Bücherwelten: Mutter

Man soll sie lieben, achten, Respekt haben. Eine zu sein, bedeutet Liebe, Fürsorge, (Selbst-?)Aufgabe. Kaum ein Begriff, eine Rolle ist so befrachtet mit Ansprüchen, Zuschreibungen und Erwartungen wie die Mutter. Sie wird verklärt und verflucht, sie ist an allem schuld und für vieles verantwortlich. Man könnte meinen, wenn man so viel drüber weiss oder zumindest «geregelt» hat, sei alles klar und einfach, doch wie so oft in diesen Fällen fangen genau da die Probleme an: Was, wenn man diese Punkte nicht erfüllt? Was, wenn man einfach nicht fühlt, was man fühlen soll? Was, wenn diese engste aller Beziehungen einfach nicht entsteht? Oder aber irgendwann verloren geht?

Fragen über Fragen und ein Thema, über das es sicher viel nachzudenken gäbe. Die folgenden vier Bücher haben alle in einer Form mit dem Thema „Mutter“ zu tun:

Bonnie Garmus schreibt über eine Frau, der nichts ferner lag, als Mutter zu werden, die diese Rolle dann aber alleinerziehend mit Tatkraft und selbstbestimmt auf ihre persönliche Weise ausfüllt. 

Anneleen Van Offel schreibt von einem Band der Liebe, das durch Distanz zerrissen wurde, und dessen sich die Mutter nach dem Tod des Sohnes wieder versichern will.

Thommie Bayer erzählt von einem Sohn, der sich seiner Rolle im Leben der Mutter gewahr wird und in diesem Bewusstwerden auch die Mutter für sich besser kennenlernt. 

David Rieff wollte über das Sterben seiner Mutter schreiben und zeichnete stattdessen ein starkes Bild einer grossartigen Frau mit all ihren Herausforderungen, ihrer Tatkraft, ihrer Widerspenstigkeit und ihrem Mut.

Habt einen schönen Tag!

Biografien von A bis Z: A

KI ist in aller Munde, dass diese nun auch schreiben kann, ängstigt. Was wird dann aus den Schreibenden? Sind die überflüssig? Ich denke, die Frage ist falsch gestellt. Abgesehen davon, dass Schreibende natürlich, um leben zu können, gelesen werden müssen, schreiben sie auch, weil sie nicht anders können. Schreiben ist Leidenschaft, Drang, Notwendigkeit. Ebenso bei den Philosophen das Denken, das dann in einer Form auch aufs Papier fliesst. Seit ich denken kann, interessieren mich hinter den Texten immer auch die Menschen, die sich diese ausgedacht haben: Wie haben sie gelebt, wie haben sie geschrieben und wieso? Was hat ihr Denken geprägt? 

Aus diesem Grund liebe ich Biografien. Ein paar davon möchte ich hier vorstellen, ich taste mich dazu dem ABC entlang und starte heute mit A:

Wie könnte es anders sein: Hannah Arendt – Lieblingsdenkerin, spannende Persönlichkeit, interessante und vielschichtige Frau. Müsste ich eine empfehlen, wäre es die von Elisabeth Young-Bruehl, sie ist und bleibt für mich der Klassiker.

«Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit des Menschen in dem Masse abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet..» (Hannah Arendt)


Aristoteles – Einer der ersten, der wohl systematisch über alles, was auf dieser Welt vorkommt, nachdachte. Gewisse Gedanken sind noch heute bedenkenswert, zum Beispiel seine Theorie eines gerechten Staates. Flashar als ausgewiesener Experte zu Aristoteles hat hier eine grossartige Biographie geschrieben.

„Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ (Aristoteles)


Ilse Aichinger – Repräsentantin der deutschen Nachkriegsliteratur, deren Werk immer wieder die sozialen und politischen Zustände kritisierte und die Verantwortung des Menschen thematisierte.

«Schreiben kann eine Form zu schweigen sein.» (Ilse Aichinger)

Lou Andreas-Salomé – faszinierende, intelligente, vielschichtige Frau, die die Herzen der berühmtesten Männer brach.

«Glaubt mir, die Welt wird euch nichts schenken. Wenn ihr ein Leben wollt, so stehlt es.» (Lou Andreas-Salomé)

Rose Ausländer – Verfasserin wunderbarer Lyrik mit einem sehr bewegten Leben.

«Ich schreibe mich ins Nichts – es wird mich ewig aufbewahren.»

Was für Biografien zu A könnt ihr empfehlen?

Birgit Birnbacher: Wovon wir leben

Inhalt

«Ich verließ die Gegend, deren Gewicht auf meiner Brust ich erst bemerkte, als ich woanders war.”

Eine junge Frau aus einem kleinen Dorf geht in die Stadt, um Krankenschwester zu werden. Sie geht in dem Beruf auf, bis ihr ein Fehler unterläuft und sie entlassen wird.

„Ich bin gekommen, damit die Eltern sich um mich kümmern. Stattdessen haut Mama ab, und Papa ist gelb.“

Ihr Weg führt sie zurück in ihr Elternhaus, sie hofft, von ihren Eltern aufgefangen zu werden, doch dort ist alles noch schlimmer als damals, als sie wegging: Die Fabrik im Dorf existiert nicht mehr, so dass Arbeitslosigkeit herrscht, der Vater ist in einem desolaten Zustand, und die Mutter nach Sizilien ausgewandert. Statt vom Vater aufgefangen zu werden, sieht sie sich in der Rolle der Sorgenden. Sie ringt körperlich und seelisch nach Luft, der Raum scheint enger zu werden. Als sie Oskar, den Städter, kennenlernt, der sich von einem Herzinfarkt erholt, erlebt sie, wie ein Leben voller Zuversicht aussehen könnte. Sich selbst sieht sie am anderen Ende des Welterlebens: Konfrontiert mit allem, was sie hinter sich gelassen zu haben glaubte, ist sie nun gefordert, ihren Platz im Leben zu finden.

Gedanken zum Buch

“Viele Jahre habe ich mir eingeredet, dass ich gern Krankenschwester bin”

Was wir für unser Leben halten, ist oft nur die Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Wir gehen einen Weg und wollen, dass es der richtige ist. Schlussendlich glauben wir es selbst, bis etwas geschieht, dass dieses Bild ins Wanken bringt. Dies ist der jungen Ich-Erzählerin passiert. Zwar merkte sie, wie überall gespart wurde, wie der Druck im Beruf grösser, die Zeit für die Patienten immer knapper wurden, doch sie fand für alles eine Lösung, um den Beruf doch noch den eigenen Ansprüchen entsprechend ausüben zu können. Dass ihr langsam sprichwörtlich die Luft ausging, merkte sie erst, als sie nach einem Berufsfehler einen Asthmaanfall hatte und wirklich um Luft rang.

„Ich habe es für selbstverständlich gehalten, dass eine Mutter nicht klatschend und tanzend durchs Leben hüpft“

Familien sind geprägt durch Rollenbilder, die sich in den Köpfen festsetzen. Ein Kind wächst in eine Familie hinein und erachtet das, was sich da abspielt, als Normalität, an die es sich zu halten gilt. Selten wird hinterfragt, wagt es dies doch, merkt es schnell, dass es eine Grenze überschritten hat, die sorgsam aufgebaut worden war. Erst nach und nach, je älter es wird, mit den eigenen Erfahrungen, wächst zuerst eine Ahnung, die dann zur Erkenntnis der Missstände wird, die geherrscht haben, die man fraglos akzeptiert hatte.

