Biografien von A bis Z: A

KI ist in aller Munde, dass diese nun auch schreiben kann, ängstigt. Was wird dann aus den Schreibenden? Sind die überflüssig? Ich denke, die Frage ist falsch gestellt. Abgesehen davon, dass Schreibende natürlich, um leben zu können, gelesen werden müssen, schreiben sie auch, weil sie nicht anders können. Schreiben ist Leidenschaft, Drang, Notwendigkeit. Ebenso bei den Philosophen das Denken, das dann in einer Form auch aufs Papier fliesst. Seit ich denken kann, interessieren mich hinter den Texten immer auch die Menschen, die sich diese ausgedacht haben: Wie haben sie gelebt, wie haben sie geschrieben und wieso? Was hat ihr Denken geprägt? 

Aus diesem Grund liebe ich Biografien. Ein paar davon möchte ich hier vorstellen, ich taste mich dazu dem ABC entlang und starte heute mit A:

Wie könnte es anders sein: Hannah Arendt – Lieblingsdenkerin, spannende Persönlichkeit, interessante und vielschichtige Frau. Müsste ich eine empfehlen, wäre es die von Elisabeth Young-Bruehl, sie ist und bleibt für mich der Klassiker.

«Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit des Menschen in dem Masse abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet..» (Hannah Arendt)


Aristoteles – Einer der ersten, der wohl systematisch über alles, was auf dieser Welt vorkommt, nachdachte. Gewisse Gedanken sind noch heute bedenkenswert, zum Beispiel seine Theorie eines gerechten Staates. Flashar als ausgewiesener Experte zu Aristoteles hat hier eine grossartige Biographie geschrieben.

„Denn das ist den Menschen vor den anderen Lebewesen eigen, dass sie Sinn haben für Gut und Böse, für Gerecht und Ungerecht und was dem ähnlich ist. Die Gemeinschaftlichkeit dieser Ideen aber begründet die Familie und den Staat.“ (Aristoteles)


Ilse Aichinger – Repräsentantin der deutschen Nachkriegsliteratur, deren Werk immer wieder die sozialen und politischen Zustände kritisierte und die Verantwortung des Menschen thematisierte.

«Schreiben kann eine Form zu schweigen sein.» (Ilse Aichinger)

Lou Andreas-Salomé – faszinierende, intelligente, vielschichtige Frau, die die Herzen der berühmtesten Männer brach.

«Glaubt mir, die Welt wird euch nichts schenken. Wenn ihr ein Leben wollt, so stehlt es.» (Lou Andreas-Salomé)

Rose Ausländer – Verfasserin wunderbarer Lyrik mit einem sehr bewegten Leben.

«Ich schreibe mich ins Nichts – es wird mich ewig aufbewahren.»

Was für Biografien zu A könnt ihr empfehlen?

Sätze aus Büchern: Schreiben als Ort

»Das Schreiben ist mein wahrer Ort. Von allen eingenommenen Orten ist es der einzige immaterielle, der sich nirgends einordnen lässt, doch der, davon bin ich über-zeugt, alle anderen auf die eine oder andere Weise um-fasst.« (Annie Ernaux, Le vrai lieu)

Sätze aus Büchern – manchmal find ich sie, Sätze in Büchern, die unabhängig von der Geschichte sonst, zu mir sprechen, mich inspirieren, etwas in mir zum Klingen bringen. Das ist einer davon. Ich möchte ihn mit euch teilen, denn vielleicht geht es euch wie mir.

Habt einen schönen Tag! 💕

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

Inhalt

«…das ist, was ich schreibe: Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.»

Judith Hermann schreibt in den vorliegenden Frankfurter Poetikvorlesungen über ihr Schreiben. Und sie schreibt vom Verschweigen im Schreiben. Sie schreibt davon, wie sie eine Geschichte beginnt und weiterspinnt. Sie schreibt von ihrem Leben und ihren Erinnerungen und wie diese mit dem Schreiben zusammenhängen. Sie schreibt sich in diesem Buch ihrem Leben entlang und nimmt den Leser mit in eine Geschichte des Lebens und Schreibens, die anmutet, als entdecke sie Judith Hermann beim Schreiben erst selbst.

Entstanden ist ein Buch, das Einblicke in Judith Hermanns Kindheit und Aufwachsen gibt, das Freundschaften und Familie thematisiert, und mehr noch als Geschichten Gefühle transportiert – und auslöst.

Gedanken zum Buch

«Jede Geschichte hat ihren ersten Satz. Nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt.»

Der Blick hinter die Kulissen von Schreibenden ist immer wieder spannend. Während die einen ihre Geschichten feinsäuberlich planen und sich dann an feste Tagesabläufe halten, lassen sich andere inspirieren und schreiben sich dann in die Geschichte hinein, wie sie sich ihnen zeigt.

«Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heisst auslöschen.»

Dabei bleibt es nicht aus, dass vieles im Kopf auftaucht, wovon nur ein Bruchteil schliesslich Eingang in die Geschichte findet. Oft weiss der Schreibende mehr über seine Figuren, als er dem Leser explizit zeigt, er kennt Hintergründe und Eigenheiten, die für das Schreiben wichtig sind, die der Geschichte aber nicht dienen.

«Keine Geschichte ist die, die ich erzählen wollte oder müsste. Aber ich kann davon erzählen, dass ich das Eigentliche nicht erzählen kann, das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte…»

Melancholie tropft aus den Zeilen und sitzt in den Zwischenräumen des Geschriebenen. All das, was Verschwiegen wird, findet sich in Andeutungen des Schweigens, nicht aber in seiner wahren Präsenz. Es ist ein Schreiben über Erinnerungen, von denen nicht sicher ist, dass sie wirklich sind oder nur gedacht. Es ist ein Schreiben über das Schreiben, welches das Nicht-Geschriebene in und mit sich trägt. Es ist ein Schreiben dem Leben entlang, von dem nie ganz klar ist, ob es Traum oder Wirklichkeit ist. Entstanden ist ein Buch, das alles offenlässt und dessen Ende man als Leser selbst finden muss. Auch den Sinn von allem muss man selbst ergründen, er zeigt sich nicht offensichtlich.

