Ich hebe mein Glas auf Max Frisch

„Dass es ein unsagbares Glück ist, leben zu dürfen, und dass wohl nirgends die Leere sein kann, wo dies Gefühl auch nur einmal wirklich errungen worden ist, dies Gefühl der Gnade und des Dankes.»

Zu spät, aber von Herzen hebe ich mein Glas auf Max Frisch, der gestern 113 Jahre alt geworden wäre. Ich habe mich immer wieder mit ihm als Menschen, mit seiner Biografie und Interviews beschäftigt, habe seine Fragebögen beantwortet, bin in sein Werk eingetaucht. Ich mag ihn, er ist mir in seinem Denken, in seiner Art, die Dinge anzugehen, sie zu hinterfragen, nah. 

Er war kein Heiliger, was ihm oft zum Vorwurf gemacht wurde. Vor allem die Beziehung zu Ingeborg Bachmann wurde ihm zu Lasten gelegt, war sie durch ihr Leiden und ihren mysteriösen Tod später ein vermeintlich offensichtliches Opfer. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte, wie so oft. Sein Satz, der auch zum Titel des Briefwechsels wurde, hat viel Wahres:«Wir haben es nicht gut gemacht.»
Was er gut gemacht hat, sind seine Werke, die ich immer wieder lesen kann und immer wieder Neues finde, das mich begeistert. Frei nach Gretchen: Wie haltet ihr’s mit Max Frisch?
Habt einen schönen Tag!

Mehr zu Max Frisch:

Sunil Mann – Nachgefragt

 Sunil Mann wird am 21. Juni 1972 im Berner Oberland/Schweiz als Sohn indischer Einwanderer geboren. Er verbringt seine Jugend bei Pflegeeltern in Spiez und besucht in Interlaken das Gymnasium. Nach einem erfolgreichen Studienabbruch in den Fächern Psychologie und Germanistik (in Zürich) versucht er sich im Gastgewerbe mit einem halbherzigen Besuch der Hotelfachschule Belvoirpark. Danach arbeitete er 20 Jahre als Flugbegleiter, unterbrach aber immer wieder für mehrmonatige Aufenthalte im Ausland (Israel, Ägypten, Japan, Indien, Paris, Madrid, Berlin, etc.), so dass er genügend Zeit zum Schreiben hatte. Er wurde dafür mehrfach ausgezeichnet. Seit 2018 lebt er als freischaffender Autor in Zürich, wo er sein Heim mit einer wachsenden Anzahl Bücher und Ginflaschen teilt.

Wer bist du? Wie würdest du deine Biografie erzählen?

Aufgewachsen in einer eher ländlichen Umgebung, ziemlich behütet, andererseits aber auch von klein auf an eine besondere Familiensituation gewohnt. Das Pendeln zwischen den sehr schweizerischen Pflegeeltern und meiner sehr indischen Mutter gehörte zu meinem Leben, und dieser konstante Spagat zwischen den Kulturen hat mich nachhaltig geprägt. Schon früh wusste ich, dass ich schreiben wollte. Da damals aber keine Ausbildung in der Richtung existierte, musste ich meinen Weg selber finden. Was ich im Moment als enorm mühsam empfand. Im Nachhinein hat sich das aber als Vorteil erwiesen. Ich habe viele Erfahrungen gesammelt, die mir jetzt noch zugutekommen. Dieser Weg hat mich auch gelehrt, mich für mein Ziel einzusetzen, Frusttoleranz zu entwickeln und mich nicht von Fremdmeinungen beirren zu lassen.

Du sagtest in unserem letzten Interview, dass Schreiben für dich nicht nur ein Hobby sei, das zum Beruf wurde, sondern etwas, das dein Leben reicher macht. Würdest du das noch so sehen? Oder anders: Wieso schreibst du?

Das würde ich immer noch unterschreiben. Ich kann mir keine Tätigkeit vorstellen, die mich glücklicher macht als Schreiben. Ich tue das, weil ich erstens glaube, dass ich es kann. Mittlerweile habe ich Erfahrungen in ganz unterschiedlichen Genres gesammelt und gemerkt, dass Schubladen eine sinnlose Erfindung engstirniger Menschen sind. Zweitens bin ich – nicht zuletzt aufgrund meiner Biografie – in der Lage, Dinge zu erzählen, die sonst niemand erzählt, Themen anzusprechen wie zum Beispiel Alltagsrassismus, um die die meisten anderen Autor*innen (und auch die Medien, notabene) einen grossen Bogen machen. Und drittens zahlt es die Miete und den einen oder anderen Drink.

Woher holst du die Ideen für dein Schreiben? Natürlich erlebt und sieht man viel, aber wie wird eine Geschichte draus?

Ideen kommen überallher. Sei es ein Zeitungsausschnitt, ein unfreiwillig mitgehörtes Handygespräch im Tram, Netflix oder auch mal von einem Roman, den ich gelesen habe. Eine Idee allein reicht allerdings in der Regel nicht für ein ganzes Buch (es gibt da Ausnahmen), meist ist es bloss ein Denkanstoss, von dem aus sich dann irgendwie eine eigenständige Geschichte entwickelt. Wie genau, habe ich immer noch nicht herausgefunden. Mein Gehirn macht das selbstständig, sobald der Druck (nahende Abgabetermine!) gross genug ist.

Wenn du auf deinen eigenen Schreibprozess schaust, wie gehst du vor? Entsteht zuerst ein durchdachtes Gerüst oder aber schreibst du drauflos und schaust, wo dich das Schreiben hinführt?

Auch wenn das in gewissen literarischen Kreisen verpönt ist, arbeite ich fast immer mit einem Plot. Also einem vorskizzierten Ablauf einer Geschichte. Gerade bei Kriminalromanen ist das sehr hilfreich, damit man sich nicht in der Handlung verliert oder zu geschwätzig wird. Allerdings verändert sich dieser Ablauf, sobald ich mit dem Schreiben beginne. Da kommen mir plötzlich Dutzende neuer Ideen. Es gilt dann abzuwägen, was hineingehört und was man besser weglässt. Damit verändert sich zwangsläufig die Storyline. Ich habe vermutlich noch nie das Buch geschrieben, das ich mir ursprünglich vorgestellt habe. Die Ausnahme ist „In bester Absicht“, mein erster „literarischer“ Roman. Da habe ich ohne Plot gearbeitet und stattdessen diverse Szenen separat geschrieben, sie dann zusammengehängt und anschliessend die inhaltlichen Lücken gefüllt.

Wenn man an Schriftsteller denkt und auch Interviews von früher liest, schreiben viele die ersten Entwürfe von Hand, oft sogar mit dem immergleichen Schreibmaterial (Legal Pad und Bleistift oder ein bestimmter Füller). Wie sieht das bei dir aus? Stift oder Tasten?

Der grösste Teil der Vorarbeit findet bei mir im Kopf statt. Ich überdenke die Geschichte, die ich erzählen will, so oft, bis sie zu mir gehört, bis ich sie richtig spüren kann. Dann erst schreibe ich einen Handlungsablauf auf, immer auf dem Laptop.

Ich hörte mal, der grösste Feind des Schriftstellers sei nicht mangelndes Talent, sondern die Störung durch andere Menschen. Brauchst du zum Arbeiten Stille und Einsamkeit, oder stören Sie andere Menschen nicht?

Ich bevorzuge Stille, im Café oder im Zug muss ich immer den Gesprächen ringsum zuhören. Ausserdem fände ich es wahnsinnig prätentiös, mit dem Laptop in der Öffentlichkeit rumzusitzen und die Welt wissen zu lassen, dass ich Schriftsteller bin.

Meiner Ansicht nach ist aber der grösste Feind eines Autors nicht die Umwelt, sondern mangelnde Disziplin.

Was sind für dich die Freuden beim Leben als Schriftstellerin, was bereitet dir Mühe?

Dass ich vom Schreiben leben kann und dass es mir immer noch Spass macht, ist ein Privileg. Das bedeutet auch eine gewisse Freiheit. Wenn ich die Nase voll habe von Zürich und seinem Wetter, kann ich auch mal irgendwo an die Sonne reisen und dort weiterarbeiten. Und ich liebe es, mich in Themen zu vertiefen, zu recherchieren. Mühe macht mir eigentlich fast nichts, höchstens vielleicht der ganze Bürokram, den ich natürlich auch erledigen muss, Auftraggebern nachrennen, die vergessen, die Gagen zu zahlen, die Steuererklärung.

Du hast in verschiedenen Genres geschrieben, vom Krimi über Kinderbücher bis hin zur Liebesgeschichte nun. Wieso dieser Wechsel?

Mich treiben beim Schreiben hauptsächlich zwei Dinge an: Neugier und Lust. Deswegen probiere ich gerne neue Dinge aus, bewege mich auch mal aus der Komfortzone raus in unbekannte Gefilde. Was ich nie sein wollte, ist ein One-Trick-Pony, also jemand, der immer genau dasselbe macht. Glücklicherweise wird das auch vom Publikum akzeptiert.

Es gibt die Einteilung zwischen hoher Literatur und Unterhaltungsliteratur (was oft einen abschätzigen Unterton in sich trägt). Was hältst du von dieser Unterteilung und hat sie einen Einfluss auf dich und dein Schreiben?

Ich finde das eine erschreckend antiquierte Haltung, die dringend abgeschafft gehört. Im englischen Sprachraum existiert sie schon lange nicht mehr. Dort werden auch Kriminalromane mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet, Kinderbücher in wichtigen Tageszeitungen besprochen. Was hierzulande wohl bei manchen für Schnappatmung sorgen würde. Gewisse Entscheidungsträger*innen klammern sich krampfhaft an diese Unterteilung, wobei – mir zumindest – nicht ganz klar ist, weshalb. Es gibt in allen Bereichen hervorragende Werke, aber natürlich auch Schrott. Gerade bei der Vergabe von wichtigen Literaturpreisen, die der Sichtbarkeit zuträglich sind, eine Vielzahl von Genres systematisch auszuschliessen, zeugt von einer unglaublichen Ignoranz. Vermutlich müssen wir einen Generationenwechsel in den Feuilletons und Literaturgremien abwarten, bis sich diesbezüglich etwas ändert.

Du bist immer wieder in Schulen, liest da vor Klassen. Wie bist du dazu gekommen und was reizt dich daran?