„Wir wissen das nicht, weil wir lieber zahlen, als uns zu involvieren. Etwas haben wir, die Familie, verwechselt: Von der Konfrontation mit dem Schmerz haben wir uns freigekauft, aber das heißt nicht, dass er nicht mehr existiert.“

«Wovon wir leben» ist ein Buch über das Leben einer Familie mit all ihren Strukturen. Es ist eine Geschichte davon, wie wir oft die Augen verschliessen vor dem, was ist, weil es bequemer ist, sich damit zu arrangieren als der Wahrheit, die oft unbequem ist, in die Augen zu blicken. Es ist aber auch eine Geschichte darüber, was es heisst, eigene Wege zu gehen, zu scheitern, neue Wege suchen zu müssen.

Birgit Birnbacher erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich dem stellen muss, wovor sie fliehen wollte, auf eine ruhige, fast sachliche und doch nicht kalte Weise, die frei ist von Pathos oder Kitsch. Vergeblich sucht man Wehleidigkeit oder Selbstmitleid, es wird nicht psychologisiert oder analysiert, nur erzählt. Dieses Erzählen geschieht auf eine authentische Weise aus der Ich-Perspektive der erzählenden Protagonistin, wodurch der Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt derselben involviert wird. Entstanden ist ein Buch, das zum Denken anregt, das einen mit auf eine Reise nach dem richtigen Weg nimmt, das einen eintauchen und mitleben lässt beim Lesen.

Fazit
Eine sehr gelungene, zum Nachdenken anregende Erzählung über das Leben einer Frau, die sich ihrer Vergangenheit, ihren verinnerlichten Rollenmustern und Fluchtpunkten stellen und einen neuen Weg für ihr Leben finden muss.

Zur Autorin
Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman Wir ohne Wal (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Romane Ich an meiner Seite (2020) und Wovon wir leben (2023).

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ Paul Zsolnay Verlag; 3. Edition (20. Februar 2023)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3552073357

George Tabori (24. Mai 1914 – 23. Juli 2007)

George Tabori wird am 24. Mai 1914 in Budapest geboren. Seine Eltern ziehen ihn erst katholisch auf, bis sie ihm mit sieben Jahren erklären, dass die jüdisch sei. Weil sein Vater findet, Schreibende gäbe es bereits genug und er müsse was Anständiges lernen, beginnt Tabori in Berlin eine Hotelfachlehre, bis sich die antisemitischen Vorfälle häufen und er schliesslich 1933 Deutschland verlässt.

„Als der Reichstag brannte, war es Zeit zu verschwinden.»

Die folgenden Jahre verschlagen ihn nach Budapest, London, in die Türkei, nach Palästina und Ägypten. 1941 erhält er die britische Staatsbürgerschaft. Er arbeitet Kriegsberichterstatter, später als Journalist und Übersetzer.

„Was ich immer erzählen muss, immer sagen muss: dass ich keine Heimat habe, dass ich ein Fremder bin, und das meine ich nicht pathetisch, sondern als gute Sache. Weil ein Schriftsteller, nach meinem Geschmack, muss ein Fremder sein.“

1943 erscheint Taboris erster Roman («Beneath the stone»), weitere folgen. 1947 fliegt er auf Drängen einer Literaturagentin in die USA, wo er als Drehbuchautor engagiert wird. Aus den geplanten drei Monaten werden zwanzig Jahre. In den USA lernt er auch die ganze schreibende Zunft der Auswanderer kennen und arbeitet teilweise mit ihnen.

„Stell dir vor, du lebst in einem Haus, und jeden Sonntag kommen Büchner, Kafka, Flaubert, Mahler und so weiter zu Besuch …“

1968 reist er zum ersten Mal zurück nach Deutschland, um da ein Auschwitzstück am Theater zu inszenieren. Er tut dies nicht ohne Befürchtungen, doch es wird ein Erfolg. 1971 zieht er ganz nach Deutschland, wo er sich in diversen Städten mit verschiedenen Tätigkeiten rund ums Theater einen Namen macht.

George Tabori stirbt am 23. Juli 2007 in Berlin.

Zu seinem Werk

„Der kürzeste deutsche Witz ist Auschwitz.“

Das Thema «Auschwitz» hat George Tabori nie losgelassen. Nicht nur liessen ihn die Verfolgungen durch das Naziregime von einem Ort zum anderen reisen, so dass er sich immer als Fremder fühlen musste, er hat auch seinen Vater da verloren, welcher 1944 in Auschwitz starb.

„Sechzig Jahre später besuchte ich Auschwitz, suchte nach einem Zeichen, das er mir zurückgelassen hatte. Ohne viel Hoffnung. Die Toten waren in Rauch aufgegangen… Ich hob einen Stein auf, wo ist er, ich hielt den Stein in der Hand, versuchte, seine Gegenwart zu spüren, umsonst, ich steckte ihn in die Tasche, ein Souvenir… Mahnmale sind für die Lebenden. Die Toten kümmern sie nicht.“

George Tabori war ein Mann, dem Humor wichtig war, was sich auch in seinen Theaterstücken zeigte: Er brachte den Holocaust auf eine komische und politisch nicht korrekte Weise auf die deutschen Bühnen, er provozierte und forderte sein Publikum immer wieder heraus, weil sich dieses oft schwertat, in seine Art Humor hineinzufinden. Die Anstrengung lohnt sich!

Buchempfehlung:

Neben den Klassikern wie «Autodafé» und «Meine Kämpfe» möchte ich dieses Buch ans Herz legen: «Gefährten zur linken Hand»

Der Krieg wütet im Sommer 1943 überall, nur einen kleinen Badeort in Italien scheint er vergessen zu haben: San Fernando. Dahin zieht es den Autor Stefan Farkas, welcher aber immer am Rand bleibt, das Geschehen aus Distanz beobachtet und sich mit einer zynischen Gelassenheit über alles stellt – bis der Krieg auch hier einbricht. Fakras kommt zum Schluss:

«Es gibt Zeiten, in denen das einzig Nützliche der Tod ist.»

Honoré de Balzac (20. Mai 1799 – 18. August 1850)

Sein Leben
Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 im Süden Frankreichs geboren, zieht in seiner Jugend nach Paris, wo er die Schule beendet und ein Jurastudium beginnt. Daneben besucht er Vorlesungen in Philosophie. Zwar legt er noch die Zulassungsprüfung zum Abschluss des Studiums ab, beschliesst aber sodann, Schriftsteller zu werden. Finanziert durch den Vater zieht er in eine Dachwohnung und beginnt zu schreiben.

«Sie sind elende Wanzen, diese Kritiker.»

Nach kleineren Texten entstehen zusammen mit Auguste Lepoitevin, einem schon erfahrenen Schriftsteller, mehrere Romane, aber auch an eigenen versucht sich der entschlossene Schriftsteller. Der Erfolg lässt auf sich warten, der nächste Versuch geht in die Welt der Dramatik, was auch von mässigem Erfolg gekrönt ist. Er pendelt von Genre zu Genre, verfolgt verschiedene literarische Projekte, die ihn zwar nicht reich machen, ihm aber immerhin das Überleben sichern. Der ausbleibende Durchbruch lässt ihn in eine Depression verfallen.

«Alle Macht des Menschen besteht aus einer Mischung von Zeit und Geduld.»

Die unglückliche Ehe seiner Schwester inspiriert ihn schliesslich zur Schrift eines Ehehandbuches für noch ledige Männer, danach wagt er sich unter die Verleger, kauft eine Druckerei, doch auch das führt ihn nicht in den Erfolg, sondern in den Konkurs. Er beginnt wieder zu schreiben und endlich wird seine Ausdauer belohnt, er landet mit «Le dernier Chouan» einen Erfolg.