Fazit
Ein poetisches, ein rätselhaftes, ein melancholisches Buch über das Schreiben und das Leben. Ein Buch, das einen nachdenklich zurücklässt und dessen Sinn sich vielleicht erst später auftut.

Zur Autorin
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Im Frühjahr 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Preis der LiteraTour Nord 2022Bremer Literaturpreis 2022Rheingau Literatur Preis 2021Blixenprisen 2018 für »Lettipark«Erich-Fried-Preis 2014Friedrich-Hölderlin-Preis 2009Kleist-Preis 2001Hugo-Ball-Förderpreis 1999Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ S. FISCHER; 3. Edition (15. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3103975109

Olga Tokarczuk: Übungen im Fremdsein

Inhalt

«Mir scheint, die Literatur als unaufhörlicher Prozess des Erzählens der Welt hat grössere Möglichkeiten als irgendetwas sonst, diese Welt in ihrer gesamten Perspektive gegenseitiger Einflüsse und Verbindungen zu zeigen.»

Die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk hat in diesem Buch zwölf Essays und Reden zusammengestellt, die sich mit dem eigenen Schöpfungsprozess beschäftigen. Sie schreibt über die Motiviation zum Schreiben, zur Konstruktion von Figuren, zu den politischen, psychologischen, soziologischen und biographischen Quellen ihres Schreibens. Sie beleuchtet, wie wir durch Sprache neue Welten schaffen, beleuchtet den Lauf der Welt und die Art und Weise, wie Literatur damit umgeht.

«Existiert denn überhaupt die eine Welt…. Oder leben wir, die wir uns in der einen räumlichen Sphäre befinden, in Wahrheit in den jeweils eigenen Phantasmen?»

Entstanden ist ein Blick hinter die Kulissen ihres Schreibens und Denkens, ein kritischer Blick auf die Welt und unser Leben in ihr. Es ist zudem ein Aufruf, die Welt mit verschiedenen Augen aus verschiedenen Perspektiven zu sehen.

Gedanken zum Buch

«Wunder des Lesens… die Bereitschaft, sich mittels einer bewussten Verwendung von Sprache, durch das Spiel mit den Zeichen, Kontexten und Verweisen geduldig in vielschichtige, komplizierte, bedeutungsvolle Struktur der Welt ringsumher zu vertiefen, stetig weiter hinabzusteigen oder auch, wie über die Wendeltreppen eines perspektivischen Verwirrbildes, immer höhere Höhen zu erklimmen.»

Olga Tokarczuk bezeichnet sich als buchabhängig. Sie liest, sie liest Bücher auch mehrfach, und sie schaut, was in diesen Büchern steckt, wie sich die Geschichten ihr gegenüber öffnen, wie sich verschiedene Schichten beim wiederholten Lesen entfalten. Literatur ist ein Blick auf die Welt, welche diese sichtbar werden lässt in ihren Zusammenhängen und Strukturen.

«Ich bin überzeugt, dass unser Leben nicht nur eine Summe von Ereignissen ist, sondern ein verschlungenes Sinngefüge – das wir selbst schaffen, indem wir den Ereignissen jeweils einen Sinn zuschreiben.»

Literatur ist ein Sinnstifter, da durch das Schreiben den Dingen zugeschrieben wird. Geschichten kreisen um einen Sinn, der nicht den Dingen innewohnt, sondern den die Dinge für uns haben, weil wir ihnen diesen zusprechen.

«Die Geschichte, das Erzählen ist somit das fünfte Element, das uns die Welt auf ebendiese und keine andere Weise sehen lässt, das uns ihre unendliche Vielfalt und Vielschichtigkeit verstehen, unsere Erfahrung einordnen und sie von Generation zu Generation, von einer Existenz zur anderen weitergeben lässt.»

Seit Menschengedenken erzählen wir uns Geschichten. Es sind diese Geschichten, welche die Welt erfahrbar machen, indem sie eine Einordnung der Phänomene in einen Zusammenhang vornehmen. Indem wir unterschiedliche Geschichten von verschiedenen Menschen hören, eröffnet sich ein weiterer Blick, der aufzeigt, dass es mehrere Sichtweisen auf die eine Welt gibt, dass quasi diese eine Welt aus ganz vielen Welten besteht, die wir erst durch die Geschichten anderer Menschen erfahren können. Damit das so ist, bedarf es auch einer Offenheit. Wir müssen uns von unserem Standpunkt lösen und uns neuen Standpunkten, neuen Perspektiven gegenüber neugierig zeigen.

«Im Grunde nimmt der Reisende des Westens die Welt als nicht wirklich wahr. Gleich einem ewig eilenden Schatten bewegt er sich durch die Länder und Kulturen, die er besucht. Nichts berührt er, in nichts ist er einbezogen, er bleibt verkapselt in seinem Überlegenheitsgefühl.»

Tokarczuk wirft einen kritischen Blick auf die Welt und die Menschen in ihr. Sie thematisiert die Vereinzelung, die oft mit Entfremdung einhergeht, ebenso wie die wohl aus dieser hervorgehende Haltung der eigenen Überlegenheit. Zu oft verharren wir in der Meinung der eigenen Deutungshoheit, wir sehen uns und unser Erleben als Massstab, den wir auf den Rest der Welt anwenden. Was aus einer gefühlten Überlegenheit heraus passiert, führt uns eigentlich bei Lichte betrachtet in eine Verarmung der Wahrnehmung, da wir diese selbst beschränken.

Fazit
Ein klarer, scharfer und durchdringender Blick auf die Welt, das Leben, Lesen und Schreiben. Eine Hommage an die Sprache und ihre Möglichkeit, mit ihr die Welt erst zu schaffen.

Zur Autorin
OLGA TOKARCZUK, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten europäischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für Die Jakobsbücher wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie außerdem den Man Booker International Prize für Unrast, für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman Der Gesang der Fledermäuse stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zum Schreiben zieht sie sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Kampa Verlag; 1. Edition (14. Oktober 2021)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 320 Seiten
  • Übersetzung ‏ : ‎ Bernhard Hartmann, Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein ,  
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3311100751

Tillie Olsen: Was fehlt

Inhalt

«Wen hören und lesen wir, wen nicht? Und warum nicht?»