Ich habe mittlerweile vier Kinderbücher und zwei Jugendbücher geschrieben. Lesungen für diese Altersgruppen (vor allem für Jugendliche) funktionieren in der Regel nicht so gut als öffentliche Veranstaltungen. Gerade die älteren bringt man kaum dazu, freiwillig eine Lesung zu besuchen. Glücklicherweise setzen aber viele Schulen auf Leseförderung und laden dazu Autor*innen ein. Hinzu kommen all die kantonalen und regionalen Organisationen, die in ihren Programmen grossflächig Schullesungen anbieten. Das ist zwar zeitweise anstrengend, weil es bis zu vier Lesungen pro Tag sind, andererseits macht es mir auch Freude, den Lernenden zu zeigen, dass Literatur nicht zwangsläufig trocken und langweilig sein muss. Und die Diskussionen im Anschluss sind sehr bereichernd, man bekommt Einblick in die Welt der heutigen Jugend.

Eine neue Studie zeigt, dass das Leseverhalten von Schweizer Kindern zu denken gibt, das Leseverständnis ist bei einem Viertel der Kinder stark eingeschränkt bis teilweise gar nicht vorhanden. Wie erlebst du das?

Das ist leider schon länger so. Man darf auf gar keinen Fall verallgemeinern, aber es gibt Schüler*innen, die nicht in der Lage sind, einer Erzählung zu folgen. Entsprechend fehlt dann auch das Verständnis, das heisst, sie wissen im Anschluss nicht, was ich ihnen vorgelesen habe. Meiner Meinung nach hat das auch damit zu tun, dass ihnen zu Hause nie jemand vorgelesen hat. Was wiederum oft mit der beruflichen Situation der Eltern zusammenhängt und ob diese selber lesen. Das Gelesene kurz zusammenzufassen, hilft da teilweise, aber das Kernproblem ist damit natürlich bei Weitem nicht gelöst.

In Amerika sind Kurse in kreativem Schreiben schon lange populär, in unseren Breitengraden scheint immer noch die Idee vom Genie vorzuherrschen und das Lernen des Handwerks wird eher stiefmütterlich behandelt. Ist Schreiben lernbar? Und wenn ja, wieso scheint das fast verpönt bei uns?

Grundsätzlich ist alles lernbar, davon bin ich überzeugt. Ob man dann auch gut in dem Bereich ist, hängt davon ab, wie viel Talent vorhanden ist, ob man was zu erzählen hat und inwiefern man bereit ist, sich wirklich ins Zeug zu legen. Wichtig ist dabei, dass man eine eigene Sprache entwickelt, eine eigenständige Art des Erzählens. Dass es bei uns so wenig Angebote dazu gibt, hängt womöglich damit zusammen, dass man in der Schweiz künstlerischen Tätigkeiten gegenüber eher misstrauisch eingestellt ist. Ich werde oft gefragt, ob ich auch einen richtigen Beruf habe.

Du bietest auch Schreibworkshops für junge Erwachsene an. Wieso die Einschränkung?

Das ist eigentlich immer die Entscheidung des Veranstalters. Ich werde im Frühjahr 2024 wieder einen Kurs im Literaturhaus Aargau geben, der sich explizit an junge Erwachsene richtet. Und einen an der Octopus Schreibschule in Zürich für Kinder zwischen neun und zwölf. Aber es gibt etliche Workshops für Erwachsene. Bei Octopus, aber auch in der Geschichtenbäckerei oder bei Schreibszene.ch

Was rätst du einem (jungen) Menschen, der ernsthaft ein Buch schreiben möchte?

Sich erst einmal zu überlegen, was er schreiben möchte, wie die Geschichte verlaufen soll. Vor allem das Ende ist wichtig, damit er nicht unterwegs plötzlich steckenbleibt. Und dann gibt’s nichts anderes als sich hinzusetzen und zu schreiben. So regelmässig wie irgend möglich.

Herzlichen Dank, lieber Sunil, für deine Zeit und diese aufschlussreichen Antworten!

Sunil Manns Homepage: https://www.sunilmann.ch/

Gedankensplitter: Wertschätzung

Viele kennen sie, die Erzählungen der verschrobenen Schriftsteller, die sich zum Schreiben in ihr Zimmer einschliessen und nicht gestört werden wollen. Ruhe brauchen sie, Alleinsein. Hinter mehr oder weniger vorgehaltenen Händen zerreisst man sich das Maul: Ein komischer Kauz sei das, ein asozialer Mensch, ein Eigenbrötler. Aber man ist ja tolerant. Wenn er es so will, lässt man ihn, denkt sich seinen Teil.

Dem Schreibenden bleibt das kaum verborgen, ist er doch generell ein eher aufnahmefähiges Gemüt, weswegen er auch überall neue Ideen sieht und Inspirationen findet. Das ist übrigens mit ein Grund für den Wunsch der Ruhe und Abgeschiedenheit, denn ansonsten wären die Einflüsse so dominant, dass die Aufmerksamkeit nicht bei der zu beschreibenden Seite bleiben könnte. Einerseits schmerzt das Unverständnis, doch immerhin wird die Ruhe gewährt. Man kann wohl nicht alles haben im Leben, denkt sich der Schreibende, und wendet sich seinem leeren Blatt zu.

Wie schön, wenn es auch anders geht. Davon schreibt Deborah Levy in ihrem Buch «Was das Leben kostet». Ihr Leben ist gerade in seiner alten Form auseinandergebrochen, ein neues ist im Aufbau und wird nach und nach eingerichtet. Nur eines fehlt: Ein Ort zum Schreiben. Eine Freundin sieht das und hilft. Nicht nur stellt sie ihr den Raum zur Verfügung, sie sorgt auch für die nötige Ruhe:

«Solange sie Wache hielt, durfte niemand mich stören, niemand an meine Tür klopfen, um mich zum Plaudern anzustiften… Derart geschätzt und respektiert zu werden, als sei es das Normalste der Welt, war eine ganz neue Erfahrung.» Deborah Levy

In diesem Moment, es könnte die dunkelste Zeit ihres Lebens sein, wendet sich vieles zum Guten. Deborah Levy wird in diesem Raum drei Bücher schreiben und sie wird es aus der Sicht der ersten Person tun – als ob sie diese erst jetzt gefunden hätte. Was für ein Glück, einen Menschen zu finden, der einen nicht nur vordergründig toleriert, sondern im ganzen Sein und Tun wertschätzt.

«Einen Schutzengel wie Celia hat jeder Mensch verdient.» Deborah Levy

Adolf Muschg (13. Mai 1934)

Adolf Muschg wird am 13. Mai 1934 in Zürich geboren. Seine Mutter ist Krankenschwester und die zweite Frau des Primarlehrers Friedrich Adolf Muschg. Es war ist einfache Kindheit: der Vater macht seinem Namen (Adolf) alle Ehre, indem er den Juden unterstellt, ihren Tod selbst gewollt zu haben. Zudem hat er ein eher rigides Verständnis von Sünde. Die Mutter ist psychisch instabil, weilt immer wieder in der Psychiatrie, und kümmert sich nur um ihren Sohn, wenn er krank ist. Muschg bezeichnet diese Tage als «Glückstage», weil er der Krankheit einen Gewinn abgeluchst habe. Dass er zum Hypochonder wird später (ein Thema, das er auch in seinen Romanen aufgreift), führt er darauf zurück.  

«Man muss sehr früh viel verbergen. Wenn es ein Privileg des Schreibens gibt, dann, dass man diesen Dingen nachforscht. Es sind Schätze nicht gelebten Lebens.»

Ausser einem kurzen Abstecher in ein Internat in Schiers verbringt er seine Schulzeit in Zürich, wo er auch studiert, nämlich Germanistik, Anglistik und Psychologie, auch das mit einem Abstecher, dieses Mal nach Cambridge. Er promoviert über die Dichtung Ernst Barlachs, arbeitet danach als Gymnasiallehrer in Zürich sowie an diversen Universitäten. 1970 wird er Professor für Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an der ETH in Zürich.

Muschg hat dreimal geheiratet und ist Vater von drei Söhnen. Er ist zeitlebens vielseitig engagiert, auch politisch, was ihm sogar mal die Bezeichnung «Volksfeind» einbrachte, womit er sich in guter Gesellschaft mit Max Frisch befindet, welcher als «Staatsfeind Nr. 1» bezeichnet wurde. (Ein interessantes Bild, welches das von der Schweizer Politik und deren Sicht auf die eigenen Künstler wirft.)

Adolf Muschg hat 30 Romane, Essays, Drehbücher, Theaterstücke und Biografien verfasst und wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet.

In seinem jüngsten Roman, «Aberleben», hat Adolf Muschg nochmals aus dem Vollen geschöpft – vielleicht fast gar viel. Fast möchte man meinen, er hätte alle Themen und literarischen Mittel eines ganzen Schriftstellerlebens zusammengenommen und in eine neue Form gegossen. Wir reisen mit einem alten Schriftsteller nach Berlin, raus aus der Schweiz und einer Ehe, hin zu neuen Ufern. In der Geschichte geht es um das Schreiben und das Leben, das Lieben und das Lügen, um Identität und Zugehörigkeit. Die Geschichte weist ein Sammelsurium von literarischen Bezügen auf, und fast möchte man sich ein wenig an Max Frisch erinnert sehen, finden sich doch offensichtliche Bezüge zu dessen drei Romanen «Mein Name sei Gantenbein», «Stiller» und «Homo Faber». Dass er Max Frisch sehr schätzte, sagte er in einer Sendung anlässlich von dessen Tod, so dass diese Hinweise wohl kaum Zufall waren.

Adolf Muschg lebt heute in der Nähe von Zürich.

Ausgewählte Werke:

  • 1965 Im Sommer des Hasen
  • 1967 Gegenzauber
  • 1974 Albissers Grund
  • 1986 Goethe als Emigrant
  • 1993 Der Rote Ritter. Eine Geschichte von Parzival
  • 2001 Sutters Glück
  • 2008 Kinderhochzeit
  • 2015 Die japanische Tasche
  • 2018 Heimkehr nach Fukushima
  • 2021 Aberleben

Anatol Regnier: Jeder schreibt für sich allein

Inhalt

«Was war mit den […] hiergebliebenen Autorinnen und Autoren? […] Würde eine Beschäftigung mit ihnen nicht Einblicke in die Mechanismen des Nationalsozialismus gewähren und Fragen nach der Lebenswirklichkeit meiner Eltern und ihrer Generation beantworten, die mich seit meiner Jugend umtreiben? Vielleicht liesse sich sogar etwas über die Jetztzeit sagen.»

Was bedeutete es, im Dritten Reich Schriftsteller zu sein? Wie frei war man in seinem Tun und Sein und so musste man sich anpassen? Bedeutete Anpassung schon Kooperation oder gar Mithilfe? Wie konnte man sich abgrenzen und was durfte man offen sagen, gar kritisieren?