«Eine gute Frau ist wie ein gutes Buch: unterhaltsam, anregend, belehrend. Ich wollte, cih könnte mir eine ganze Bibliothek leisten.»

Das Leben in der Folgezeit ist bewegt, Balzac ist politisch engagiert, aktiver Journalist, viel auf Reisen, in Liebeleien zu verheirateten Frauen verstrickt, was zur Vaterschaft führt. Daneben fliessen auch Erzählungen und Romane aus seiner Feder, langsam ist er anerkannt in der Literaturszene.

«Es ist leichter, ein Liebhaber zu sein als ein Ehemann und zwar deshalb, weil es einfacher ist, gelegentlich einen Geistesblitz zu haben, als den ganzen Tag geistreich zu sein.»

Wirklich reich wird er trotzdem nicht, was ihn aber nicht hindert, sein Leben mit Pauken und Trompeten zu führen, im Prunk zu suhlen und sich nur mit dem Besten an Kleidung und Wohnungen zufrieden zu geben. Finanziell unterstützt wird er dabei tatkräftig von liebestrunkenen Frauen aus gutem Hause.

Das Leben als Lebemann, der aber doch immer fleissig arbeitete, zeigt irgendwann seine Spuren, die Gesundheit bröckelt, was er zuerst mit noch mehr Arbeit zu überdecken versucht. Es gelingt nicht und Balzac stirbt am 18. August 1850 nach einer zu strapaziösen Reise.

Sein Werk
Balzacs Werk besteht mehrheitlich aus einzelnen Texten, die zu Zyklen verbunden sind, und in denen ein ganzes Arsenal an Figuren auftritt. Sein Stil ist realistisch, auch wenn er der Zeit nach noch in die Romantik gehörte, die ihn aber durchaus beeinflusst. Balzac besticht durch seinen klaren und scharfen Blick auf die Menschen und ihre Machenschaften, er zeichnet damit ein eindrückliches Bild der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sowohl auf dem Land wie in der Stadt.

Layla AlAmmar: Das Schweigen in mir

Inhalt

«Niemand ist wirklich sprachlos, flüsterte er, entweder wird man zum Schweigen gebracht, oder man bringt sich selbst zum Schweigen.»

Tag für Tag beobachtet die junge Frau die Nachbarn hinter ihren Fenstern in ihren Wohnungen. Es ist die einzige Form, wie Beziehungen zu Menschen für sie möglich sind. Sie kriegt Einblicke in die ganzen Gewohnheiten der einzelnen Menschen, in Leben, die so fern von ihrem eigenen sind. Selbst ist sie aus dem Krieg geflüchtet, aus Syrien mit Schleppern und zu Fuss, unter traumatischen Bedingungen in England gelandet. Es hat ihr förmlich die Sprache verschlagen.

«Wenn man aufhört zu sprechen, wird man sehr gut im Zuhören.»

Dadurch, dass sie nicht mehr sprechen kann (will?) denken viele, sie höre auch nichts. Sie hört auf diese Weise all das, was eigentlich nicht für Ohren bestimmt war. Für eine Zeitung soll sie ihre Erinnerungen an den Krieg und die Flucht festhalten, damit mehr Verständnis für die Situation von Flüchtlingen geschaffen werden kann. Nur: Wie könnte man das je verstehen? Und was, wenn sie plötzlich gefordert ist, aus ihrer gewählten Isolation raus und real in Beziehung zu treten?

Gedanken zum Buch

«Es ist gar nicht so schwer herauszufinden, was Menschen wollen. Im Prinzip wollen wir alle dasselbe: Freiheit, Glück, Sicherheit.»

Ein tiefes Buch, ein aufwühlendes Buch darüber, was es heisst, alles zu verlieren und nirgends mehr zu Hause zu sein, nirgends mehr sicher zu sein, nirgends dazuzugehören. Es ist aber auch ein Buch darüber, was es mit sich bringt, in einer Gesellschaft zu leben: Wie sehr kann ich mich aus ihr herausnehmen? Wo ist es meine Pflicht, mich einzubringen? Wofür trägt der Einzelne Verantwortung, wo lädt er Schuld auf sich?

«Kann man sich denn überhaupt erholen? Wenn das Leben nichts anderes ist als sich anhäufendes, wiederholtes Trauma – durstig, hungrig, kalt, arm, schwach, heiß, krank, geschlagen, verletzt, gebrochene Knochen, Blut, Blut, Blut –, kann man sich davon jemals erholen?»

Layla AlAmmar beschreibt aus der Ich-Perspektive das Leben, Denken und Fühlen einer vom Krieg und der Flucht traumatisierten Frau, die keinen anderen Weg sieht, als sich ins Schweigen zurückzuziehen, in die Isolation zu gehen, weil sie das Vertrauen in das Leben und die Menschen verloren hat. Wo gibt es noch Sicherheit, wenn Menschen einander so grausame Dinge antun können, wie sie sie erleben musste? Was ist Heimat noch, wenn man aus der eigenen fliehen musste, weil es da kein mögliches Weiterleben mehr gab?

«Ich will von diesem Land keine Almosen. Geflüchtete kommen nicht, um sich zu nehmen, was euch gehört. Wir wollen arbeiten, wir wollen zur Schule gehen, wir wollen vollständige und aktive Mitglieder der Gesellschaft werden. Wir sind keine Blutsauger oder Parasiten oder Ungeziefer. Wir brauchen nur ein wenig Hilfe. Das ist alles.»

«Das Schweigen in mir» ist ein Buch, das zeigt, was es heisst, Flüchtling zu sein, was es heisst, mit den Vorurteilen und Verurteilungen von den Menschen am Zufluchtsort umgehen zu müssen. Es ruft auf für mehr Verständnis, für mehr Mitgefühl, plädiert aber vor allem auch für eine andere Haltung von Menschen anderen Menschen gegenüber.

«Wichtig wäre, die Hintergründe kennen zu wollen, verstehen zu wollen, was im anderen vorgeht.»

Im Wissen, dass wir alle Menschen unter Menschen sind, in eine Welt geworfen, die wir uns nicht ausgesucht haben, mit der wir aber umgehen müssen als gleichwertige Mitglieder derselben, hilft es, die eigene Perspektive auch mal zu verlassen und sich mit Interesse anderen Standpunkten und Lebenshintergründen zu öffnen. Nur so ist in ein friedliches Miteinander möglich, ist es möglich, die Welt zu einem Zuhause für alle zu machen.

Fazit
Ein tiefes, bewegendes und zum Nachdenken anregendes Buch über das Leben als Flüchtling, das zu mehr Verständnis füreinander und Miteinander aufruft. Sehr empfehlenswert.

Zur Autorin und zur Übersetzerin
Layla AlAmmar wuchs in Kuwait auf und studierte Kreatives Schreiben an der Universität Edinburgh. Sie hat in The Evening Standard, Quail Bell Magazine, The Red Letters St. Andrews Prose Journal und im Aesthetica Magazine veröffentlicht, wo sie Finalistin für den Creative Writing Award 2014 war. Im Jahr 2018 war sie als British Council International Writer in Residence beim Small Wonder Short Story Festival tätig. Derzeit lebt sie in Großbritannien, wo sie über arabische Frauenliteratur promoviert. Das Schweigen in mir ist ihr zweiter Roman.

Yasemin Dinçer studierte Literaturübersetzung in Düsseldorf. Sie hat unter anderem Werke von Oyinkan Braithwaite, Leila Mottley, Paula McLain und Shirley Hazzard aus dem Englischen übertragen und war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds. Heute lebt und arbeitet sie in Berlin.