Wie entstehen Kunstwerke, was steht diesem Entstehen im Weg? Wieso hört man viele Stimmen nicht, obwohl sie so wichtig wären? Wieso schweigen viele, die etwas zu sagen hätten, während andere sich ungehindert Gehör verschaffen können? Und: Wieso sind es oft Frauenstimmen, die nicht sprechen können, die nicht gehört oder gar verhindert werden?

Diesen Fragen geht Tillie Olsen in den in diesem Buch gesammelten Vorträgen und Essays nach und greift damit eine Diskussion auf, die auch heute noch aktuell ist (man denke nur an Nicole Seiferts «Frauenliteratur»).

«Was braucht das Schöpferische, um sich verwirklichen zu können? Ohne die Absicht oder den Anspruch, literaturwissenschaftlich vorzugehen, verspürte ich im Laufe der Jahre das Bedürfnis, alles darüber zu lernen, was ich in Erfahrung bringen konnte, blieb ich doch selber fast stumm und musste die Schriftstellerin in mir wieder und wieder sterben lassen.»

Gedanken zum Buch

«Warum werde so viel mehr Frauen zum Verstummen gebracht als Männer? Warum sind die wenigen Werke von Frauen, die es immerhin gibt…, so wenig bekannt, werden sie so spärlich im Unterricht behandelt oder Ausgezeichnet?»

Tillie Olsen (1912 – 2007) ist selbst eine der (fast) verstummten Stimmen. Neben der Betreuung ihrer Kinder sowie der Arbeit für den Lebensunterhalt blieb kaum Zeit für die eigene Kreativität. Vermutlich ist es diesem Umstand geschuldet, dass sie über viele Jahre Gründe sammelte für das literarische Schweigen. Auch Zeugnisse von Schreibenden, die mit dem Schreiben und mit Blockaden und Hindernissen kämpften, fanden Eingang in ihre Vorträge und Reden, es sind Zitate aus Tagebüchern und Briefen von Franz Kafka und Virginia Woolf, Katherine Mansfield und Rainer Maria Rilke, von Dorothy Parker und Carson McCullers, und vielen mehr.

«Man wächst auf mit dieser […] seltsamen Vorstellung von weiblicher Verfügbarkeit in jeder geistigen Beziehung und dass man jedem, der es einfordert, zu Diensten sein muss.»

Gerade Frauen fiel es mehrheitlich schwer, für ihr Schreiben einzustehen. Dies hing auch mit den Rollenbildern früherer Zeit zusammen, in welcher Schreiben und Kunst für Frauen nicht vorgesehen war, sie ihre ihnen zugeschriebenen Aufgaben in der Gesellschaft hatten und den Rest den Männern überlassen sollten.

«Wie viel nötig ist, um zu schreiben. Neigung (viel verbreiteter als angenommen), die rechten Umstände, Zeit, die Entwicklung des eigenen Handwerks – aber darüber hinaus: wie viel Überzeugung von der Wichtigkeit des eigenen Worts, des eigenen Rechts, es auszusprechen. Und der Wille, der unerschöpfliche Vorrat an Glauben an sich selbst, um die eigenen Lebenserkenntnisse zu finden, ihnen treu zu bleiben, sie in die richtige Form zu giessen.»

Olsen thematisiert aber nicht nur, wer alles schwieg und aus welchen Gründen, sondern sie beleuchtet auch die Bedürfnisse eines schreibenden Menschen: Was braucht es, damit ein schreibender Mensch seiner Berufung zu schreiben folgen kann? Welche äusseren und inneren Bedingungen müssen erfüllt sein?

«Letzten Endes ist Kreativität eine Abbildung der Wechselbeziehung zwischen dem Individuum und der Umwelt, in der es lebt.»

Wichtig zu sehen ist, dass das Verstummen vieler Stimmen nicht nur ein individuelles Problem ist, sondern ein systemimmanentes. So lange die Rollen zwischen den Geschlechtern aufgeteilt sind, wie das auch heute noch oft der Fall ist, haben Frauen es schwerer, sich die nötigen Bedingungen für ihr eigenes Schreiben zu schaffen. Dazu kommt, dass der Literaturbetrieb auch heute noch zu einem grossen Teil männlich dominiert ist, so dass Bücher von Männern mehr berücksichtigt, mehr beworben und mehr besprochen werden, und auch die Schullektüren vorwiegend männlich ausfällt. (Ein Blick in die Schweizer Pflichtlektüre für die Matur hat das leider aktuell bestätigt: Siehe hier, hier und hier). Den Bezug zur heutigen Situation stellt auch das persönliche, kompetente und aufschlussreiche Vorwort von Julia Wolf her, welches den Boden für das Buch quasi vorbereitet, in welchen die Samen der Gedanken des Buches nachher fallen sollen, um von da zu wachsen.

Dem Aufbau Verlag ist ein grosses Lob auszusprechen, dass er diese Autorin auf den deutschen Markt gebracht hat, einerseits mit dem vorliegenden Buch, andererseits mit dem Erzählband «Ich stehe hier und bügle».

Fazit
Ein wichtiges Buch über die Situation schreibender Menschen, was sie zum Schreiben brauchen und wie so viele von ihnen verstummen und nie gehört werden.

Zur Autorin und den Mitwirkenden
Tillie Olsen, 1912 als Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland in Nebraska geboren, musste als junge vierfache Mutter ihre fortschrittlichen politischen Ansichten mit künstlerischem Ehrgeiz und Brotarbeit unter einen Hut bringen. Gleich ihre erste Story, »Ich steh hier und bügle«, erschien in den »Best American Short Stories of 1957«, kurz darauf wurde sie mit dem begehrten O.-Henry-Preis ausgezeichnet. Obwohl sie die Highschool ohne Abschluss verlassen hatte, erhielt sie für ihr Werk diverse Stipendien, Ehrentitel und Gastprofessuren der großen amerikanischen Universitäten, darunter Stanford, Harvard und Amherst College. Ihr berühmter Essay »Was fehlt« entstand aus einem Vortrag, den sie 1962 am Radcliffe Institute der Harvard University gehalten hatte. Sie starb 2007 in Oakland, Kalifornien, und gilt heute als Vorreiterin der emanzipatorischen Literatur.

