseits sieht sie sich anderen an Intelligenz überlegen, andererseits genügt sie oft ihren eigenen Ansprüchen nicht. In ihrem Tagebuch betreibt sie nicht nur Selbstanalyse und analysiert ihre Lieben, sie schreibt über Bücher, die sie las, Filme, die sie sah, Theater, die sie besuchte. Sie macht Listen von Wörtern, um ihren Wortschatz zu erweitern, hält Ideen für neue Texte fest, lässt Gespräche, die sie geführt hat, nochmals Revue passieren.

David Rieff nennt das vorliegende Buch einen

 Roman der tatkräftigen, erfolgreichen Erwachsenen.

Er folgt chronologisch auf den Band Wiedergeboren, in welchem sich die junge Susan Sontag

ganz bewusst damit beschäftigt, sich selbst als die Person, die sie sein wollte, zu erschaffen oder vielmehr neu zu erschaffen, eine Person fernab der Welt, in der sie geboren und aufgewachsen war.

Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke ist das Zeugnis einer intelligenten, nachdenklichen, oft von sich und dem Leben enttäuschten, es aber immer wieder hinterfragenden und anpackenden Frau. Stets erfindet sie sich neu in der Überzeugung, dass man das, was man sein will, sein kann, weil man selber das Produkt der eigenen Vorstellung ist. Eine Frau, die Kunst und Kultur liebt, die Grossen verehrt, selber bedeutend sein und neben ihren Idolen stehen will, sich aber doch oft nur als ihre Schülerin glauben kann, ihnen untergeordnet. Sie schwankt zwischen dem Gefühl eigener Grösse und der Frustration, nicht gross genug zu sein, meidet Gesellschaft und fürchtet doch die Einsamkeit. Eine Frau voller Widersprüche: spannend, einnehmend, inspirierend.

Fazit:
Ein inspirierendes, tiefes, persönliches, menschliches Buch von einer grossartigen Frau und klaren Denkerin. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Susan Sontag
Susan Sontag, 1933 in New York geboren, war Schriftstellerin, Kritikerin und Regisseurin. Sie erhielt u.a. den Jerusalem Book Prize 2001, den National Book Award und den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei Hanser erschienen zuletzt Das Leiden anderer betrachten (2003), Worauf es ankommt (2005), Zur gleichen Zeit (Aufsätze und Reden, 2008), Wiedergeboren. Tagebücher 1947-1963 (2010) und Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980 (2013). Susan Sontag starb 2004 in New York. Über ihr letztes Lebensjahr berichtet ihr Sohn David Rieff in Tod einer Untröstlichen (Hanser, 2009).

Angaben zum Buch:
SontagSchreibenTaschenbuch: 560 Seiten
Verlag: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG (30. September 2013)
Übersetzung: Kathrin Razum
ISBN: 978-3446243408
Preis: EUR 27.90/ CHF 39.90
Zu kaufen in jeder Buchhandlung vor Ort oder online u.a. bei AMAZON.DE und BOOKS.CH

 

Tagebuch

Mädchenträume,
Jugendschäume,
Liebesfrust
und Überdruss.
Herzensfreud
und Zauderei,
Lebensfluss
und Hindernis,
alles findet
seinen Platz,
alles fliesst
in einen Guss.

Lebenslettern
schwarz auf weiss,
Abbild dessen,
was geschieht,
Ahnung bloss,
was wünschenswert.
Unzensiert,
da ungehört.
hemmt die Furcht,
in Stein zu hau’n.
Denn was steht,
das scheint real.