Angaben zum Buch:

  • Herausgeber ‏ : ‎ GOYA (16. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 224 Seiten
  • Übersetzung‏ : ‎ Yasemin Dinçer
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3833744242

Gepsräche mit Max Frisch: Der unerkannte Geliebte

«Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält…» (Tagebuch 1, 27)

Jemanden zu sehr zu kennen, bedeutet danach, dass das Lebendige einer Art Starre weicht. Wenn ich denke, jemanden durch und durch zu kennen, dann weiss ich, wie er ist, was er tut, ich muss nicht mehr hinschauen, mich nicht mehr interessieren, es steht alles fest.

«Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben, solang wir sie lieben.» (Tagebuch 1, 27)

Die Liebe führt dazu, immer weiterzugehen, tiefer zu tauchen, den anderen in seinem Sein zu durchschauen. Nur wird das nie gelingen, weil alles, was die Natur hervorbringt, unerschöpflich ist, schrankenlos, wie es Max Frisch ausdrückt «alles Möglichen voll».

Vielleicht ist es aber auch so, dass wir den kennen, den wir nicht lieben, weil wir nur soviel erkennen wollen, wie sich uns darbietet. Wir haben gar nicht den Wunsch, tiefer zu tauchen, immer mehr zu kennen. Wir sind weniger forsch forschend, eher zurückhaltend erkennend und annehmend. Die kleinen Eigenheiten, die tiefen Geheimnisse, sie offenbaren sich erst in der Nähe, deren grösste die Liebe darstellt.

Anneleen Van Offel: Hier ist alles sicher

Inhalt

«Dieser Tote ist nicht mein Sohn, das ist ein Mann, den ich nicht kenne… Es gelingt mir nicht, meinen Sohn zu sehen, in dem Toten auf dem Krankenhausbett meinen Sohn zu sehen.»

Als Immanuel seine Mutter Lydia nach 10 Jahren Funkstille bittet, nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat.

Gedanken zum Buch

«Der Tod kommt von innen, er ist immer schon da, er wächst, bis er grösser ist als das, was der Körper ertragen kann.»

«Hier ist alles sicher» ist eine Geschichte über die verschiedenen Leben, die man leben kann, es ist eine Geschichte über die Liebe, über Verlust, Schuld, Reue und den Tod. Es geht darum, was Familie ist und was Heimat bedeutet. Es ist die Geschichte einer Suche nach der eigenen Geschichte, danach, wer man ist und was davon bleibt, wenn vieles nicht mehr ist.

«Mit jedem Mal, dass ich das ausspreche, wird es endgültiger.»

Es ist die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Zuerst durch Distanz, dann durch den Tod. Diesen endgültigen Abschied zu verstehen, zu realisieren, ist schwer. Ihn in Worte zu fassen, ist noch schwerer, da die Sprache den Dingen eine endgültige Realität zu verleihen scheint. Wenn es ausgesprochen ist, kann es nicht mehr ignoriert werden, dann ist es wirklich.

«Solange es Reue gibt, bin ich schuldig, und solange ich mich schuldig fühle, bin ich unschuldig, weil ich dann nicht zulasse, dass es in Vergessenheit gerät.»

Wer trägt die Verantwortung für das eigene Leben und wer die für das Leben anderer, allen voran das Leben von Kindern? Hat das eigene Tun dazu beigetragen, dass ein Unglück geschah? Hätte man es verhindern können? Wäre Lydia imstand gewesen, den Selbstmord von Immanuel aufzuhalten, wenn sie früher nach Israel gegangen wäre? Wo ist dessen Vater, der vor 10 Jahren das Kind mit sich nach Israel nahm, raus aus Belgien und dem damals gemeinsamen Zuhause? Wer hat Schuld an dem, was passiert ist?

All diese Fragen treiben Lydia um, als sie durch Israel fährt, auf den Spuren von Immanuels Leben ohne sie. Sie will ihm nah sein, will die Landkarte seines Lebensweges nachfahren, in der Hoffnung, mehr über ihn zu erfahren. Es wird ihr nicht wirklich gelingen, die Fragen bleiben präsent, sie nimmt sie mit auf ihrem Weg.

Anneleen van Offel beginnt ihre Erzählung damit, dass Lydia am Totenbett des Sohnes sitzt. Sie blickt auf ihr Kind und reist in Gedanken zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Erinnerungen vermischen sich mit aktuellen Gefühlen, ein Riss bricht auf, der durch die Welt geht und sich über das ganze Buch erstrecken wird als Leitmotiv. Es entsteht beim Lesen eine Atmosphäre, die fast körperlich wirkt, einen Kloss im Hals und eine Schwere auslöst. Das Buch betrübt, bewegt, bestürzt, es überfordert mit dieser Unmittelbarkeit des Schmerzes.

Im zweiten Kapitel kommt es zu mehr Distanz, die Suche nach dem verpassten Leben des Sohnes beginnt und das Buch nimmt Fahrt auf. Sprachlich poetisch und philosophisch tiefgründig zieht einen diese Geschichte in den Bann, kann diesen Sog aber leider nicht durchhalten. Das Geschehen, die inneren Monologe, die Erinnerungen – sie alle werden zeitweise träge und langwierig. Trotzdem kann man von einem sehr lesenswerten und gelungenen Debüt sprechen.

Fazit
Eine Geschichte über Liebe, Schuld, Familie, Verlust und Tod – emotional bewegend, philosophisch tiefgründig und sprachlich poetisch.

Autorin und Übersetzerin
Anneleen Van Offel, 1991 in Antwerpen geboren, studierte Wortkunst am dortigen Königlichen Konservatorium. Sie hat Kolumnen für die flämische Zeitung „De Standaard“ und Kurzgeschichten und Gedichte für verschiedene Literaturzeitschriften geschrieben. Sie arbeitet als Redakteurin für die Zeitschrift „Deus Ex Machina“. Außerdem ist Anneleen Van Offel Programmgestalterin verschiedener literarischer Veranstaltungen. Von 2019 bis 2021 war sie Stadtschreiberin von Kortrijk. Für ihr Debüt „Hier ist alles sicher“ reiste sie immer wieder nach Israel, sprach mit zahlreichen Israelis, israelischen (Ex-)Soldaten und deren Familien. Der Roman wurde in Belgien und den Niederlanden von der Presse gefeiert und für seinen einfühlsamen Stil gelobt. anneleenvanoffel.be | @anneleenvanoffel

Christiane Burkhardt studierte Italienische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Kunstgeschichte und war anschließend zunächst im Lektorat tätig. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen in München und unterrichtet neben ihrer eigenen Tätigkeit literarisches Übersetzen

Angaben zum Buch

  • ·  Herausgeber ‏ : ‎ Freies Geistesleben; 1. Edition (15. März 2023)
  • ·  Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • ·  Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 266 Seiten
  • ·  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3772530319
  • ·  Originaltitel ‏ : ‎ Hier is alles veilig
  • ·  Übersetzung‏ : ‎ Christiane Burkhardt

Martin Suter: Melody

Inhalt

«Das erste Geheimnis über mich, das ich ihnen verraten muss: Ich bin kein sehr ordentlicher Mensch… Das zweite Geheimnis über mich: Ich bin kein uneitler Mensch. Ich habe mein ganzes Leben versucht, der Welt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln. Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren.»

Tom, ein junger Jurist, wird vom Altnationalrat Dr. Stotz, seine Lebenserwartung beträgt noch ein Jahr, beauftragt, seine noch vorhandenen Dokumente zu ordnen und durch gezielte Selektion nur das zu bewahren, das dem Bild entspricht, das Dr. Stotz hinterlassen möchte.