«Es bildete sich ein Kreis von Persönlichkeiten, deren Lebensweg ich begleiten wollte und die mir repräsentativ für die Gesamtheit erschienen.»

Anhand verschiedener Schriftsteller aus dem nationalsozialistischen Deutschland zeichnet Anatol Regnier ein differenziertes Bild der damaligen Verhältnisse für Schriftsteller und erzählt von der Gratwanderung zwischen Richtig und Falsch, die nicht immer so eindeutig waren, wie es vordergründig scheinen mag.

Weitere Betrachtungen
Schriftsteller, die während des Dritten Reichs ins Exil gingen, sind hinlänglich bekannt. Unzählige Bücher sind über sie geschrieben worden, ihre Literatur wurde unter dem Begriff Exilliteratur versammelt und als eigenständige Kategorie gehandelt. Woran mag das gelegen haben? Natürlich sind einige sehr grosse Namen darunter, man denke nur an Thomas Mann, Anna Seghers, Stefan Zweig und viele mehr, aber ist das der einzige Grund? Könnte ein Grund auch sein, dass die Rolle der Daheimgebliebenen komplexer erscheint, da man sie einordnen muss und das nicht so leicht fällt?

«Aber ernsthafte Gespräche über die Vergangenheit, ein Beleuchten des Nationalsozialismus, in dem man schliesslich zwälf Jahre lang gelebt und gearbeitet hat, gab es nicht. Heute weiss ich: Es hätte eine Überprüfung auch der eigenen Rolle erfordert, unbedeutend wie sie gewesesen mag.»

Das Schweigen der Nachkriegsgeneration könnte ein weiterer Grund dafür sein, denn es dauerte lang. Die Gründe dafür mögen vielfältig sein, Schuld, Scham und fehlende Worte mögen dazu gehört haben, war doch die eigene Rolle nicht immer eindeutig festzulegen. Die Emigranten waren Opfer eines Systems und mit Opfern fühlt man landläufig eine Form von Sympathie, sei sie auch nur aus einem Mitgefühl gewachsen. Die Dagebliebenen haben es da schwerer, denn wer geblieben war, könnte durchaus in einer Beziehung zu den Tätern gestanden haben.

Anatol Regnier hat sich diesen Schriftstellern angenommen. Anhand von Nachlässen und Korrespondenzen greift er auf die Originalstimmen der Schriftsteller zurück, schreibt sich anhand von einzelnen Geschichten aus den Leben der jeweiligen Schriftsteller durch die Zeit und legt so ein komplexes Bild der damaligen Situation auf den Tisch. Er schreibt über die Auflagen und Zwänge, welchen die Schriftsteller unterlagen, und die Möglichkeiten, die ihnen blieben.

Durch den chronologischen Aufbau gelingt es, die sich langsam verändernden Bedingungen nachzuvollziehen und nachzuvollziehen, was dies für die einzelnen Schriftsteller bedeutete. Da Regnier nicht an der Tür der jeweiligen Künstler stehen bleibt, sondern quasi in ihr innerstes Blickt durch seine Recherche, gelingt es ihm, die jeweiligen Persönlichkeiten mitsamt ihren Kämpfen, Zweifeln, Nöten vorzustellen. Er zeigt dabei auf, dass es nicht immer leicht ist, zu entscheiden, auf welcher Seite genau jemand stand, wozu jemand bereit war zum eigenen Nutzen und wo die Grenze zwischen Gut und Böse wirklich verlief.

Regnier überlässt das Urteilen dem Leser, er liefert – und das tut er differenziert, detailliert und fundiert – die vorhandenen Hintergründe ohne zu moralisieren und auf eine gut lesbare und verständliche Weise. Dass bei der grossen Spanne der Zeit und der Vielzahl der behandelten Schriftsteller keine umfassende und abschliessende Analyse jedes einzelnen möglich ist, liegt in der Natur der Sache, allerdings ist es Anatol Regnier gelungen, einen informativen und durchaus ausführlichen Überblick über ein Thema zu liefern, der zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema anregt.

Persönlicher Bezug
Ich habe mich viel mit Exil- und mit Überlebendenliteratur befasst in meinem Studium und auch danach. Zwar gehören einige der in Deutschland gebliebenen Autoren durchaus zu meinen Lieblingen, zum Beispiel Erich Kästner, dessen Biographie ich auch kannte, trotzdem war mir über die Situation in Deutschland, im Speziellen für die Schriftsteller vor Ort, nicht nichts, aber doch wenig bekannt. Als ich von dem Buch hörte, war klar, dass ich diese Lücke schliessen wollte.

Mein Hauptinteresse bleibt trotz allem eher im Bereich Exilliteratur, einfach weil mich das Thema der Opfer des Nationalsozialismus so tief und lange schon beschäftigt, trotzdem bin ich froh, mit diesem wirklich grossartigen Buch ein weiteres Puzzleteil zum Gesamtbild hinzugefügt zu haben.

Fazit
Ein sehr informatives, kompetentes, differenziertes und tiefgründiges Buch über die Situation von Schriftstellerin im Dritten Reich, das zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema einlädt. Sehr empfehlenswert.

Autor
Anatol Regnier, wurde 1945 als Sohn von Pamela Wedekind und Charles Regnier geboren. Er ist Gitarrist, Chansonsänger und freier Autor. Er wurde 2005 mit dem Ernst Hoferichter Preis und 2021 mit dem Schwabinger Kunstpreis ausgezeichnet. Er schrieb unter anderem eine Biografie seines Grossvaters, Frank Wedekind, mit welchem er grossen Erfolg hatte.

Angaben zum Buch
Herausgeber: C. H. Beck; 1. Edition (17. September 2020)
Gebundene Ausgabe: 366 Seiten
ISBN: 978-3406755927

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Uwe Wittstock: Februar 33

Der Winter der Literatur

Inhalt

«Wenn der Satz, Hitlers Verbrechen seien unvorstellbar, einen Sinn hat, dann gilt er zuallererst für seine Zeitgenossen. […] Vermutlich gehört es zur Natur eines Zivilisationsbruchs, schwer vorstellbar zu sein.»

 Joseph Roth, Thomas Mann, Berthold Brecht, Heinrich Mann, Klaus und Erika Mann, Alfred Döblin, Erich Mühsam, Erwin Egon Kisch, Else Lasker-Schüler, Ricarda Huch und viele mehr sind betroffen von einem Umbruch, der in Deutschland 1933 stattfindet: Hitler soll Reichskanzler werden und damit wird sich das Leben der oben genannten ändern. Ihre Stücke können nicht mehr aufgeführt, ihre Bücher nicht mehr gedruckt werden. Sie werden verfolgt, eingesperrt, bedroht und müssen schliesslich fliehen.

«Heute muss er [Heinrich Mann] sich auf konspirativen Wegen aus dem Land schleichen. Er, einer der wichtigsten Schriftsteller des Landes, darf froh sein, wenn man ihn nicht erkennt. Zu Fuß ist er unterwegs, mit einem Köfferchen in der Hand und einem Schirm, mehr nicht.»

Uwe Wittstock arbeitet sich Tag für Tag durch einen Monat, der nicht nur Deutschland und das Leben da, sondern die ganze Welt verändern wird. Er zeichnet mit grossem Wissen und auf gut lesbare Weise einerseits die politischen Entscheide und Fakten auf, und beleuchtet, was diese für Auswirkungen auf das Leben der dargestellten Literaten hat. Viele schauen zwar besorgt, aber doch nicht hoffnungslos auf die sich verändernde politische Landschaft. Zwar erkennen sie mehrheitlich das Verhängnis einer Wahl Hitlers, glauben aber nicht, dass diese Regierung lange an der Macht sein wird, geschweige denn, dass sie zum Verhängnis für so viele Menschen werden kann. So kommt es dann bei vielen zu sehr überstürzten Abreisen aus Deutschland, weil die Gefahr oft zu spät, wenn zum Glück auch oft gerade noch rechtzeitig, erkannt wurde.

Weiterführende Betrachtungen

«Nur diesen Monat brauchte es, um einen Rechtsstaat in eine Gewaltherrschaft ohne Skrupel zu verwandeln.»

Uwe Wittstock zeichnet die Zeit vom 28. Januar bis zum 15. März 1933 nach, erläutert in kurzen Abschnitten die politischen Umbrüche und sich verändernden Umstände für die Bevölkerung anhand verschiedener Biographien von Schriftstellern. Als Leser ist man Zeuge eines Umbruchs und dem langsamen Bewusstwerden einzelner Schriftsteller, dass die Weimarer Republik zu Ende ist, jeder, der noch daran festhalten will, aufs falsche Pferd setzt – nicht nur das: Er ist in Gefahr, da nicht völkisch Denkende als Gefahr für die neue Regierung und damit (sogenannt) das Volk eliminiert werden sollen – mit Schiesserlaubnis.  

Das vorliegende Buch ist einerseits ein informatives Zeitzeugnis, andererseits auch eine Warnung, den Blick heute nicht zu verschliessen vor alarmierenden Veränderungen in der Gesellschaft. Die wachsende Spannung in und Spaltung derselben, Terrortaten und zunehmender Judenhass sind nur einige aktuelle Probleme, denen es bewusst zu begegnen gilt, die nicht ignoriert werden dürfen. Das Buch ist ein gutes Mittel, sich vor Augen zu führen, dass eine Demokratie aktiv geschützt werden muss, dass politische Fehlentscheide verheerende Folgen haben können – für den Staat, für die Gesellschaft, für den Einzelnen.

Uwe Wittstock ist es gelungen, in einem überschaubaren Rahmen geschichtliche Fakten und persönliche Schicksale aufzuzeichnen. Das Buch ist ab und an sprachlich uneinheitlich, schwankt von fast romanhaften Wendungen hin zu faktisch-sachlicher Sprache und weist andererseits einige Redundanzen auf. Dies sei nur der objektiven Sicht wegen gesagt, tut dem Wert des Buches aber keinen Abbruch.

Persönlicher Bezug
Die Zeit um das Ende der Weimarer Republik, die Machtergreifung der Nationalsozialisten und den Zweiten Weltkrieg ist seit vielen Jahren, mittlerweile Jahrzehnten eine mich faszinierende und in verschiedenen Forschungsprojekten auch beschäftigende. Als Literaturwissenschaftlerin und politische Philosophin war dieses Buch also quasi eine Pflichtlektüre, vereint es doch die Themen, die mir so lange am Herzen liegen. Sie tun dies aber nicht nur aus reinem Interesse an der Geschichte, sondern eher vor dem Hintergrund, dass ich denke, dass wir nicht vergessen dürfen, was passiert ist – gerade mit Blick auf die Situation heute.