Nina Frey studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel, bevor sie sich als Übersetzerin selbstständig machte. Sie lebt in Wien.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. »Heinrich Maria Ledig-Rowohlt«-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Nele Holdack, leitende Lektorin moderne Klassik und Klassik, gab unter anderem Werke von Hans Fallada und Victor Klemperer, Lion Feuchtwanger und Mark Twain, Tillie Olsen und Brigitte Reimann heraus.

Julia Wolf ist Autorin und Übersetzerin. Zuletzt erschien ihr Roman »Alte Mädchen«. Sie ist Mitbegründerin des Kollektivs »Writing with Care/Rage« und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.
Tillie Olsen, 1912 als Tochter jüdischer Einwanderer aus Russland in Nebraska geboren, musste als junge vierfache Mutter ihre fortschrittlichen politischen Ansichten mit künstlerischem Ehrgeiz und Brotarbeit unter einen Hut bringen. Gleich ihre erste Story, »Ich steh hier und bügle«, erschien in den »Best American Short Stories of 1957«, kurz darauf wurde sie mit dem begehrten O.-Henry-Preis ausgezeichnet. Obwohl sie die Highschool ohne Abschluss verlassen hatte, erhielt sie für ihr Werk diverse Stipendien, Ehrentitel und Gastprofessuren der großen amerikanischen Universitäten, darunter Stanford, Harvard und Amherst College. Ihr berühmter Essay »Was fehlt« entstand aus einem Vortrag, den sie 1962 am Radcliffe Institute der Harvard University gehalten hatte. Sie starb 2007 in Oakland, Kalifornien, und gilt heute als Vorreiterin der emanzipatorischen Literatur.

Nina Frey studierte Anglistik und Germanistik in Hamburg. Sie arbeitete lange im Kunsthandel, bevor sie sich als Übersetzerin selbstständig machte. Sie lebt in Wien.

Hans-Christian Oeser, geboren 1950 in Wiesbaden, ist literarischer Übersetzer, Herausgeber, Reisebuchautor, Publizist, Redakteur und Sprecher. Er hat zahlreiche Klassiker ins Deutsche übertragen, darunter Mark Twains Autobiographie. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. »Heinrich Maria Ledig-Rowohlt«-Preis, Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und Straelener Übersetzerpreis.

Nele Holdack, leitende Lektorin moderne Klassik und Klassik, gab unter anderem Werke von Hans Fallada und Victor Klemperer, Lion Feuchtwanger und Mark Twain, Tillie Olsen und Brigitte Reimann heraus.

Julia Wolf ist Autorin und Übersetzerin. Zuletzt erschien ihr Roman »Alte Mädchen«. Sie ist Mitbegründerin des Kollektivs »Writing with Care/Rage« und lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Aufbau; 1. Edition (11. Oktober 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 352 Seiten
  • ISBN-10 ‏ : ‎ 3351039832
  • Übersetzung : Nina Frey und Hans-Christian Oeser
  • Originaltitel ‏ : ‎ Silences

Gedankensplitter: Sprache als Heimat

«Ohne Sprache, ohne Schreiben, fühle ich mich wie ein Obdachloser ohne Heimat.» Carolin Emcke

Ich weiss nicht, wann sie anfing, die Liebe zur Sprache, zum Wort. Zuerst war sie beim Lesen da, ich liebte Geschichten, ich hörte sie vorgelesen und von Tonbändern. Ich lernte früh lesen, und von da an war kein irgendwo geschriebenes Wort mehr sicher vor mir. Jedes Plakat, jede Inschrift wollte gelesen sein. Die wöchentlichen Gänge in die Ortsbibliothek waren mein Highlight, ich deckte mich jedes Mal mit Stapeln ein, die ich zu Hause feinsäuberlich lesend abtrug (damals waren die Stapel offensichtlich überschaubarer als heute). Bald kam zur Liebe zu beschriebenen Büchern die zu schönen leeren dazu, die ich selbst schreibend füllen wollte. Manchmal holte ich auch die Schreibmaschine meiner Mutter aus dem Schrank und fühlte mich wie ein Schriftsteller, wenn ich davorsass und tippte.

Diese zwei Lieben sind geblieben, mein Leben lang bis heute. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht lese, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht schreibe. Ich höre oft, ich solle mal Urlaub machen, mal ausspannen, mal einen Tag einfach nur frei sein. Ich verstehe diese Gedanken, allein sie verkennen, dass für mich Schreiben und Lesen Freiheit sind, nämlich die Freiheit, ganz ich zu sein, an genau dem Ort zu sein, wo ich mich zuhause fühle. Ich habe mich in meinem Leben immer wieder gefragt, was Heimat bedeutet, wo ich zuhause bin. Ich glaube, das ist die Antwort: In der Sprache. 

Was bedeutet Heimat für euch?

Ein entscheidender Augenblick

Sie war mittlerweile genügsam geworden. Sie hoffte nicht mehr auf die grosse Liebe, wenn Susanne sie wieder einmal verkuppeln wollte. Schon ein netter Abend wäre gut. Ab und zu fragte sie sich, ob ihre Freundin sie wirklich kannte. Die Zweifel lagen auf der Hand bei den vorgestellten Männern. Heute stand eine Dichterlesung an. Sie liebte Lyrik, weniger aber die Lyriker, die waren ihr seltsam fremd. Und: Der Auserwählte war der Künstler himself, sicher mit weissem Schal und gegelten Haaren.

Sie schaute sich im Spiegel an. Für ihre 50 Jahre sah sie noch ganz passabel aus. Dass sie trotzdem Single war, lag wohl eher daran, dass sie insgeheim gar keine Beziehung wollte. Zu kompliziert, zu anstrengend, zu viel Risiko. Und doch war da manchmal diese leise Sehnsucht, nicht allein zu sein, sich austauschen zu können, jemanden an der Seite zu haben, der sie versteht. Ob man das überhaupt konnte? Sie verstehen? Manchmal tat sie es selbst nicht.