„Das dritte Geheimnis ist für sie bereits keines mehr: ich bin ein geschwätziger alter Mann.“

In der gemeinsamen Zeit erzählt Dr. Stotz Tom von seiner grossen Liebe Melody, die eines Tages, kurz vor der Hochzeit, einfach verschwunden ist, ihn aber ein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Nach Stotz’ Tod macht sich Tom mit Laura, der Grossnichte von Dr. Stotz auf der Suche nach der Wahrheit um die Geschichte mit Melody. Was ist wirklich passiert damals?

Gedanken zum Buch

„Sind Geschichten nicht immer erfunden? Spielt es eine Rolle, ob sie Wahrheit oder Fiktion sind?“

Ein sterbenskranker Mann schaut auf sein Leben zurück und auf das, was dieses Leben massgeblich geprägt hat neben seinem Erfolg: Seine Liebe zu Melody, der Frau, die er heiraten wollte und die eines Morgens einfach weg war. Er erzählt die Geschichte des Kennenlernens, die Schwierigkeiten, die sich durch ihren islamischen Hintergrund ergaben, und die seiner lebenslangen Suche nach Melody. Es ist eine traurige Geschichte, die dem alten Mann sichtlich nah geht. Ein gelebtes Leben. Ein erzähltes Leben. Was ist Wahrheit, was Fiktion? Wo hört das eine an und fängt das andere an?

„Wo die Unwahrheit es sich bequem gemacht hat, bringt Wahrheit nur Unruhe.“

Und auch eines, das die Frage hinterlässt, ob eine Unwahrheit nicht auch besser sein kann in gewissen Fällen, als die Wahrheit zu kennen.

Das Buch lebt von seinen authentischen Figuren, von der klaren, fliessenden Sprache, von der leichten Stimmung, die durch die Zeilen weht und beim Lesen ein gutes Gefühl hinterlässt. Und dies, obwohl Krankheit, Alter und Tod ein sehr zentrales Thema sind. Martin Suter gelingt es, trotz der Präsenz des angekündigten und eintretenden Todes, die Erzählung nie schwer oder bedrückend werden zu lassen.

Es gelingt Martin Suter ebenfalls, von Anfang an eine Spannung aufzubauen, die bis am Schluss nicht aufhört. Es stehen Fragen im Raum, deren Antworten man kennen will. Der Leser wird von seiner Neugier von Seite zu Seite geleitet und lässt das Buch nicht eher ruhen, bis er die Wahrheit kennt – wenn es sie denn gibt.

Fazit
Ein wunderbar leichtes, flüssig geschriebenes Buch mit stimmigen Charakteren und einem guten Mass an Spannung, die einen nicht loslässt bis zum Schluss.

Zum Autor
Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren. Seine Romane und ›Business-Class‹-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sechs Bände vor. 2022 feierte der Kinofilm von André Schäfer ›Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit‹ am Locarno Film Festival Premiere. Seit einigen Jahren betreibt der Autor die Website martin-suter.com. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Diogenes; 2. Edition (22. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 336 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3257072341

Joy Williams: Stories

Inhalt

«Das bringt uns zu der Frage: Was ist der Mensch?, mit ihren drei Untergliederungen: Was kann er wissen? Was soll er tun? Was darf er hoffen?»

Diese Worte Kants legt Joy Williams einem Automechaniker in den Mund, dessen Aufgabe es ist, einem Paar mitzuteilen, dass ihr ganzer Stolz so verrostet ist, dass eine Reparatur nicht mehr lohnt. Er ist eine Nebenfigur in den insgesamt 13 Kurzgeschichten, die alle mitten aus dem Leben gegriffen sind. Sie handeln unter anderem von einem Priester, dessen Frau im Krankenhaus liegt, von einer sterbenskranken Frau, die eine Freundin besucht, Frauen, die nur ein Umstand verbindet: Ihre Kinder haben Menschen umgebracht. Wir leben lesend ein Stück mit ihnen, tauchen in ihre Gedankenwelten ein, und gehen wieder weiter.

Obwohl die Geschichten in sich geschlossen und immer von anderen Menschen handeln, zeichnen sie in ihrer Gesamtheit ein Bild, das Bild der (amerikanischen) Gesellschaft der mehrheitlich kleinen Leute, die vom Leben herausgefordert ihren Platz suchen und sich darin einrichten.

Gedanken zum Buch

«Er hat stets richtig gehandelt, aber es hat nie zu etwas geführt.»

Es sind die alltäglichen Fragen, welche in diesen Geschichten behandelt werden: Was ist richtig, was falsch? Wie verhalte ich mich in dieser Gesellschaft, damit ich dazugehöre, wie, wenn ich weiss, dass ich eigentlich nur geduldet, nicht erwünscht bin? Es werden Ausschnitte von Lebensentwürfen dargestellt, welche doch über sich hinausweisen, da sie Teil eines Ganzen sind. Was vorher war, klingt in ihnen an, doch wohin es führen wird, bleibt offen.

«Sie war gross und ungepflegt und sah aus wie der Inbegriff eines Menschen, der seit Kurzem nicht mehr geliebt wird.»

Joy Williams gelingt es, ihre Figuren mit wenigen Worten plastisch werden zu lassen. Durch ihre Gedanken, ihre Sprache, ihr Auftreten werden sie zu Menschen, die wir uns vorstellen können. Es entstehen Bilder im Kopf, die über die Menschen hinauswachsen, zu Typen werden, die Erfahrungen in sich tragen und lebendig werden lassen – auch eigene, die beim Lesen mitgedacht werden.

«Wenn man stirbt, kann man alles tun, was man will?…Das wusste ich nicht. Ist ja mal was Neues. Es hat also auch seine guten Seiten.»

Es sind selten erbauliche Themen, sie reichen von Krankheit über Tod gar hin zu Mord, es sind Themen von Menschen, die Leid erlebt haben, die vom Leben herausgefordert sind. Trotzdem fehlt jegliche Form von Befindlichkeit, von Melancholie, von psychologischer Beurteilung. Die Geschichten werden sachlich, bildhaft und sprachlich klar erzählt, aufgelockert durch einige Prisen Humor.

«Im Grossen und Ganzen glaubten sie, dass die Toten in der Nähe blieben und alle Erfordernisse des Daseins auf Erden erfüllten, nur befreit von der Banalität täglichen Leidens.»

Aus diesen Geschichten tropft das ganz normale Leben von normalen Menschen, die mit ihrem Alltag ein Auskommen suchen und ihn doch immer ein bisschen zu verpassen scheinen. Es sind Sozialstudien ohne wissenschaftlichen Anspruch, es sind kleine Spiegel der Gesellschaft ohne moralinsauren Zeigefinger, es sind Finger in Wunden und Blicke in Abgründe ohne belastende Schwere. Es sind kleine Auszeiten aus dem eigenen Alltag mit den eigenen Ansprüchen, die zeigen, was es noch gäbe an Lebensmodellen und wie man damit umgehen könnte – oder vielleicht auch besser nicht.

Fazit
Unterhaltsame, dennoch tiefgründige – manchmal auch abgrundtiefe – Einblicke in die Gesellschaft des amerikanischen Kleinbürgertums.

Zur Autorin und Übersetzerin
Joy Williams, geboren 1944, wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet. Sie hat zwölf Bücher geschrieben, darunter Romane, Kurzgeschichten, Essays, einen Reiseführer. Sie zählt seit langem zu den nachdrücklichen ökologischen Stimmen in den USA und lebt in Tucson, Arizona und Laramie, Wyoming.