Der Satz, dass man aus der Geschichte lernen kann, hat sich leider oft nicht bewahrheitet, weil immer wieder gleiche Fehler passieren. Dies tun sie aber umso mehr, wenn wir die Vergangenheit zu wenig bewusst vor Augen haben. Bücher wie dieses können das ändern.

Fazit
Ein grossartiges Buch über die politische Lage eines folgenreichen Umbruchs und die Geschichte einiger Schriftsteller, die davon betroffen und bedroht waren. Eine ganz grosse Leseempfehlung.

Zum Autor
Uwe Wittstock ist Literaturkritiker und Buchautor. Bis 2018 war er Redakteur des „Focus“, für den er heute als Kolumnist schreibt. Zuvor hat er als Literaturredakteur für die FAZ (1980 – 1989), als Lektor bei S. Fischer (1989 – 1999) und als stellvertretender Feuilletonchef und Kulturkorrespondent für die «Welt» (2000 – 2010) gearbeitet. Er wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis für Journalismus ausgezeichnet.

Mehr zu Uwe Wittstock findet sich auf seiner
Homepage: uwe-wittstock.de
und in seinem Blog: http://blog.uwe-wittstock.de/

Angaben zum Buch
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: C.H.Beck; 2. Edition (16. September 2021)
ISBN: 978-3406776939

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Theodor Fontane (30.12.1819 – 20.9.1898)

„Es ist immer dasselbe Lied: wer durchaus Schriftsteller werden muss, der wer’ es; er wird schliesslich in dem Gefühl, an der ihm einzig passenden Stelle zu stehen, auch seinen Trost, ja, sein Glück finden. Aber wer nicht ganz dafür geboren ist, der bleibe davon.“

Theodor Fontane wird am 30. Dezember 1819 in Neuruppin geboren, wo er später auch das Gymnasium besucht. Nach einem abgebrochenen Besuch der Gewerbeschule beginnt er 1836 eine Ausbildung zum Apotheker, um in die Fussstapfen seines Vaters zu treten und arbeitet nach deren Abschluss als Apothekergehilfe. Daneben erscheinen bereits erste literarische Werke. 1849 hängt er den Apothekerberuf an den Nagel, um als freier Schriftsteller zu arbeiten.

«Ohne Vermögen, ohne Familienanhang, ohne Schulung und Wissen, ohne robuste Gesundheit bin ich ins Leben getreten, mit nichts ausgerüstet als einem poetischen Talent und einer schlechtsitzenden Hose.“ (Brief an Georg Friedländer, 3. Oktober 1893)

Um finanziell über die Runden zu kommen, wird er Journalist und reist in dieser Funktion nach London, von wo er unter anderem über Kunstausstellungen berichtet – es zeigt sich darin der Kunstkenner Fontane. Daneben verfasst er Theaterkritiken und Reisebücher – alles befriedigt ihn nicht, so dass er wieder freier Schriftsteller wird. Diesem Entschluss verdanken wir heute viele grossartige Bücher.

Theodor Fontane stirbt am 20. September 1898 in Berlin.

Die Romane
Theodor Fontanes Romane werden dem poetischen Realismus zugeordnet. Er beschreibt in seinen Büchern das Leben von ganz normalen Menschen, zeigt ihre Befindlichkeiten und Schwierigkeiten. Es sind stille Bücher, die trotzdem eine grosse Tragkraft haben und in denen immer wieder Fontanes ironischer Humor durchkommt. Seine Bücher beginnen meistens gleich: Man fährt – wie bei der Kameraführung im Film – die Strasse entlang zum Haus, in den Garten, die Treppe hoch in die Wohnung und wird dann mit den Hauptfiguren des Romans bekannt. Man lernt ihre Stube kennen, die Bilder an der Wand, erfährt von einem auktorialen Erzähler einiges über ihre Geschichte und ihr aktuelles Leben.

Theodor Fontane ist aber nicht nur ein Meister der Beschreibungen, er ist auch ein Meister der Lücken. Ganz viel steht bei ihm zwischen den Zeilen, man kann es erahnen, sieht sich aber erst später in dieser Ahnung bestätigt. Teilweise sind es gerade die wichtigsten Dinge, die sich in Lücken befinden – man denke nur an Effi Briests Seitensprung.

Die meisten grossen Romane Fontanes sind erst nach seinem 60. Geburtstag entstanden. Was Thomas Mann in seinem Essay Der alte Fontane in Bezug auf dessen Briefe schrieb, könnte auch bei den Romanen gelten:

«Scheint es nicht, dass er alt, sehr alt werden musste, um ganz er selbst zu werden?»

Bekannte Werke Fontanes sind unter anderem Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862), Vor dem Sturm (1878), Grete Minde (1880), L’Adultera (1882), Irrungen, Wirrungen (1888), Unwiederbringlich (1892), Effi Briest (1896), Die Poggenpuhls (1896), Der Stechlin (1899).

Auch unbedingt lesenswert sind die Briefe Fontanes, allen voran seine Ehebriefe.

Wer könnte zu diesem Anlass ein besseres Gedicht schreiben als der grosse Meister selber?

Nicht Glückes bar sind Deine Lenze,
Du forderst nur des Glücks zu viel.
Gib Deinem Wunsche Maß und Grenze,
und Dir entgegen kommt das Ziel.

Wie dumpfes Unkraut lass vermodern,
was in Dir noch des Glaubens ist.
Du hättest doppelt einzufordern
des Lebens Glück, weil Du es bist.

Das Glück, kein Reiter wird’s erjagen,
es ist nicht dort, es ist nicht hier.
Lern überwinden, lern entsagen,
und ungeahnt erblüht es Dir.

Franziska zu Reventlow (*18. Mai 1871)

Fanny_Gräfin_zu_ReventlowFranziska zu Reventlow wird am 18. Mai 1871 im Schloss Husum geboren. Fanny erfährt eine strenge Erziehung, teils durch die Familie, teils durch das Altenburger Magdalenenstift, ein Mädchenpensionat in Thüringen. Schon früh zeigt sich ihr rebellisches Wesen, welches nach nur einem Jahr in der Pension zu ihrem Rauswurf führt. Es folgt ein privates Lehrerinnenseminar, eine nicht wirklich typische Ausbildung für eine junge Adlige.

Mittlerweile in Lübeck wohnend schliesst sich Reventlow dem Ibsen-Club an, beschäftigt sich mit gesellschaftskritischer Literatur und Nietzsche. Eine entdeckte Liebschaft führt zu Fannys Verbannung aufs Land, die Familie ist darauf bedacht, den guten Ruf der ungezügelten Tochter zu wahren, was diese nicht so einfach geschehen lässt und aus ihrem Exil flieht. Diese Geschichte führt zu einem lange währenden Zerwürfnis der Familie.

Fanny lernt den Hamburger Gerichtsassessor Walter Lübke kennen und heiratet ihn. Er finanziert ihr den Aufenthalt an einer Malschule, allerdings zeigt Fanny wenig Dankbarkeit, sondern flieht aus dem bürgerlichen Eheleben in die Freiheit, welche arm und von Krankheiten und Fehlgeburten betroffen ist. Sie hat nur noch verächtliche Worte für die strukturierten Lebensentwürfe der bürgerlichen und höheren Gesellschaft.

Es ist jetzt kein Zweifel mehr. Ich bin froh und ruhig. So elend, dass ich kaum durchs Zimmer gehen kann. Und denke nichts andres mehr. Ein Kind. Ein Kind. Mein Gott.

Sohn Rolf wird geboren, der Vater spielt keine Rolle, wird namentlich nicht mal genannt. Das finanzielle Überleben sichert sich Fanny zu Reventlow mit Übersetzungsarbeiten und kleinen Texten für Zeitschriften und Tageszeitungen sowie einem – wenn auch eher kurzen – Engagement am Theater am Gärtnerplatz. Auch Jobs wie Prostituierte, Köchin, Sekretärin finden sich in ihrem Lebenslauf. Übernamen wie „heidnische Madonna“ oder „Wiedergeburt der antiken Hetäre“ zeugen von einem bewegten Leben, welches Fanny literarisch teilweise mit viel Selbstironie verarbeitet.

Franziska zu Reventlow wohnt in München in Schwabing, nennt den Stadtteil selber Wahnmoching, was sowohl zu ihr selber wie auch zur Szene, in der sie sich bewegt, passt.

[…] eine geistige Bewegung, ein Niveau, eine Richtung, ein Protest, ein neuer Kult oder vielmehr der Versuch, aus uralten Kulturen wieder neue religiöse Möglichkeiten zu gewinnen. (Aus: Herrn Dames Aufzeichnungen)

Die grosse Wahnmochinger Bewegung hat sich schon überlebt – noch ehe sie eigentlich das Licht der Welt erblickt hat. (ebd.)

Zahlreiche Exponenten der Münchner Künstlerszene säumen ihren Weg: Rainer Maria Rilke, Marianne von Werefkin, Erich Mühsam, Frank Wedekind, Theodor Lessing – um nur einige zu nennen. Fanny unternimmt Reisen in den Süden, zieht 1910 ins Tessin nach Ascona, schreibt da ihre Schwabinger Romane, geht eine Scheinehe ein und zieht schliesslich nach Muralto, wo sie am 26. Juli 1918 an den Folgen eines Fahrradsturzes stirbt.

Fanny zu Reventlow wird nur 47 Jahre alt, allerdings darf man mit Fug und Recht behaupten, dass sie in diese 47 Jahre wohl mehr Leben packte als so mancher in die doppelte Zeit. Allerdings wäre es verfehlt zu denken, man hätte es hier mit einer lebenslustigen, leichtsinnigen und leichtfertigen Frau zu tun. Fanny zu Reventlow ist eine Suchende, sie verzweifelt ab und an beinahe am Leben, fällt in dunkle Löcher, aus denen sie sich nur mühsam wieder herausarbeitet. Sie leidet an sich und der Welt, sehnt sich nach Liebe und Glück und findet es nicht. Wenn sie es doch findet, hält es nur kurzfristig, als ob sie es nicht länger ertrüge – Ein Hin und Her zwischen Freiheitsdrang und Liebesglück.

Wie bin ich einsam und wie bin ich glücklich.

 

Werk und Wirkung

Der grosse Ruhm blieb Fanny zu Reventlow versagt, trotzdem werden ihre Romane bis heute (zu Recht) verlegt und gelesen. Ihr Schreiben ist ein Abbild der damaligen Zeit, mit Humor und klarem Blick zeichnet sie ein Bild der Schwabinger Bohème. Ihre Übersetzungsarbeiten haben ihren eigenen Schreibstil sicher massgeblich geprägt, welcher sich durch einen Plauderton auszeichnet. Reventlows Texte sind gesellschaftskritisch, durchleuchten die Geschlechterrollen und –bilder und offenbaren immer wieder einen Blick hinter die Fassade, in ihr eigenes Leben und Denken, das so bewegt und vielschichtig war wie es ganze Bibliotheken nicht bunter beschreiben könnten.