Sie waren die ersten, die bei der Lesung ankamen. Dabei blieb es. Der Künstler sass vor den aufgereihten Stühlen, schaute suchend umher. Sie war sich nicht sicher, ob er froh war, dass sie gekommen waren, oder keine Zeugen dieses Vorkommnisses vorgezogen hätte. Was sollte er tun? Nicht lesen? Doch lesen? Sie fühlte förmlich, wie es in ihm drehte, wie sich Selbstzweifel, Unsicherheiten, Trauer und Wut unterhielten und sich gemeinsam gegen ihn verbündeten. Das Ganze rührte sie auf merkwürdige Weise an. Da schien eine Seele genauso verloren zu sein wie sie es selbst ab und zu fühlte.

Er hob den Blick und schaute ihr in die Augen. Mit einem Auge, mit dem anderen schielte er zu ihrer Freundin. Oder war es andersrum? Sie konnte es nicht genau sagen. Sie wusste nur: das war doch sehr kompliziert, anstrengend, verunsichernd. Schlicht: Nichts für sie!

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Dieser Text entstand im Rahmen der abc.etüden von Christiane, HIER die Schreibeinladung

Die Regeln: 3 Worte in max. 300 Worten, die Worte dieses Mal lauteten Dichterlesung, genügsam, verkuppeln. Sie wurden gespendet von Werner Kastens (hier sein Blog)

Gedankensplitter: Unfassbar

Wer will ich sein, wie fasse ich mich? Wie werde ich für andere als die fassbar, die ich bin? Was muss ich tun, was muss ich lassen, damit sie mich auch richtig fassen? Wie seh ich mich, was soll verblassen? Ich suche mich und kann’s kaum fassen, weil ich mich oft ganz unfassbar empfinde.

Ich will das ändern, denke auch, ich muss. Denn: Das Unfassbare ist, was keiner will. Wir wollen Sicherheit, die Sicherheit des Wissens. Wir wollen wissen, wie der Hase läuft, wir wollen wissen, was passiert. Wir wollen wissen, wer da steht, und was von uns erwartet wird. Wie muss ich sein, wie komm ich an? Ich will nicht abstossen, nicht ausgestossen sein. Ich will mich fassbar machen, damit ich von den anderen gefasst werden kann, denn jedes Fassen ist auch ein Halten, ein Halt in der sonstigen Haltlosigkeit des Seins ohne Geländer und stützende Säulen. Es ist ein Stehen im Nichts und doch nicht allein. Es ist ein Sein im All, ein All-ein-Sein mit anderen als gefasstes Ich.

Und dann überlege ich wieder, was ich tun muss, um fassbar zu sein. Was verwirrt, was passt nicht in das Bild, was fällt raus? Was muss rein, was muss sein, was ist zu viel – und was zu wenig? Was muss ich aufgeben und wo gebe ich zu viel? Wo verliere ich mich im Aufgeben, wo fass ich zu viel. Und in all dem Suchen und oft Nicht-Fnden werde ich immer fassungsloser ob meiner Unfassbarkeit, die sich darin zeigt, dass alles, was ich mal fasse, bald zu eng wird, sich falsch anfühlt, an allen Ecken zwickt und kneift. Und ich fasse nicht, dass ich nicht fassbar bin, denn wenn ich in die Welt schaue, sehe ich viele Gefasste, Fassbare. Menschen, die erfasst haben, wer sie sind und sich in diesem Sein erfassen lassen durch ihr Tun, das der Fassung entspringt. Und ich merke noch mehr, wie unfassbar ich bin. Und ich bin fassungslos.

Und dann denke ich an all das, was ich nicht mehr fassen kann, wenn ich mich für das entscheide, das mich eindeutig fassbar macht. Und ich denke an all das, was wegfällt. Und ich fühle in der Unfassbarkeit ein Stück Freiheit. Ich fliege zwischen den Welten und erfasse sie mit allen Sinnen. Ich tauche auf aus einer Welt und trage das Gefasste in die nächste. Ich bin nicht Inhalt im Gefäss, ich bin der Raum. Ich bin unfassbar frei im Sein und Tun. Und doch gefasst in dieses eine Sein und Tun als die, die tut und ist.  

Vom Lesen und vom Denken und vom Schreiben

Was Lesen für mich heisst? Eintauchen in neue Welten, in andere Gedankenwelten. Es ist die Neugier auf die Ideen anderer, zu denen ich meine in Beziehung setzen kann. Es ist der Wunsch, mein eigenes Universum zu verlassen, um neue zu ergründen. Es ist der Drang, weiter zu gehen, tiefer zu tauchen, breiter zu denken.

Ein Leben ohne zu denken, wäre für mich kein Leben. Es gliche eher einem Sterben noch zu Lebzeiten. Denken hängt an der Sprache, denn ohne diese hätten die Gedanken keine Gefässe, die sie fassbar machten. Mein liebstes Gefäss ist das Schreiben. Erst da werde ich all der Gedanken wirklich gewahr, kann ich sie in eine Ordnung bringen, lerne ich, sie zu verstehen. Und in diesem Verstehen sind immer schon die nächsten Fragen eingewoben. So führt sich das Leben fort, geht seinen Weg, ich gehe ihn mit. Und denke immer wieder an das Motto, das ich mal über mein Leben stellte, ganz spontan, einfach, weil es mir gefiel:

«Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.»
Rainer Maria Rilke

Und je älter ich werde, desto bewusster wird mir, dass ich genau das wirklich tue.

Gedanken und Buchtipp: Ich sein in dieser Welt

Eigene Gedanken

„Wir Menschen sind Geschichtenerzähler. Was wir uns von uns erzählen, erfahren wir als unsere Identität.“

Wir leben in einer Zeit der Singularität, der Einzigartigkeit. Oft hört man in dem Zusammenhang die Aufforderung, man selbst zu sein, seinen eigenen Weg zu gehen, sich selbst treu zu sein und zu bleiben. Doch: Wer ist dieses ich? Was macht es aus? Oft erzählen wir uns dazu Geschichten, die wir uns dann glauben. Wir erzählen von Vorkommnissen in der Vergangenheit, von der Kindheit, unserem Beruf, Menschen um uns, die uns geprägt hätten – und manchmal sind es auch schwierige Ereignisse, Ereignisse, die uns umtreiben, umwerfen gar.