Brigitte Jakobeit lebt in Hamburg. Sie übersetzt u. a. William Trevor und Patti Smith und wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Melanie Walz gilt als eine der herausragenden Literaturübersetzerinnen. Sie wurde mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium und mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

(Joy Williams: Stories, dtv Verlagsgesellschaft, 2. Auflage, 2023)

Lesemonat April

Wieder ist ein Monat vorbei, es war lesetechnisch ein grossartiger, bereichernder, beglückender. Dass ich ihn in Spanien verbrachte, liess die Sonne nicht nur aus Büchern, sondern auch vom Himmel scheinen, was ich sehr genoss.

Ich bin diesen Monat intensiv mit Max Frisch beschäftigt gewesen, habe einige Dokumentationen und Interviews geschaut und auch zwei Biografien gelesen. Dazu fand ich auf Youtube noch eine grossartige Inszenierung von Max Frischs «Andorra», die ich euch nur ans Herz legen kann.

Müsste ich meine Lesehighlights nennen, wären natürlich alle Bücher von und zu Max Frisch dabei, ich beschränke mich auf eines und so wären es dann die vier:

Ich tauchte mit Judith Hermann in ihr Schreiben und Leben ein, wir pendelten zwischen Traum und Wirklichkeit und waren uns nie ganz im Klaren, was nun wozu gehörte. 

Ich las bei Claire Keegan vom Leben eines Mädchens in einem Umfeld, in dem es an Liebe und eigentlich auch allem anderen fehlt, und das in einem neuen Umfeld erst lernen muss, dass es Liebe, Vertrauen und Zuwendung gibt und es diese auch geniessen darf. 

Ich lebte bei Martin Suter mit Tom und Dr. Stotz in dessen Villa und saugte die Geschichten über Melody, die verschollene Liebe von Dr. Stotz auf. Immer schwebte die Frage über uns allen: Was geschah mit Melody?

Ich pendelte mit Max Frisch zwischen Technik und Liebe hin und her, reiste mit Homo Faber nach Südamerika und Italien, um schliesslich in Griechenland zu landen, wo ein Kreis sich schloss. 

Ich beschäftigte mit Themen Schreiben, Wahrheit und Illusion, Identität und Zuschreibung, Schuld, Liebe und vielen mehr. Und ich freue mich auf einen neuen Lesemonat. 

Was waren eure Lesehighlights im April?

Hier die vollständige Liste:

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagtEine Geschichte vom Schreiben und vom Leben und von der Verwebung von beidem. Eine Geschichte, die zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt, nie ganz klar offenbarend, was wozu gehört. Eine Geschichte, die eigentlich keine ist, sondern ein Schreibfluss der Erinnerungen und der versuchten Einordnung derselben. Wir hätten uns alles gesagt – und irgendwie doch alles verschwiegen. 4
Claire Keegan: Das dritte LichtEin kleines Mädchen wird bei Verwandten abgeladen, weil die Mutter wieder schwanger und so ein Maul weniger zu stopfen ist. Plötzlich findet sich das Kind in einer Umgebung voller Liebe und Leichtigkeit, kann sich kaum drauf einlassen, weil klar ist: Irgendwann muss sie zurück. Ein Buch voller Wärme und Poesie. 5
Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine BiografieEin sehr literarisches, informatives, persönliches Porträt eines Schriftstellers und Menschen mit kurzen Analysen der wichtigsten Werken.5
Daniel Glattauer: Die spürst du nichtEine Sozialstudie in Romanform, bei der ein Flüchtlingsmädchen im Ferienpool reicher Leute ertrinkt, was von den Medien und in den Kommentarspalten derselben ausgeschlachtet wird. Angereichert wird alles mit ein paar Klischees und einem Erzähler, der sich immer wieder quasi an den Leser wendet und sich mit diesem verbündet. Nicht uninteressant, aber teilweise zu gewollt. 4
Anneleen van Offel: Hier ist alles sicherAls Immanuel seine Mutter Lydia bittet, nach 10 Jahren Funkstille nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat. Nach einem fast körperlich schmerzhaften, niederdrückenden Anfang sprachlich und inhaltlich gut und einnehmend, doch dann liess es langsam los und hat mich verloren.  3
Joy Williams: Stories13 Kurzgeschichten aus dem amerikanischen Alltag des Kleinbürgertums. Sozialstudien, welche die Herausforderungen desselben offenlegen, ohne dabei zu psychologisieren oder zu plakativ darstellend zu werden. Mit viel Charme, Sprachkunst und einer guten Prise Humor gewürzt. Mich hat es doch nicht durchgehend gepackt, es wirkte oft zu beliebig und planlos. 3
Martin Suter: MelodyTom, ein junger Jurist, wird vom Altnationalrat Dr. Stotz, seine Lebenserwartung beträgt noch ein Jahr, beauftragt, seine noch vorhandenen Dokumente zu ordnen und durch gezielte Selektion nur das zu bewahren, das dem Bild entspricht, das Dr. Stotz hinterlassen möchte. In der gemeinsamen Zeit erzählt Dr. Stotz Tom von seiner grossen Liebe Melody, die eines Tages, kurz vor der Hochzeit, einfach verschwunden ist, ihn aber ein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Nach Stotz’ Tod macht sich Tom mit Laura, der Grossnichte von Dr. Stotz auf der Suche nach der Wahrheit um die Geschichte mit Melody. Was ist wirklich passiert damals?5
Urs Bircher: Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911 – 1981Eine sehr umfassende, objektive Biografie, die das Leben und Schreiben Max Frischs in die politische Zeit der Schweiz und die kulturellen Gegebenheiten einbettet. Ohne Verklärung aber mit der nötigen Zugewandtheit zeichnet Urs Bircher das Bild dieses streitbaren, tiefgründigen, selbstreflexiven, neugierigen, dem Schreiben mit Akribie und Sprachgenauigkeit verfallenen Menschen. Er stützt sich dabei auf das Werk und auf Gespräche mit noch lebenden Weggenossen Frischs. Vermutlich für Schweizer Leser interessanter als für andere. 4
Max Frisch: AndorraEin Lehrer rettet Andri, vorgeblich einen jüdischen Jungen, von den Schwarzen jenseits der Grenze und zieht ihn als seinen Sohn auf. Andri wird von den Andorranern diskriminiert und mit Klischeevorstellungen überhäuft, die er schliesslich selbst glaubt – obwohl er eigentlich kein Jude ist, sondern der leibliche Sohn des Lehrers und einer Frau aus dem Land der Schwarzen. Als diese zu Besuch kommt, will der Lehrer Andri die Wahrheit sagen, doch dieser glaubt ihm nicht, dass er sein Sohn ist, zu sehr haben die Zuschreibungen sein Selbstbild geprägt. Schliesslich dringen die Schwarzen in Andorra ein, nehmen Andri mit und töten ihn. Ein Stück über Macht, Rassismus, Vorurteile und Identität. 5
Max Frisch: Homo FaberEin Techniker lernt auf einer Schiffsreise eine junge Frau, Sabeth, kennen. Die beiden reisen zusammen nach Rom, später nach Athen zu ihrer Mutter, Hanna, die Fabers frühere Freundin war. Dass Sabeth seine Tochter sein könnte, will er nicht sehen. Doch dann geschieht ein Unglück. Ein grossartiger Roman über das Leben, über Lebensentwürfe, über Schuld und Liebe.5
Layla AlAmmar: Das Schweigen in mirTag für Tag beobachtet die junge Frau die Nachbarn hinter ihren Fenstern in ihren Wohnungen. Es ist die einzige Form, wie Beziehungen zu Menschen für sie möglich sind. Sie kriegt Einblicke in die ganzen Gewohnheiten der einzelnen Menschen, in Leben, die so fern von ihrem eigenen sind. Selbst ist sie aus dem Krieg geflüchtet, aus Syrien mit Schleppern und zu Fuss, unter traumatischen Bedingungen in England gelandet. Es hat ihr förmlich die Sprache verschlagen. Für eine Zeitung soll sie ihre Erinnerungen an den Krieg und die Flucht festhalten, damit mehr Verständnis für die Situation von Flüchtlingen geschaffen werden kann. Nur: Wie könnte man das je verstehen?   4