 

Ausgewählte Werke

  • Was Frauen ziemt (Essay, 1899)
  • Erziehung und Sittlichkeit (Essay, 1900)
  • Ellen Olestjerne (Roman, 1903)
  • Von Paul zu Pedro (Amouresken, 1912)
  • Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus deinem merkwürdigen Stadtteil (Roman, 1913)

 

Max Frisch (*15. Mai 1911)

Max Frisch wird am 15. Mai 1911 in Zürich geboren, wo er die Schule besucht und studiert. Germanistik soll es sein, will Max Frisch doch Schriftsteller werden. Schon bald merkt er, dass ihm dazu das Studium herzlich wenig bringt. 1931 erscheint sein erster Artikel in der NZZ, nach dem Tod des Vaters weitet Max Frisch seine Tätigkeit im Journalismus aus, um zum Unterhalt der Mutter beizutragen. Daneben entsteht sein erster Essay mit dem Titel Was bin ich?, der bereits die Grundthemen späterer Werke in sich trägt. Noch immer belegt er vereinzelte Kurse an der Uni, schreibt für verschiedene Zeitungen und daneben Arbeiten, die sich allesamt um ein Thema drehen: Max Frisch und wer er sei.

1933 unternimmt Frisch eine Reise gegen Osten, Prag, Budapest, Belgrad und viele weitere Orte stehen auf dem Plan. Er verwirklicht damit einen von seiner Mutter lange gehegten Traum. Zu der Zeit entsteht Frischs Roman Jürg Reinhart, welcher sinnigerweise von einem Balkanreisenden handelt. Noch immer dreht sich also Frischs Denken und Schreiben um die eigene Person.

Politik ist für Frisch kein Thema, seine Haltung Deutschland und dem Nationalsozialismus gegenüber ist fast schon merkwürdig unbeteiligt. Dies ist wohl aber seiner Arbeit als Schriftsteller dienlich, kann er seine ersten Romane so problemlos bei der Deutschen Verlags-Anstalt veröffentlichen.

1937 erscheint Max Frischs zweiter Roman Antwort aus der Stille. Frisch selber äussert sich später vernichtend über das Werk, die übrigen kritischen Stimmen weisen eine grosse Bandbreite auf. Sicher ist es kein Meisterwerk, vereint aber auch wieder die für Frisch so typischen Themen der Selbstfindung und des Schwankens zwischen Bürgertum und Künstlertum. Max bezieht Stellung und entscheidet sich im Roman wie im Leben für das Bürgertum. Er verbrennt alle bisherigen Schriften und wendet sich einer solideren Materie als dem Schreiben zu: Der Architektur.

Die Würde des Menschen besteht in der Wahl.

Der Entschluss, das Schreiben zu beenden, hält nicht lange, schon 1938 gewinnt Frisch den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis. Es folgt Militärzeit, die er verschriftlicht und unter dem Titel Aus dem Tagebuch eines Soldaten veröffentlicht. Das Architekturstudium gedeiht, durch eine Anstellung kann Frisch endlich aus der gemeinsamen Wohnung mit der Mutter ausziehen, lernt eine Frau (Gertrude Anna Constanze von Meyenburg) kennen, die er am 30. Juli 1942 heiratet.

1943 gewinnt Frisch einen Architekturwettberb für den Bau des Letzibads in Zürich. Wirklich viel baut er trotzdem nicht, die Schriftstellerein nimmt noch immer einen grossen Platz in seinem Leben ein. Es entstehen in der folgenden Zeit diverse Arbeiten, darunter literarische Tagebücher.

1954 schreibt er seinen Roman Stiller. Frisch nimmt das Thema der Unvereinbarkeit von Kunst und bürgerlichem Leben wieder auf, bezieht nun Stellung für die Kunst und übernimmt diese Haltung ins Leben, indem er sich von seiner Familie trennt. Nicht dass er vorher ein Kind der Traurigkeit gewesen wäre, einige Liebschaften säumen seinen Weg. 1955 schliesst er auch sein Architekturbüro, um fortan als freier Schriftsteller zu leben. Im selben Jahr beginnen die Arbeiten zu Homo Faber.

Die Frau ist ein Mensch, bevor man sie liebt, manchmal auch nachher; sobald man sie liebt, ist sie ein Wunder.

1958 folgt dann das wohl prägendste Erlebnis in Max Frischs Leben: Er lernt Ingeborg Bachmann kennen. Die beiden gehen eine Beziehung ein, in welcher Eifersucht, ein ausgeprägtes Nähe-Distanzproblemen, ausserdem die Problematik von zwei durch und durch gegensätzlichen Menschen unter einem Dach sowie grosse Liebe miteinander kämpfen. Die beiden Schriftsteller ziehen nach Rom, danach nach Zürich, wo die Beziehung zerbricht. Frisch wandelt weiter zu Marianne Oeller, Bachmann kann er aber zeitlebens nicht vergessen, sie spukt weiter durch seine Romane und damit wohl offensichtlich auch in seinem Kopf.

Marianne Oeller und Frisch heiraten, was Frisch nicht davon abhält, weiter über den Zaun zu grasen, Affären zu pflegen. Auch Marianne geht eine nebeneheliche Beziehung ein, welche Max Frisch in seinem Roman Montauk thematisiert. Diese Vermischung von Privatem und Öffentlichem führt zum Zerwürfnis zwischen den Eheleuten, die Scheidung folgt 1979.

Die Zeit verwandelt uns nicht. Sie entfaltet uns nur.

Frisch wird nicht jünger, gesundheitliche Probleme kommen und das Thema Alter zieht in Frischs Werk ein. Nach Abstechern nach New York und teilweisem Leben im Tessin zieht Max Frisch zurück nach Zürich, wo er am 4. April 1991 stirbt.

Das klare Todesbewußtsein von früh an trägt zur Lebensfreude, zur Lebensintensität bei. Nur durch das Todesbewußtsein erfahren wir das Leben als Wunder.

Max Frischs Schreiben

Max Frischs Schreiben dreht sich vor allem in den Anfängen um Max Frisch. Zu den frühen Veröffentlichungen gehören denn auch Tagebücher. Im Tagebuchstil findet er eine Art der Schilderung, welche Fakten und Fiktion vereint. In den ersten Tagebüchern finden sich Vorlagen für seine späteren Romane, die sich auch stilistisch noch immer am Tagebuchstil orientieren.  Max Frisch sieht sich dieser Schreibform ausgeliefert, denkt, keine Wahl zu haben, da nur diese Form ihm zugänglich sei. Dies mag sicher zu einem gewissen Teil so sein, kann vielleicht mit seinem nach wie vor sehr um sich selber kreisenden Denken und Sein zu tun haben.

Frisch feiert grosse Erfolge mit Theaterstücken, veröffentlicht daneben aber hauptsächlich Prosawerke, Romane, Erzählungen und Tagebücher. Zentrale Themen sind immer wieder die Künstler-Bürger-Thematik, die Identitätsfindung des Menschen und das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Wenn bei einem Autor das Diktum Goethes, dass alles Schreiben autobiographisch sei, zutrifft, dann sicher bei Max Frisch.

Ausgewählte Werke

  • Jürg Reinhart (1934)
  • Antwort aus der Stille (1937)
  • Tagebuch mit Marion (1947)
  • Tagebuch 1946 – 1949 (1950)
  • Graf Öderland (1971)
  • Stiller (1954)
  • Homo Faber (1957)
  • Mein Name sei Gantenbein (1964)
  • Tagebuch 1966 – 1971 (1972)
  • Montauk (1975)
  • Triptychon (1978)
  • Der Mensch erscheint im Holozän (1979)

Christian Morgenstern (6. Mai 1871)

Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern wird am 6. Mai 1871 in München in eine Malerfamilie geboren. Als Christian Morgensterns Mutter 1881 an Tuberkulose stirbt, wird Christian nach Hamburg zu seinem Paten geschickt, kehrt ein Jahr später zurück nach München und geht ab da ins Internat in Landshut, wo er züchtigenden Körperstrafen der Lehrer und Mobbing der Mitschüler ausgesetzt ist. Als sein Vater, mittlerweile neu verheiratet, nach Breslau an die Königliche Kunstschule berufen wird, zieht die ganze Familie um, Christian besucht da das Gymnasium. In diese Zeit fallen auch seine ersten Schreibversuche, das Trauerspiele Alexander von Bulgarien, die Mineralbeschreibung Mineralogia popularis (beide Texte sind nicht erhalten) und der Entwurf für eine Faustdichtung entstehen.

Ab dem Herbst 1889 besucht Christian Morgenstern die Militär-Vorbildungsschule, verlässt diese aber schon nach einem Jahr und kehrt aufs Gymnasium zurück. Es folgt das Studium der Nationalökonomie, währenddessen Morgenstern zusammen mit Freunden die Zeitschrift Deutscher Geist gründet, die unter dem Motto steht „Der kommt oft am weitesten, der nicht weiss, wohin er geht“ (Das Zitat wird Oliver Cromwell zugeschrieben).

Die Tuberkulose, Morgenstern hat sich offenbar als Kind bei seiner Mutter angesteckt, macht ihm mehr und mehr zu schaffen, so dass er zur Kur nach Bad Reinerz geht. Wieder zurück, kann er das Studium immer noch nicht fortsetzen, das Angebot von Freunden, eine weitere Kur in Davos zu bezahlen, wird von seinem mittlerweile von seiner zweiten Frau getrennten Vater abgelehnt, ebenso weitere Hilfsangebote. Das führt wohl auch zum Bruch mit demselben. Da Morgenstern das Studium nicht mehr aufnehmen kann, entscheidet er, fortan als Schriftsteller zu leben.

Im April 1894 zieht Christian Morgenstern nach Berlin, wo er dank des auf Versöhnung hoffenden Vaters eine Anstellung in der Nationalgalerie findet. Daneben schreibt er für verschiedene  Medien und befasst sich mit Friedrich Nietzsche und Paul de Lagarde. Im Frühling 1895 erscheint Morgensterns erster Gedichtzyklus In Phanta’s Schloss. Es folgen Reisen in den Norden und Auftragsübersetzungen, 1900 eine erneute Kur und weitere Reisen, dieses Mal im Süden Europas. Ab 1903 arbeitet Morgenstern als Lektor im Verlag von Bruno Cassirer, versucht immer wieder, in Kuren seine Gesundheit zu verbessern, was nicht den erwünschten Erfolg bringt, beschäftigt sich ausgiebig beruflich wie privat mit Literatur und Philosophie, darunter Dostojewski, Tolstoi, Hegel, Spinoza, Fichte und viele andere.