„Es gibt Ereignisse in unserer Biografie, die verändern alles. Von einem Moment auf den nächsten ist das Leben keine planbare Grösse mehr und die Welt eine andere, als wir bis dahin dachten. Wir sprechen dann von einer Krise […] plötzlich wissen wir wieder, was Menschsein heisst: Wir sind verwundbar, und wir brauchen die Anderen.“

Und plötzlich sind die Fragen noch drängender: Wer bin ich nun? Noch derselbe? Ein anderer? Und wir machen uns auf die Suche nach dem, woran wir uns wieder erkennen können.

„Besonders in Lebenskrisen, in Zeiten der Neuausrichtung oder im Alter werden die fragen drängender: Was zeichnet mich aus? Warum erlebe ich all dies? Was ist meine Aufgabe? Was sind die Muster in meinem Leben, die Lebensspur, die meine Erdenzeit durchwebt, der ich folge oder die mir ausgelegt wurde?“

Wir suchen nach unserem Wesenskern, danach, was uns ausmacht und wozu wir auf dieser Welt sind. Vor allem vom „Wozu“ erhoffen wir uns viel, soll es doch dem Leben Sinn verleihen.

„Das Eigene erkennt man im Fremden, das Ich im Vergleich mit dem Gegenüber.“

Was wir dabei oft vergessen, ist, dass es bei der Suche nach uns selbst nie nur um uns geht. Wir sind nicht allein auf dieser Welt und nie unabhängig von dieser und den Menschen um uns zu denken. Erst im Anderen erkennen wir uns selbst, in unserem Miteinander, in unserem Austausch erkennen wir unseren Beitrag und unser Sein in dieser Welt.

„Die Geschichten wollen neu erzählt, die Fragen neu gestellt werden, und zwar so, dass wir unser Einzigartigsein nicht länger durch die Abgrenzung vom Anderen erfahren, sondern aus der Verbundenheit heraus mit den Anderen erleben.“

Es gilt also, diese Perspektive mit aufzunehmen in die eigene Biografiearbeit. Es gilt, so eine umfassendere Geschichte zu schreiben – und dies im wahrsten Sinne des Wortes am besten wirklich zu schreiben, nicht nur zu denken. Schon Hannah Arendt sagte, dass sie schreibe, weil sie verstehen wolle. Schreibend gelingt es uns besser, die Gedanken in eine Ordnung zu bringen, sie zu sortieren und so fassbarer zu machen. Wenn es dabei um die eigene Biografie geht, ist das Ziel, uns in der Welt verortet zu sehen, als Teil eines Ganzen. Wir erfahren Wort für Wort mehr über unseren Platz in dieser Welt:

„In den goldenen Faden unserer Existenz, ins Licht unseres Daseins webt sich der rote Faden unseres Schicksals ein. Beides zusammen stellt das Gewebe unseres Lebens dar.“

Der Buchtipp dazu:

Liane Dirks: Sein & Werden: Schätze und Chancen unserer Biografie neu erkennen

Anhand verschiedener Fragen nimmt Liane Dirks den Leser an die Hand und läuft die Stationen seines Lebens ab. Sie beleuchtet den Anfang, wo die Lebensreise begann, analysiert, was uns als Menschen ausmacht und wodurch wir wachsen, zeigt auf, was Liebe bedeutet und wieso sie so wichtig ist. Sie zeigt auf, was wir vom Leben lernen können und wieso es wichtig ist, die kleine egozentrische Sicht zugunsten eines grösseren Zusammenhangs zu erweitern. Wir sind alles Teil eines Ganzen, Teil einer Welt. Was es heisst, darin verortet zu sein, schliesst das Buch schliesslich ab.

Liane Dirks ist ein wunderbares Buch über das Erkennen des eigenen Seins gelungen. Wie einer ist und was ihn ausmacht, welche Geschichten über sich er sich erzählt und wie neue Geschichten aussehen könnten – all das sind Themen dieses Buchs.

Zur Autorin
Liane Dirks, geboren 1955, ist freie Schriftstellerin, Meditations- und Tai-Chi-Lehrerin und hat eine Ausbildung in klientenzentrierter Gesprächstherapie absolviert. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen und trug mit ihren Romanen zu wichtigen gesellschaftlichen Debatten bei. Sie entwickelte den zertifizierten Ausbildungsgang zum Life Script® Coach in kreativer potenzialorientierter Biografiearbeit, der Selbstentfaltung, Kreativität und Spiritualität zusammenführt. Liane Dirks gibt regelmäßig Seminare und lebt in Köln.

Angaben zum Buch
Herausgeber : Kösel-Verlag (2. November 2022)
Gebundene Ausgabe : 272 Seiten
ISBN-13 : 978-3466347377

Gedankenvoller Jahresausklang

Das Jahr neigt sich dem Ende zu, heute ist der letzte Tag. Ich merke, wie ich stiller werde, wie ich beginne, das Jahr zu reflektieren, hinsehe, was war, wie mein Weg durch dieses Jahr aussah. Es sind nicht mal so sehr die Erlebnisse, die mich beschäftigen, eher die Gefühlswelten, die Interessenlagen, die Themen, die präsent waren. Und wenn ich diesen Weg ansehe, der doch ein sehr kurvenreicher war, kommt natürlich der Gedanke ans neue Jahr auf: Wie wird der Weg weiter gehen? Was sind meine Ziele, meine Wünsche, meine Möglichkeiten?

Max Frisch schrieb:

„Schreiben heisst, sich selber lesen.“

Ich merke, dass mir im Moment die Antworten fehlen, also fange ich an zu schreiben. Ich fülle Seite um Seite im Notizbuch und versuche, mich selbst zu finden, zu ergründen. Es ist ein stiller Prozess des Herantastens. Einst sagte ich, ich sei ein schreibender Mensch. Das bestätigt sich immer wieder. Schreibend versuche ich, die Welt und mich in ihr zu verstehen. Und manchmal komme ich beidem für einen Moment auf die Schliche. 