Hier noch der Link zum Youtube-Video:

https://www.youtube.com/watch?v=gxjjz1U7sgU

Karl Kraus (*28. April 1874)

Am 28. April 1874 kommt Karl Kraus als Sohn eines jüdischen Papierfabrikanten und dessen Frau in Jicin, Böhmen zur Welt. 1877 zieht die Familie Kraus nach Wien, wo Karl Kraus 1892 sein Studium der Rechtswissenschaft beginnt. Karl Kraus schreibt neben dem Studium Artikel und Rezensionen, welche er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Versuche, im Theater Fuss zu fassen sind nicht von Erfolg gekrönt, weitere Projekte wie eine geplante Satirezeitschrift verlaufen im Sande.

1896 hängt Kraus die Jurisprudenz an den Nagel und wendet sich dem Philosophie- und Germanistikstudium zu, welches er ohne Abschluss beendet. 1897 ein erster Aufschwung: Die Satire Die demolirte Litteratur wird ein Publikumserfolg, allerdings schaffte er sich damit keine Freunde in der Literatenwelt.

Ich hasse und hasste diese falsche, erlogene „Decadence“, die ewig mit sich selbst coquettiert, ich bekämpfe und werde immer bekämpfen: die posierte, krankhafte, onanierte Poesie![1]

Kraus wird im selben Jahr Wiener Korrespondent der Breslauer Zeitung, in ihm wächst der Wunsch, eine eigene Zeitschrift herauszugeben. 1899 erscheint die erste Ausgabe von Die Fackel. Auch damit macht er sich keine Freunde, ein Prozess folgt dem anderen, weil sich zu viele auf die Füsse getreten fühlen durch die Vorwürfe, die Kraus in der Fackel gegen sie veröffentlicht.

1899 löst sich Karl Kraus von der jüdischen Gemeinschaft und lässt sich 1911 in der Wiener Karlskirche römisch-katholisch taufen (1923 beendet er auch dieses Intermezzo durch den Kirchenaustritt).

1902 erscheint Kraus’ Aufsatz Sittlichkeit und Kriminalität, ein Angriff auf die vermeintliche Verteidigung von Moral, Ordnung und Sittlichkeit mit justiziellen Mitteln.  Dieses Thema begleitet ihn durch die nächsten Jahre. Ab 1906 verfasst Karl Kraus Aphorismen, welche zuerst in der Fackel, später zusammengefasst in Büchern erscheinen.

Im Jahr 1915 beginnt die Arbeit am Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit, welches 1919 in Form von Sonderheften der Fackel veröffentlicht wird. Es folgen Lesungen im Rundfunk und Aufnahmen für Schallplatten.

Die Machtergreifung Hitlers lässt die Fackel still werden.
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
Und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
Man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
Nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.[2]

Monatelang erscheint keine Ausgabe, doch Karl Kraus’ Schaffen ruht nicht. Er arbeitet an einem Text über die Machtübernahme und die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft. Das Werk erscheint erst  posthum 1952 unter dem Titel Dritte Walpurgisnacht.

Die Fackel erscheint wieder sporadisch, was nicht allen zu gefallen scheint, da ihr Inhalt gewohnt kritisch bleibt. Im Februar 1936, nach Erscheinen einer Ausgabe, wird Kraus von einem Radfahrer niedergestossen, was immer stärkere Kopfschmerzen und Gedächtnisschwund zur Folge hat. Ein Herzinfarkt im Juni desselben Jahres führt schlussendlich zum Tod. Karl Kraus stirbt am 12. Juni 1936 in seiner Wohnung an einem Herz- und Gehirnschlag.

Der Mensch Karl Kraus
Karl Kraus ist ein kritischer Geist, der mit seiner polemischen Art aneckt und polarisiert. Er hält mit seiner Meinung nicht hinterm Zaun, sticht in die Wunden der Gesellschaft und zeigt mit dem Finger auf die Vergehen der Menschen, allen voran der sogenannt Grossen der Öffentlichkeit. Mit Leidenschaft und Wortgewandtheit setzt er sich ein, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Er hat dabei viele Anhänger, die seinen Vorlesungen lauschen und ihn als unfehlbare Autorität sehen. Seine zahlreichen Gegner sehen in ihm einen verbitterten Misanthropen, verurteilen seine Aussprüche als hasserfüllt und übers Ziel schiessend.

Karl Kraus und die Sprache
Karl Kraus Werkzeug ist die Sprache. Er legt grossen Wert auf sie und sieht im allgemein üblichen nachlässigen Umgang mit ihr den Ursprung für viele Missstände der Welt.

Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen
An allen jenen, die die Sprache sprechen.
Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.
Ihr aber seid die kundigen Thebaner.[3]

Sprache hat für Karl Kraus religiösen Charakter. Sünde gegen die Sprache sieht er als Lüge und die Vermehrung der Lügen als Vermehrung des Bösen in der Welt. Sprache ist für Karl Kraus das Medium des Denkens, nicht nur Mittel zum Zweck.

Dass Stil nicht der Ausdruck dessen ist, was einer meint, sondern die Gestaltung dessen, was einer denkt und was er infolgedessen sieht und hört; dass Sprache nicht bloss das, was sprechbar ist, in sich begreift, sondern dass in ihr auch alles was nicht gesprochen wird erlebbar ist; dass es in ihr auf das Wort so sehr ankommt, dass noch wichtiger als das Wort das ist, was zwischen den Worten ist…[4]

Sprache soll als Medium des Denkens immer wieder selber kritischer Reflexion unterzogen werden, nicht einfach nur dahingesagt und hingenommen sein. Rund ums ich sieht Kraus das genaue Gegenteil: Leere Floskeln, Gesagtes als blosse Hülle ohne Inhalt  – und die Welt damit dem Untergang geweiht.

Die Welt geht unter und man wird es nicht wissen.[5]

Werke von Karl Kraus

  • Die demolirte Litteratur (1897)
  • Sittlichkeit und Kriminalität (1908)
  • Sprüche und Widersprüche (1909)
  • Die chinesische Mauer (1910)
  • Die letzten Tage der Menschheit (1918)
  • Weltgericht (1919)
  • Literatur und Lüge (1929)

[1] Brief an Arthur Schnitzler, März 1893
[2] Die Fackel, Nr. 888, S. 4
[3] Worte in Versen, S. 94
[4] Die Sprache, S. 341
[5] Die letzten Tage der Menschheit, S. 10

Claire Keegan: Das dritte Licht

Inhalt

«Jetzt, wo mein Vater mich abgeliefert und sich satt gegessen hat, ist er ganz wild auf seinen Tabak, sich eine Kippe anzuzünden und wegzukommen.»

Weil die Mutter wieder schwanger, das Geld und die Zeit knapp sind, liefert ein Vater seine kleine Tochter bei Verwandten ab, wo sie für eine Zeit bleiben soll. Plötzlich sieht sich das Kind mit Menschen konfrontiert, die sich um es kümmern, die Liebe zu geben haben.

«Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet… aber jeder Tag ist fast wie der vorhergehende.»