Bei einer Kur 1908 lernt Christian Morgenstern Margareta Gosebruch von Liechtenstern kennen. Im Jahr 1909 kommt er in Kontakt mit Rudolf Steiners Ideologie, es entsteht eine enge Freundschaft und Morgenstern reist zu dessen Vorträgen, schliesst sich der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft an. Nach einer schweren Bronchitis, bei der schon der bevorstehende Tod diagnostiziert wird, der glücklicherweise nicht eintritt, heiraten Christian und Margarete im Jahr 1910. Es folgen weitere Reisen, teils für Vortragsbesuche, teils des Reisens und Schreibens wegen. 1911 ein erneuter Krankheitseinbruch, von dem er sich wieder erholt und 1912 mit einer Spende der Deutschen Schillerstiftung weiter reist, kurt und schreibt.

Christian Morgenstern stirbt am 31. März 1914 in Meran.

 

Werk und Wirkung

Dem breiten Publikum ist mehrheitlich Morgensterns humoristische Dichtung, allen voran dessen Galgenlieder, bekannt. Die Galgenlieder waren eigentlich nicht zur Veröffentlichung bestimmt, hatten aber bei einer Lesung so grossen Erfolg, dass sich Morgenstern umentschloss – zum Glück, wie man sagen möchte. Zur Einleitung seiner 15. Auflage 1913 schreibt Morgenstern:

In jedem Menschen ist ein Kind verborgen, das heisst Bildnertrieb und will als liebstes Spiel- und Ernst-Zeug nicht das bis auf den letzten Rest nachgearbeitete Miniatür-Schiff, sondern die Walnussschale mit der Vogelfeder als Segelmast und dem Kieselstein als Kapitän. Das will auch in der Kunst mit-spielen, mit-schaffen dürfen und nicht so sehr bloss bewundernder Zuschauer sein. Denn dieses ‚Kind im Menschen’ ist der unsterbliche Schöpfer in ihm…

In diesen lyrischen Grotesken zeigt Morgenstern sein Können an liebenswürdigem, scharfsinnigem Sprachwitz

‚Der Werwolf’ sprach der gute Mann,
‚des Weswolfs, Genitiv sodann,
Dem Wemwolf, Dativ wie mans nennt,
den Wenwolf, – damit hats ein End.’

sowie an Beobachtungsgabe und bildhafter Umsetzung in knappe und prägnante Wortspielereien.

Man sieht vom Galgen die Welt anders an und man sieht andre Dinge als Andre. (Wie die Galgenlieder entstanden)

Dabei versteckt sich in diesen Spielereien keineswegs nur Nonsens, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, sondern auch ein tiefes Misstrauen gegen die Sprache, die Morgenstern als willkürlich empfindet:

Blitzartig erhellt sich dir die völlige Willkür der Sprache, in welcher unsere Welt begriffen liegt, und somit die Willkür dieses unseres Weltbegriffs überhaupt.

Zu guter Letzt lassen wir Morgenstern noch selber sprechen:

Wer denn?
Ich gehe tausend Jahre
um einen kleinen Teich,
und jedes meiner Haare
bleibt seinem Wesen gleich,

 
im Wesen wie im Guten,
das ist doch alles eins;
so mag uns Gott behuten
in dieser Welt des Scheins!

 

 

Das Mondschaf
Das Mondschaf sagt sich selbst gut Nacht,
d. h., es wurde überdacht
von seinem eigenen Denker:
Der übergibt dies alles sich
mit einem kurzen Federstrich
als seinem eigenen Henker.

 

Werke

Zu Lebzeiten Morgensterns erschienen

  • In Phanta’s Schloß. Ein Cyklus humoristischer-phantastischer Dichtungen. Taendler, Berlin 1895
  • Auf vielen Wegen. Gedichte. Schuster & Loeffler, Berlin 1897
  • Horatius Travestitus. Ein Studentenscherz. Schuster & Loeffler, Berlin 1897
  • Ich und die Welt. Gedichte. Schuster & Loeffler, Berlin 1898
  • Ein Sommer. Verse. S. Fischer, Berlin 1900
  • Und aber ründet sich ein Kranz. S. Fischer, Berlin 1902
  • Galgenlieder (mit Umschlagzeichnung von Karl Walser). Bruno Cassirer, Berlin 1905
  • Melancholie. Neue Gedichte. Bruno Cassirer, Berlin 1906
  • Osterbuch (Einbandtitel: ‚Hasenbuch‘). Kinderverse mit 16 Bildtafeln v. K. F. Edmund von Freyhold. Bruno Cassirer, Berlin 1908; Neuauflagen: Inselbuch 1960 und Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1978 ISBN 3-937801-16-2
  • Palmström (mit Umschlagzeichnung von Karl Walser). Bruno Cassirer, Berlin 1910
  • Einkehr. Gedichte. Piper, München 1910
  • Ich und Du. Sonette, Ritornelle, Lieder. Piper, München 1911
  • Wir fanden einen Pfad. Neue Gedichte. Piper, München 1914

 

Es erschien eine Vielzahl von Werken in erweiterter oder veränderter Ausgabe postum, mehrheitlich herausgegeben durch Margareta Morgenstern.

Gottfried Benn (*2. Mai 1886)

[…] geboren in einem Pfarrhaus aus Lehm und Balken, erbaut im siebzehnten Jahrhundert, von einem Schafstall nicht zu unter-scheiden.[1]

So beschreibt Gottfried Benn sein Geburtshaus, in dem er am 2. Mai 1886 in Mansfeld, Brandenburg das Licht der Welt erblickt. Ein halbes Jahr später zieht die Familie nach Sellin in die Neumark, wo sie neben dem Pfarramt des Vaters einen kleinen Hof bewirtschaften, um finanziell über die Runden zu kommen. Das Verhältnis Gottfried Benns zu seinem Vater ist angespannt, er nennt ihn einen „grossen Zelot und Fanatiker“, der alles mit Gott verknüpfe, dem Irdischen aber fremd bleibe. Zu seiner Mutter hat Benn ein besseres Verhältnis.

1887 bis 1903 besucht Benn das Friedrichs-Gymnasium in Frankfurt an der Oder, danach will er Medizin studieren, was dem Vater nicht genehm ist, welcher ihn als Nachfolger in seinem Pfarramt sieht und zudem vor den Kosten für ein Medizinstudium zurückschreckt. Gottfried Benn beginnt mit dem Theologie- und Philosophiestudium in Marburg, wechselt später nach Berlin zum Philosophiestudium und wird 1905 wegen „Unfleiss“ exmatrikuliert. An der Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen beginnt er ein Medizinstudium, verpflichtet sich da für ein fast kostenfreies Studium, später als Militärarzt zu dienen. 1911 folgt das Staatsexamen, 1912 die Promotion. Schon während der Ausbildung erscheinen erste literarische Werke Benns.

Ab 1912 dient Benn als Arzt in einem Pionierbataillon in Berlin Spandau, muss aber 1913 aus gesundheitlichen Gründen den Militärdienst quittieren und wechselt in die Pathologie eines Berliner Krankenhauses. Es folgen eine Stelle als Schiffsarzt und eine Chefarztstelle im Fichtelgebirge sowie die Ehe mit Edith Brosin, aus welcher die Tochter Nele stammt. 1914 wird Benn in den Kriegsdienst eingezogen, 1917 demobilisiert (die Gründe dafür sind nicht bekannt) und er eröffnet eine eigene Praxis. Er bezieht eine Wohnung im gleichen Haus wie die Praxis, Frau und Kind wohnen in einer Familienwohnung, in welcher er nur sporadisch zu Besuch ist. Benn schreibt neben seinem Arztsein immer noch und braucht dafür Unabhängigkeit und Freiheit. Zudem beflügeln erotische Abenteuer sein Schreiben, welche um Frau und Kind wohl schwer zu haben wären. Trotz allem ist Benn nicht nur der draufgängerische Lebemann, er neigt zu Depressionen, die sowohl auf die eher unerfreuliche Ehe wie auch auf die schlecht gehende Praxis zurückzuführen sind:

Es ist kein Leben dies tägliche Schmieren u. Spritzen u. Quacksalbern u. abends so müde sein, dass man heulen könnte. […] Sinnlosigkeit des Daseins in Reinkultur und Aussichtslosigkeit der privaten Existenz in Konzentration.[2]

1922 erscheinen Benns Gesammelte Schriften. Im selben Jahr stirbt seine Frau, die Tochter wächst in der Folge bei der Opernsängerin Ellen Overgaard auf. In den folgenden Jahren erscheinen viele Gedichte, der Ton derselben wird im Vergleich zum früher sehr radikalen sanfter.

Gottfried Benn fühlt sich zuerst vom Faschismus angezogen, wendet sich dann aber entschlossen dagegen, was zum Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer und zum Schreibverbot führt. Trotzdem tritt er zurück in den Militärdienst (bis heute ist nicht ergründbar, wieso er mit dem Regime zusammenarbeitete), was ihn nach Landsberg an der Warthe führt, wo er in der Kaserne kritische Essays zur Lage der Nation verfasst. 1938 heiratet Benn seine Sekretärin Herta von Wedemeyer, welche sich am 2. Juli 1945 das Leben nimmt. Im selben Jahr kehrt Benn nach Berlin zurück und nimmt seine Tätigkeit als Arzt in der eigenen Praxis wieder auf.

1946 heiratet Gottfried Benn die Zahnärztin Ilse Kaul. Noch immer ist er mit einem Schreibverbot belegt, er darf erst ab Herbst 1948 wieder in Deutschland publizieren. Er verschweigt oder verdrängt dabei seine Kooperation mit dem Regime des Dritten Reichs nicht, sondern thematisiert sie offen. Seine literarische Karriere erlebt einen Aufschwung, 1949 erscheinen vier Bücher, 1951 erhält er den Georg-Büchner-Preis, 1953 das Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.

Am 7. Juli 1956 stirbt Gottfried Benn an den Folgen eines zu spät diagnostizierten Knochenkrebs in Berlin.