Tagesgedanken: Schreiben

«Ich brauchte einige Jahre, um herauszufinden, was ich war. Eine Schriftstellerin. Womit ich nicht eine ‚gute‘ oder eine ‚schlechte‘ Schriftstellerin meine, sondern einfach eine Schriftstellerin, ein Mensch, der seine tiefsten und leidenschaftlichsten Stunden damit verbringt, Wörter auf einem Stück Papier anzuordnen.»

Das schrieb Joan Didion und ich fühle, da ist eine Gleichgesinnte, da ich jemand, der mich versteht. Das Gefühl, wenn die Buchstaben fliessen, das Gefühl, wenn die Gedanken langsam auf dem Papier Gestalt annehmen, der Fluss des Schreibens, der ein unaufhaltsamer zu sein scheint plötzlich, wenn sich Wort an Wort in Sätze giesst, die zu dem werden, was im Kopf vorgeht, das aber vorher nicht so bewusst war, wie es nun wird, da es vor mir schwarz auf weiss erscheint. 

Schreiben ist die erste Tätigkeit des Tages und es zieht sich durch diesen hindurch. Lesen ist die Beschäftigung, die gleich danach kommt, die das Schreiben begleitet teilweise, ihm vorauseilt, um schliesslich oft den Tag auch zu beenden. Und so ziehen die Tage mit ihren Wörtern ins Land, Notizbücher füllen sich, Dokumente werden eröffnet, gefüllt, geschlossen, neue Welten entstehen, die vormals in meinem Kopf waren, nun ihren Weg in die Freiheit gefunden haben. Und in jedem Text komme ich mir wieder neu auf die Spur. Denn es ist, wie Joan Didion sagt:

«Ich schreibe ausschliesslich, um herauszufinden, was ich denke, was ich anschaue, was ich sehe und was das bedeutet. Was ich will und wovor ich mich fürchte.»

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Buchtipp: Joan Didion: Was ich meine

Joan Didion schrieb mal, dass sie nur darum schreibe, um herauszufinden, was sie denkt, fühlt, sieht. In diesem Buch werden wir Zeuge davon. In zwölf Essays lernt der Leser Amerika aus ihrem Blick kennen, erfährt mehr über ihr Leben in diesem Land und mit den Herausforderungen, die das Leben birgt. Mit ihrem Erzählen schafft es Joan Didion immer wieder, die Augen des Lesers für die Welt zu öffnen.

Angaben zum Buch:
Herausgeber: Ullstein Hardcover (24. Februar 2022)
ISBN-13: 978-3550201813
Übersetzung: Antje Rávik Strubel
Originaltitel: Let Me Tell You What I Mean

Tagesgedanken: Freiheit des Tuns

Carolin Emcke schrieb in ihrem Buch „Journal“ den wunderbaren Satz, in dem ich mich so gut wiederfinde:

„Ohne die Sprache, ohne das Schreiben, fühle ich mich wie ein Obdachloser ohne Heimat.“

So fühlte es sich an, als ich von einem Tag auf den anderen meine Sprache und mein Lesen verloren hatte. Ich stand zwischen all meinen Büchern und fand keinen Zugang mehr. Ich war wie ausgeschlossen aus einer Welt, die so eigentlich die meine war, doch sie blieb mir verschlossen. Jeder Versuch, hineinzukommen, scheiterte. Ich begann zu malen. Es klingt ein wenig wie ein Klischee und vermutlich entspricht es genau dem. Frau, mittleren Alters auf der Suche nach sich selbst.

Es war der verzweifelte Versuch, eine neue Heimat zu finden. Ich malte wie besessen, jeden Tag, für Stunden. Ich wollte „es richtig machen“, es sollte nicht einfach ein kleines Hobby am Rand sein, sondern ein neues Zuhause werden, mein neues Ich. Und da es sich nicht so anfühlte, war ich unsicher und interpretierte jede Äusserung von aussen als Abwertung meines Tuns und Seins. Und vermutlich war ich die einzige, die beides abgewertet hat innerlich. Weil ich zweifelte. Am Tun. An mir. An allem. Es fühlte sich nichts richtig an, es fühlte sich nichts richtig gut an.

Vieles gelang, vieles machte auch Freude. Einmal sagte mir jemand, ich müsse meine Sprache finden. Die Antwort war sofort klar: Ich habe keine Bildsprache, meine Sprache sind die Worte, doch die sind mir ausgegangen. Ich habe viele Sprachen ausprobiert, mich in vielen auch ein wenig wohl gefühlt für eine kurze Zeit, doch nie auf Dauer und nie so ganz. Und immer fehlte etwas, immer war da eine innere Unruhe, ein inneres Ziehen, ein Suchen, eine Unsicherheit in und mit mir.

Das alles war mir nicht so bewusst damals, ich erkenne es im Rückblick. Seit einiger Zeit bin ich endlich wieder zurück in meiner Heimat. Ich merke, wie ich in mir mit meinem Tun sicherer bin und mich darum nicht mehr so schnell in Frage gestellt fühle. Ich zweifle sicher noch immer ab und zu an mir, aber das eher situativ als in einem mich im Ganzen erschütternden Mass. Dafür bin ich dankbar.

Ich bin aber auch dankbar für den (Um-?)Weg. Er hat mich viel gelehrt. Und es sind einige Bilder entstanden, die mir sehr am Herzen liegen, auf die ich stolz bin, die mir viel Freude gemacht haben und weiter machen. Auch hat mir dieser Weg eine Zuflucht gewährt in einer Zeit, in der ich sie so sehr brauchte und suchte, in der so viel Unsicherheit und Haltlosigkeit lag. Ab und zu denke ich, damals war ich irgendwie freier, weil das Malen nicht so tief in mir war wie das Schreiben. Es hing nie so viel daran, es war nicht so eminent wichtig. Ich konnte auch mal nicht malen. Beim Schreiben ist das schwerer. Es ist ab und zu ein regelrechter Kampf, mich dazu zu entscheiden, mit Schreiben Lesen zu pausieren und mich anderem zu widmen. Aber vielleicht ist genau das die grösste Freiheit: Tun zu können, was einem so sehr Bedürfnis ist.