Sie kann sich kaum auf all das Schöne einlassen, verbietet anfänglich sogar, es zu geniessen und geht dann doch im neuen Leben auf, das nicht von Kälte, Schmutz und Angst geprägt ist – höchstens der Angst, wieder zurückzumüssen.

Gedanken zum Buch
Claire Keegan hat eine kleine, feine, zärtliche Geschichte voller Wärme geschrieben. «Das dritte Licht» erzählt von einem Mädchen, das lernt, was Familie, was Liebe bedeuten, wie leicht das Leben sein kann. Dies geschieht in einer klaren, präzisen Sprache voller Poesie, in der jedes Wort am richtigen Platz sitzt, keines zu viel scheint, die dadurch eine Intensität entwickelt und den Leser in die beschriebene Welt und in eigene Gefühlswelten eintauchen lässt.

«Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein neuer Ort, und ich brauche neue Wörter.»

Man könnte dem Buch den Vorwurf machen, dass die dem Mädchen zugeschriebenen Gedanken zu erwachsen sind für ein kleines Kind, dass die Art und Weise zu denken nicht zu dem ansonsten doch sehr kindlichen Wesen passen. Keegan nutzt dieses Mittel aber wohl bewusst, um ohne viele Erklärungen und Beschreibungen die (wohl eher unbewusste) Innenwelt des Mädchens zugänglich zu machen. Es sind zudem Gedanken, die zum eigenen Reflektieren anregen, Sätze, die man nach der Lektüre des Buches mitnimmt.

«Ich stecke in einer Zwickmühle, wo ich weder die sein kann, die ich immer bin, noch zu der werden kann, die ich sein könnte.»

Frei nach Nietzsches «Werde, der du bist» steckt hier die Frage nach dem eigenen Sein drin. Das bisherige Umfeld hat das Mädchen geprägt, hat sie zu etwas gemacht, das sie ist, weil sie sich an diese Umwelt angepasst hat, eine Umgebung, die ihr viele Möglichkeiten verwehrt hat. Im neuen Umfeld bieten sich neue Möglichkeiten des Seins. Die Frage, die sich stellt, ist nur: Kann sich das Mädchen darauf einlassen? Wäre dieses Einlassen nicht ein Verrat an den eigenen Eltern? Und: Was, wenn sie wieder zurückmuss? Wie wirkt die alte, beengte, freud- und lieblose Umgebung auf sie, nachdem sie gelernt hat, was Liebe und Familie bedeuten können?

Fazit
Die Geschichte eines Mädchens, das lernt, was Familie und Zugehörigkeit bedeuten, ein Buch voller Wärme und Poesie.

Zur Autorin und zum Übersetzer
Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2022) erschienen. Ihre Erzählung Kleine Dinge wie diese (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, 1950 in Wiesbaden geboren, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. John McGahern, Mark Twain, Ian McEwan, F. Scott Fitzgerald, Anne Enright, Maeve Brennan und Sebastian Barry übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. 2020 erhielt er den Straelener Übersetzerpreis der Kulturstiftung NRW.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Steidl Verlag (18. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 104 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3969991992

Gespräche mit Max Frisch

Wenn ich zurückblicke, kommt es mir manchmal so vor, als sei ich um ihn rumgeschlichen. Ich habe ihn immer wieder präsentiert bekommen. Im Gymnasium mit der Pflichtlektüre «Andorra», die ich (natürlich!) so ziemlich verweigert habe. Die Auszüge, die ich mitkriegte, waren wenig prickelnd. Später sah ich Reden. Interviews. Sie waren beeindruckend. Er beeindruckte mich. In seiner Vehemenz, seiner Streitbarkeit, seiner Tiefe, seiner Argumentation. Ich war radikal. Er auch. Das gefiel mir. Ich hob ihn innerlich hoch, wollte reinstechen, doch beim Lesen seiner Bücher lockerte sich der Griff merklich. Zeit ging ins Land.

Diese Dynamik hat sich mehrfach wiederholt. Wieder auf ihn stiess ich über meine Faszination für Ingeborg Bachmann – die abgrundtiefe Beziehungsgeschichte zog mich in den Bann und die Behandlung derselben durch die germanistische Zunft liess die gerechtigkeitsorientierte Philosophin in mir lauthals (innerlich) protestieren. So sehr ich sie schätzte und mich verbunden und sogar vertreten fühlte: Das war zu einseitig. Ich wollte Max Frisch sicher keinen Persilschein ausstellen, den er für sich selbst nie gefordert und wo er ausgeteilt wurde, immer verurteilt hatte, aber: Die unglaublich wunderbare, bewundernswerte, charismatische, begabte Dichterin war selbst kein Kind von Traurigkeit, kein Unschuldsengel und sicher kein einfaches Wesen. Die Täter-Opfer-Zuschreibung konnte nicht aufgehen. Die nun jüngst endlich zugänglichen Briefe legen es offen – auf beiden Seiten.

War es nur landsmännische Loyalität, die mich immer wieder in die Bresche springen liess? Nein. Es war ein tief empfundenes Verständnis für die Zweifel, Nöte, Radikalitäten, und eine Neugier. Und der gehe ich nun nach. Nicht biographisch. Nicht germanistisch. Nicht wissenschaftlich. Rein interesse-gelenkt. Ich trete ins Gespräch mit dem Autoren, der den Dialog hochhielt. Und ich teile ab und zu meine Gedanken zu Sätzen, die ich so finde bei ihm.

Ich freue mich auf dieses Eintauchen. Ich würde mich freuen, wenn der Dialog ein offener würde, neue Gedanken zu Sätzen geäussert würden, ein Diskurs entstünde, Denken gelebt und laut gemacht würde. Seid ihr dabei?

Max Frischs Tagebücher

«Der verehrte Leser – einmal angenommen, dass es ihn gibt, dass jemand ein Interesse hat, diesen Aufzeichnungen und Skizzen eines jüngeren Zeitgenossen zu folgen, dessen Schreibrecht niemals in seiner Person, nur in seiner Zeitgenossenschaft begründet sein kann…»

In Max Frischs Tagebüchern sucht man vergebens nach persönlichen Befindlichkeiten, Alltagserlebnissen oder kränklichen Zuständen. Es mag sein, dass Max Frisch sein Tagebuch für eine potenzielle Leserschaft geschrieben hat, zumindest klingt sein Vorwort in den veröffentlichten Büchern so. Er spricht den Leser an und wünscht sich, dass dieser die Reihenfolge beachte, da diese wichtig sei für das Verständnis der Zusammenhänge. Da ist also einer, der einerseits gelesen werden wollte, aber nicht auf eine beliebige Weise, sondern auf die seinem Schreiben angemessene – in seinen Augen.

Auch wenn die Leserschaft beim Schreiben mitgedacht ist, bleibt das Tagebuch doch ein Übungsplatz. In ihm notiert Max Frisch seine Gedanken, kämpft mit der Sprache als Art und Weise des möglichen Ausdrucks für das Vorgefundene, Bedachte, für das Zeitgeschehen. Schreiben, so ist sich Max Frisch sicher, ist ein Ordnen der Gedanken und ein Verstehen derselben. Es hilft, sich selbst und der Welt auf die Spur zu kommen, indem man sie in Sprache fasst.

Die Tagebücher von Max Frisch sind so gesehen literarische Formen. In ihnen steckt eigentlich der ganze Frisch schon drin, sein Gesamtwerk ist hier in den Hintergründen, in den Grundthemen und -gedanken angelegt.

Ich werde mich in der nächsten Zeit vermehrt mit Max Frisch auseinandersetzen und werde auch hier sicher über den einen oder anderen Gedanken von und zu ihm, über das eine oder andere Buch oder Thema schreiben.