Gottfried Benn über sich

Geboren und aufgewachsen in Dörfern der Provinz Brandenburg. Belangloser Entwicklungsgang, belangloses Dasein als Arzt in Berlin.[3]

So lauten die lakonischen Zeilen Benns, als er gebeten wird, für die expressionistische Lyrikanthologie Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung einen kurzen Lebenslauf beizusteuern. Auch die Zeilen aus seiner Autobiographie Doppelleben lassen seinen Unmut der eigenen Biographie und bürgerlichen Herkunft gegenüber deutlich werden:

Herkunft, Lebenslauf – Unsinn! Aus Jüterburg oder Königsberg stammen die meisten, und in irgendeinem Schwarzwald endet man seit je.[4]

Der Titel Doppelleben spricht denn auch seine Zerrissenheit zwischen Bürgertum und Künstlerdasein an. Die Seele sei nie eine Einheit, oft spreche man anders, als man denke, konstatiert Gottfried Benn. Er sieht sich gar aufgefressen von den Bürgerlichen Zwängen, nennt das Leben ein Speibecken, sieht sich von ihm aufgefressen mit Haut und Haar.

Verhülle dich (1950/51)
Verhülle dich mit Masken und mit Schminken,
auch blinzle wie gestörten Augenlichts,
lass nie erblicken, wie dein Sein, dein Sinken
sich abhebt von dem Rund des Angesichts.

Im letzten Licht, vorbei an trüben Gärten,
der Himmel ein Geröll aus Brand und Nacht –
verhülle dich, die Tränen und die Härten,
das Fleisch darf man nicht sehn, das dies vollbracht.

Die Spaltung, den Riss, die Übergänge,
den Kern, wo die Zerstörung dir geschieht,
verhülle, tu, als ob die Ferngesänge
aus einer Gondel gehn, die jeder sieht.[5]

Werke Gottfried Benns u.a.:

  • Söhne. Neue Gedichte (1913)
  • Gehirne. Novellen (1916)
  • Schutt (1924)
  • Der neue Staat und die Intellektuellen (1933)
  • Kunst und Macht (1934)
  • Satirische Gedichte (1948)
  • Doppelleben (1950)
  • Probleme der Lyrik (1951)
  • Destillationen. Neue Gedichte (1953)
  • Altern als Problem für Künstler (1954)

[1] Gesammelte Werke (Dieter Wellershoff), Band I, S. 231
[2] Gottfried Benn: Ausgewählte Briefe, Wiesbaden 1957, S. 15, 19
[3] Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), Band III, S. 448
[4] Gesammelte Werke (Dieter Wellershoff), Band IV, S. 164
[5] Gesammelte Werke (Dieter Wellershoff), Band III, S. 248

Friedrich Hölderlin (20. März 1770 – 7. Juni 1843)

Am 20. März 1770 wird Johann Christian Friedrich Hölderlin in Lauffen am Neckar geboren. Als er zwei Jahre alt ist, stirbt sein Vater, 7 Jahre später auch sein Stiefvater. Er durchläuft die übliche Schule mit mässigem Erfolg, beginnt ein Studium, wobei er. nicht wie von der Mutter gewünscht die theologische Laufbahn einschlagen will. Im Jahr 1791 veröffentlicht er die ersten Gedichte.

Um seiner Mutter nicht zur Last zu fallen, sucht er sich immer wieder Anstellungen als Hauslehrer, sieht diese aber nach anfänglicher Euphorie stets als untragbar, gar seiner eigenen geistigen Gesundheit abträglich. Um diese ist es dann auch wirklich nicht gut bestellt, bricht bei ihm doch 1806 eine geistige Krankeit aus, deretwegen gegen den eigenen Widerstand in eine Klinik eingeliefert wird, wo er 1807 als unheilbar krank wieder entlassen wird und fortan auf Pflege angewiesen ist. Er verbringt seine letzten Jahre in einem Turmzimmer. Schon in der Klinik begann er wieder mit dem Dichten, muss aber immer wieder aufhören, weil er zu erregt ist. Er ist sich seiner Situation bewusst und leidet auch darunter, worauf dieses Gedicht aus dem Jahr 1811 hindeutet:

„Das Angenehme dieser Welt hab ich genossen,
Die Jugendstunden sind, wie lang! wie lang! verflossen,
April und Mai und Julius sind ferne
Ich bin nichts mehr; ich lebe nicht mehr gerne!

Sowohl Hölderlins Leben wie auch sein Dichten waren nicht gradlinig und schon gar nicht einfach zu deuten. Zu viele Widersprüche, zu viele Brüche weisen beide auf. Zuerst ein braver Zögling auf dem Weg zum Pfarramt, Befürworter der Französischen Revolution, dann wieder Rebell und dem Politischen sich entziehend durch die Poesie. Sein (geistiger) Zusammenbruch 1806 ist wohl nur äusseres Zeichen einer schon lange dauernden inneren Zerrissenheit. Sein Rückzug ins Turmzimmer nur letztendliche Konsequenz eines schon lange herrschenden Gefühls einer ihn erdrückenden Gesellschaft.

„Im heiligsten der Stürme falle
Zusammen meine Kerkerwand,
Und herrlicher und freier walle
Mein Geist ins unbekannte Land!“

In der Poesie lässt er das Einengende hinter sich, seine Gedichte fliessen förmlich aufs Papier und von da in die Weite. Selten sind sie irgendwie unterbrochen, immer fügt sich Eines ins Andere, soll doch die Poesie als Einheit, als Ganzes bestehen neben der Zerrissenheit der Welt, wie Hölderlin sie empfand. Auch wenn (oder gerade weil?) Hölderlins Gedichte alles andere als einfach gestrickt sind, werden sie auch heute noch gerne gelesen. Aus jeder Zeile tropft der Dichter, an seiner Zeit leidend, immer versuchend, im Denken frei zu bleiben. Hölderlin erwartete viel von der Poesie. Zusammen mit Hegel und Schelling formulierte er folgendes:

„Die Poesie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit.“

Man würde sich oft wünschen, die drei hätten recht.

Wenige von Hölderlins Texten werden zu Lebzeiten veröffentlicht, trotzdem bildet sich schon damals ein romantischer Kult um den Dichter im Turmzimmer. Erst anfangs des 20. Jahrhundert wird Hölderlins Dichtung wieder entdeckt. Es erstaunt deswegen, dass im Jahr 1861 ein junger Gymnasiast just Hölderlins (damals praktisch unbekanntes) Werk wählt für einen Schulaufsatz, und dieses feurig gegen Anschuldigungen verteidigte. An einen imaginären Brieffreund schreibt er er:

„…ich fühle mich bewogen, für diesen meinen Lieblingsdichter gegen dich in die Schranken zu treten.“

Und er fährt fort:

„Dies Verse (um nur von der äusseren Form zu reden) entquollen dem reinsten, weichsten Gemüt, diese Verse, in ihrer Natürlichkeit und Ursprünglichkeit die Kunst und Formgewandtheit Platens verdunkelnd, diese Verse, bald im erhabenen Odenschwung einherwogend, bald in den rartesten Klänge der Wehmut sich verlierend…“

Und fügt ein Gedicht an, in welchem sich „die tiefste Melancholie und Sehnsucht nach Ruhe ausspricht“:

Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf;
Unzählig blühn die Rosen, und ruhig scheint
Die goldne Welt; o dorthin nehmt mich,
Purpurne Wolken! und mögen droben

In Licht und Luft zerrinnen mit Lieb und Leid! –
Doch, wie verscheucht von törichter Bitte, flieht
Der Zauber. Dunkel wird’s, und einsam
Unter dem Himmel, wie immer, bin ich.

Komm du nun, sanfter Schlummer! Zu viel begehrt
Das Herz, doch endlich, Jugend, verglühst du ja!
Du ruhelose, träumerische!
Friedlich und heiter ist dann mein Alter.

Der Gymnasiast heisst Friedrich Nietzsche.

1936 wird die historisch-kritische Hölderlin-Ausgabe aufgelegt, welche bei den Nazis grossen Anklang findet. Heidegger, ausgerechnet, kann mit seiner Deutung des Werkes diesen Fluch abwenden, so dass Hölderlin wieder über alle braunen Zweifel erhaben in die Zukunft strahlte. Ein

„Glaube und Liebe und Hoffnung sollen nie aus meinem Herzen weichen. Dann gehe ich, wohin es soll, und werde gewiß am Ende sagen: „Ich habe gelebt.“ Und wenn es kein Stolz und keine Täuschung ist, so darf ich wohl sagen, daß ich in jenen Stunden nach und nach, durch die Prüfungen meines Lebens, fester und sicherer geworden bin.“

Möge es ihm wirklich und genau so gelungen sein. Friedrich Hölderlin stirbt am 7. Juni 1843 in Tübingen.

Werke

  • 1791 Erste Gedichte
  • 1797 Hyperion, Roman
  • 1826/1846 Der Tod des Empedokles, Drama
  • Verschiedene theoretische Schriften

Siegfried Lenz (17. März 1926 – 7. Okt. 2014)

Siegfried Lenz wurde am 17. März 1926 in Lyck, Ostpreussen, als Sohn eines Zollbeamten geboren. Selber beschrieb er diesen Umstand später so:

„Ich wurde am 17. März 1926 in Lyck geboren, einer Kleinstadt zwischen zwei Seen, von der die Lycker behaupten, sie sei die „Perle Masurens“. Die Gesellschaft, die sich an dieser Perle erfreute, bestand aus Arbeitern, Handwerkern, kleinen Geschäftsleuten, Fischern, geschickten Besenbindern und geduldigen Beamten.“ (Lenz, Autobiographische Skizze)

Der Vater starb früh, die Mutter liess den Sohn bei der Grossmutter zurück, als sie wegzog. Dieser kam später in ein Internat, von wo er nach einem Notabitur in die Kriegsmarine eingezogen wurde. Nach seiner Desertation kurz vor Kriegsende kam er in britische Kriegsgefangenschaft, wo er als Dolmetscher eingesetzt wurde. Die Jahre waren von einer emotionalen Berg- und Talfahrt begleitet, erlebte Lenz schon nach kurzer Kriegseuphorie eine grosse Ernüchterung.