Stephan Porombka, Olav Kutzmutz: Erst lesen. Dann schreiben

22 Autoren und ihre Lehrmeister

Inhalt

«Anfänge sind die Tore, durch die wir als Leser die Welt eines Autors betreten. Allein deshalb haftet ihnen etwas Magisches an.»

Diesen Satz schreibt Matthias Göritz und bezieht ihn auf Charles Dickens, dessen Anfänge er als besonders gelungen erachtet, da in ihnen schon oft ganz viel vom Stil und Inhalt des Buches zu erkennen ist. Da schreibende Menschen meist auch lesende sind, zudem kein Mensch in seinem Tun alleine aus sich schöpft, sondern auf Vorbilder blickt, bleibt es nicht aus, dass auch Schriftsteller in einer Tradition stehen, ihre Lehrmeister haben.

Im vorliegenden Buch schreiben 22 Autoren von Autoren und Büchern, die sie bewundern und von denen sie gelernt haben.

Weitere Betrachtungen
Autoren wie Robert Gernhardt, Hanns-Josef Ortheil, Michael Rutschki und einige mehr schreiben über Freud, Novalis, Didion und Musil, beleuchten, was sie an deren Schreibstil schätzen, erzählen von den eigenen Lese- und Lernerfahrungen. Damit geben sie dem Leser dieses Buches nicht nur eine Ahnung vom eigenen Lesen und Lernen, sondern inspirieren natürlich auch zum Selberlesen dieser Bücher.

Wer als Leser noch über die Leseerfahrung hinausgehen will, findet am Ende eines jeden Essays eine kurze Anleitung, wie er selber anhand des vorgestellten Lehrers das eigene Schreiben trainieren kann. Insofern ist das vorliegende Buch ein Anstifter zum Lesen und Schreiben.

Persönliche Einschätzung
Schreibprozesse interessieren mich schon eine ganze Weile, ich las immer fasziniert davon, wie Schriftsteller vorgehen beim Schreiben ihrer Werke. Thomas Mann hat zum Beispiel darüber sehr detailliert Auskunft gegeben, neben zahlreichen Tagebucheinträgen, Essays und Interviews schrieb er sogar einen Roman zum Entstehungsprozess des «Doktor Faustus».

Dass mich das vorliegende Buch also angesprochen und in den Bann gezogen hat, liegt quasi auf der Hand.

Fazit:
Ein Buch voller Einblicke ins Lesen und ins Schreiben. Ein Lesebuch, ein Lehrbuch, ein Buch, das inspiriert. Sehr empfehlenswert.

Die Autoren
Olaf Kutzmutz wurde 1965 in Gelsenkirchen-Schalke geboren. Seit 1999 ist er Programmleiter Literatur der Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel. Er veröffentlichte u.a. „Grabbe. Klassiker ex negativo“ (1995) und gab unter anderem Bücher über Harry Potter und Max Frisch und zum Thema Warum wir lesen, was wir lesen und Fragen literarischer Übersetzungen heraus.

Stephan Porombka, geboren 1967 in Salzgitter, ist Professor für Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim. Von ihm erschien u. a. „Hypertext“ (2001) und zuletzt „Kritiken schreiben. Ein Trainingshandbuch“. (2006)

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 272 Seiten
Verlag: ‎ Sammlung Luchterhand; Originalausgabe Edition (11. Juni 2007)
ISBN: ‎ 978-3630621159

Zu kaufen in jeder Buchhandlung vor Ort oder online u. a. bei AMAZON.DE und ORELLFUESSLI.CH

Frei sein

Nachher muss ich unbedingt noch schnell beim Antiquariat vorbei, mein Biedermeierschränkchen besuchen. Bald ist es wirklich meines, dann habe ich das Geld beisammen. Es waren doch viele Überstunden nötig gewesen bis dahin, Müllers blöde Bemerkungen mit seinem anzüglichen Lächeln und flötender Stimme inklusive… «Sie sind aber ein fleissiges Bienchen, Frau Bigler.» Wieso bin ausgerechnet ich mit einem so üblen Chef gesegnet? Mehr als dringend nötig, möchte ich den sicher nicht ertragen. Ich bin froh, wenn ich wieder weniger arbeiten kann. Aber vielleicht ist der Einsatz auch für eine Beförderung oder Lohnerhöhung gut. Zeit dafür wäre es.

Wenn ich nur schon den Einkauf hinter mir hätte, dann könnte ich gleich zu meinem Schränkchen. Hoffentlich hat es mir niemand weggeschnappt, dann wäre alles umsonst gewesen. Mist, ich habe keine Jacke dabei, es ist doch immer so kalt im Lidl. drehen die Klimaanlage immer so stark auf, dass man fast im Skianzug einkaufen muss, um im Hochsommer drin nicht zu erfrieren.

Die beiden Penner, die täglich vor dem Eingang sitzen, sind auch schon wieder da. Penner. Schon wieder reingefallen. Ich wollte mir doch einen bewussteren Umgang mit der Sprache suchen, Penner ist kein schönes Wort. Es ist sogar sehr niederträchtig.

Sie sind immer zu zweit, eine Bierbüchse in der Hand. Sie reden, sie lachen, ihre Hunde liegen zu ihren Füssen. Die haben bestimmt kein Biedermeierschränkchen zu Hause, vermutlich wollen sie auch keines. Aber sie haben auch keinen Herrn Müller im Nacken. Überhaupt. Eigentlich hat ihr Leben auch was für sich. Sie haben eine Gemeinschaft, sind nicht allein in ihrem Sein. Sie leben in den Tag hinein, keiner erwartet etwas von ihnen, man lässt sie in Ruhe. Auch sie scheinen nichts mehr von Leben zu erwarten, sie scheinen sich in ihrem eingerichtet zu haben. Ob das die wirkliche Freiheit ist?  


EIn Beitrag zu den ABC-Etüden. Die Wörter für die Textwochen 42/43 des Schreibjahres 2021 stiftete die Frau Puzzleblume mit ihrem Blog Puzzle❀. Sie lauten:
Biedermeier
niederträchtig
flöten.
Die Regeln: 3 Begriffe in maximal 300 Wörtern.
Einladung bei Christiane: HIER