Nach einem abgebrochenen Studium begann er bei einer Tageszeitung, wo er sich um Redaktor hocharbeitete, seine Frau kennenlernte und heiratete. Nach seiner ersten Roman-Veröffentlichung in der Zeitung setzte er ganz auf den Beruf Schriftsteller, anfangs allerdings mit mässigem Erfolg, stiess sein Erstling „Es waren Habichte in der Luft“ doch auch wenig Beachtung. Davon liess sich Siegfried Lenz nicht irritieren, beharrlich schrieb er weiter und durfte schon bald den ersten grossen Erfolg verzeichnen mit seinen Masurischen Geschichten „So zärtlich war Suleyken“. Zu seinem Schreiben sagte er einst:

„Was sind Geschichten? Man kann sagen, zierliche Nötigungen der Wirklichkeit, Farbe zu bekennen. Man kann aber auch sagen: Versuche, die Wirklichkeit da zu verstehen, wo sie nichts preisgeben möchte.“ (Siegfried Lenz, zit. nach Siegfried Lenz. 1926 – 2014. Eine Hommage)

Dieser Zweifel an der Wirklichkeit, an der Wahrheit, sowie auch eine latente Traurigkeit prägen denn auch sein Schreiben. Er schreibt über Menschen, die sich irren, die ausserhalb der Norm stehen. Vielleicht hat Goethe recht, wenn er sagt, dass alles Schreiben autobiographisch sei. Lenz sagte das gar selber mal:

„Man schreibt eigentlich nur von sich selbst.“ (zit. nach Siegfried Lenz. 1926 – 2014)

Lenz selber sah sich selber als Fremdling in der Welt, da er nur aus dieser Fremdheit heraus glaubte schaffen zu können. Er schreibt aber auch über Menschen wie die, welche nach eigener Aussage seinen Geburtsort besiedelten.
Bei den Kritikern schaffte es Lenz selten auf eine Stufe mit Grass oder Walser, beim Publikum indes war er beliebt und galt als einer der grossen Erzähler, auf gleicher Stufe mit den vorgenannten. Er galt als Volksschriftsteller, wohl auch darum, weil er über dieses schrieb durch seine Figuren. Zudem war er anders als viele seiner Kollegen nie in Debatten verstrickt oder und stets freundlich und herzlich, was ihm viele Sympathien einbrachte. Bei all seinem Erfolg blieb er immer bescheiden:

„Als Schriftsteller habe ich erfahren, wie wenig Literatur vermag, wie dürftig und unkalkulierbar ihre Wirkung war und immer noch ist.“

Dies sagte er anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, den er 1988 erhielt. Man möchte ihm in Bezug auf seine eigene Literatur widersprechen.

Siegfried Lenz war später regelmässiger Gast bei der Gruppe 47, engagierte sich daneben in der Politik, war Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und Gastprofessor an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er schrieb insgesamt 15 Romane, über hundert Erzählungen, Theaterstücke, Essays und einiges mehr.

Siegfried Lenz starb am 7. Oktober 2014 in Hamburg.


Ausgewählte Werke

Romane

  • 1951 Es waren Habichte in der Luft
  • 1968 Deutschstunde
  • 1973 Das Vorbild
  • 1990 Die Klangprobe
  • 1994 Die Auflehnung

Erzählungen und Novellen

  • 1955 So zärtlich war Suleyken, Masurische Geschichten, Kurzgeschichten
  • 1957 Risiken für Weihnachtsmänner
  • 1960 Das Feuerschiff, Erzählungen
  • 1960 Verzicht, Erzählungen
  • 1973 Wie bei Gogol, Erzählung
  • 1984 Ein Kriegsende, Erzählung
  • 2008 Schweigeminute, Novelle


Diverses

  • 1953 Lotte soll nicht sterben, Kinderbuch
  • 1970 beziehungen, Essay
  • 1971 Verlorenes Land – Gewonnene Nachbarschaft, Rede
  • 1998 Über den Schmerz, Essay
  • 2006 Selbstversetzung, Über Schreiben und Leben

Dorothea Brande: Schriftsteller werden

Der Klassiker über das Schreiben und die Entwicklung zum Schriftsteller

„Ich bin der Überzeugung, dass das Schreiben von erzählender Literatur wichtig ist: Romane und Kurzgeschichten haben grosse Bedeutung in unserer Gesellschaft. Literatur ist für viele Leser die Quelle ihrer Weltanschauung – sie setzt ethische, soziale und materielle Normen Sie bestätigt Vorurteile des Lesers, oder sie öffnet seinen Geist und erweitert seine Welt.“

Dorothea Brande schrieb das vorliegende Buch 1934 und seit da gilt es als Klassiker. Es gibt viele Ratgeber, wie man den perfekten Roman schreiben könne, einige versprechen sogar, mit der Anleitung könne man das in einem Monat bewerkstelligen. Dorothe Brande sagt selber, dass sie in ihrer Zeit als Autorin viele solche Ratgeber gelesen habe, darüber, wie man Plots erstellt, Charaktere erfindet und vieles mehr. Sie geht mit ihrem Buch einen anderen Weg.

Wichtig ist, was einen Schriftsteller überhaupt zum Schriftsteller macht, die Antwort lautet: Er schreibt. Was so einfach klingt, ist es in Tat und Wahrheit aber nicht. Wie viel hält Schreibwillige oft von dem ab, was sie eigentlich tun wollen? Ganz verschiedene Ängste treten plötzlich auf und lassen zögern, blockieren gar. So sagt denn Brande auch:

„Zunächst einmal ist es schwer, überhaupt zu schreiben. Der unversiegbare Gedankenfluss, der erforderlich ist, wenn der Name eines Schriftstellers je bekannt werden soll, will einfach nicht in Ganz kommen. Die Schlussfolgerung, jemand, der nicht mit Leichtigkeit schreiben kann, habe seinen Beruf verfehlt, ist schlicht und einfach Unsinn.“

Die erste Aufgabe, die es also zu bewältigen gibt, ist, den eigenen Schreibfluss in Gang zu bringen. Brande gibt dazu Übungen an die Hand, welche helfen, die nötige Selbstdisziplin auf das eigene Schreiben zu entwickeln. Als weitere nötige Zugaben für ein gelingendes Leben als Schriftsteller nennt sie das Bewahren kindlicher Spontaneität und einen unschuldigen Blick, die Wahrnehmung, dass in allem, was uns begegnet, eine Geschichte liegt. Des Weiteren legt sie das Augenmerk auf das Zusammenspiel von Unbewusstem und Bewusstem im Schreibprozess, den Wert gezielter und analytischer Leseerfahrungen sowie das richtige Sehen im Alltag.

„Schriftsteller werden“ ist keine strukturierte Anleitung hin zu einem Roman, es ist ein Buch über die Entwicklung des Menschen hin zu dem, was er sein will: Schriftsteller. Brande schöpft dabei aus ihrer Erfahrung als Autorin und Lehrerin für Kreatives Schreiben, etwas, das es in den USA seit vielen Jahrzehnten gibt und was auch viele später erfolgreiche Autoren so gelernt haben, was in unseren Breitengraden noch immer eher stiefmütterlich behandelt wird und meist nur privat gelernt werden kann – von wenigen Ausnahmen mal abgesehen.

Fazit:
„Schriftsteller werden“ ist keine strukturierte Anleitung hin zu einem Roman, es ist ein Buch über die Entwicklung des Menschen hin zu dem, was er sein will: Schriftsteller. Inspirierend, gut lesbar und sehr empfehlenswert.

Über die Autorin
Dorothea Brande war ein bekannte Schriftstellerin und Redakteurin in New York. Sie studierte an der Universität in Chicago und an der University of Michigan. Ihr Buch Wake Up and Live erschien 1936 und verkaufte sich mehr als zwei Millionen Mal. Twentieth Century Fox machte 1937 ein Musical daraus.

Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 140 Seiten
Verlag: Autorenhaus Verlag GmbH(30. August 2009)
ISBN-Nr.: 978-3866710696
Preis: EUR 12.90 / CHF 16.90

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Virginia Woolf (25. 1. 1882 – 28. 3. 1941)

Virginia Woolf wurde am 25. Janaur 1882 als Tochter des berühmten Schriftstellers Leslie Stephen und dessen zweiter Frau in London geboren. Schon von Kindesbeinen an war sie von Schriftstellern und Künstlern umgeben, die den Salon des von ihr sehr verehrten Vaters besuchten. Sie besuchte keine Schule, sondern genoss Unterricht durch ihren Vater sowie von Privatlehrern. Schon früh stand fest, dass es für sie nur einen Beruf gab: Den der Schriftstellerin.

Als Virginia 13 Jahre alt war, starb ihre Mutter. Dies und wohl eine auch sonst nicht nur einfache Kindheit (es gibt keine wirklichen Zeugnisse aber Mutmassungen über körperliche Übergriffe durch ihre Halbgeschwister) führten zu einem psychischen Zusammenbruch. Es sollte nicht der letzte bleiben, Virginia Woolf litt zeitlebens unter einer manisch-depressiven Erkrankung.

Virginia Woolf begann scho früh, Essays zu schreiben und diese auch zu veröffentlichen. Sie schrieb für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften und unterrichtete auch eine Zeit lang englische Literatur und Geschichte. Eine Erbschaft ermöglichte ihr schliesslich, den Wunsch, als Schriftstellerin zu leben, zu erfüllen.

1912 kam es zur Hochzeit mit Leonard Woolf, bei dem Virginia keine körperliche Anziehung spürte, wie sie einer Freundin gestand, dessen Antrag bei ihr sogar einen depressiven Schub auslöste. Ausschlaggebend war seine Liebe zu ihr, der sie fortan bestmöglich gerecht zu werden versuchte. Virginia Woolfs Depressionen wurden stärker, 1913 kam es sogar zu einem Suizidversuch, und doch bezeichnete sie sich auch als glücklich, vor allem auch, weil ihr Mann mit ihrer körperlichen Zurückhaltung und ihrer Neigung zu Frauen umgehen konnte.

1915 wurde Woolfs erster Roman veröffentlicht, es folgten Essays, Romane, Erzählungen, immer wieder unterbrochen von depressiven Schüben. 1941 steigt Virginia Woolf in den Fluss Ouse, beschwert mit einem Stein, damit sie sicher untergeht und nicht zu früh gefunden wird. Den Freitod gewählt hat sie, weil sie befürchtet, die Depression könnte sie wieder so sehr im Griff haben, dass ihr Lesen und Schreiben unmöglich werden.

„Und mein Kopf ist ziemlich aufgewühlt. Mit ein paar leeren Stellen.“ (Tagebücher 26.2.1941)

Sie schreibt in ihrem Abschiedsbrief:

„Liebster, ich spüre mit Sicherheit, dass ich wieder verrückt werde.“

und

„Alles ausser der Gewissheit deiner Güte, hat mich verlassen. […] Ich glaube nicht, dass zwei Menschen glücklicher hätten sein können, als wir gewesen sind.“

Zum Werk
Virginia Woolf zählt zu den wichtigsten Autorinnen der klassischen Moderne. Von ihr erschienen sind unter anderem:

  • The Voyage out
  • Mrs. Dalloway
  • Orlando
  • Room of One’s own (das grossen Einfluss auf die damalige Frauenbewegung hatte)
  • Flush
  • etc.

Wer mehr über das Leben von Virginia Woolf erfahren will, dem kann ich diesen Film ans Herz legen: THE HOURS