In einem Interview sagte Ilse Aichinger mal, dass die glücklichste Zeit ihres Lebens die im Krieg gewesen sei. Da hätte man immerhin gewusst, woran man sei, wer Freund und wer Feind sei. Zudem wäre es eine Zeit voller Hoffnung gewesen. Diese Worte aus dem Mund einer Kriegsüberlebenden, einer Frau, die als jüdisches Mädchen nur mit Glück den zweiten Weltkrieg überlebte, da einen grossen Teil der eigenen Familie verloren hat, machen nachdenklich.
Ilse Aichinger begann schon 1945 mit dem Schreiben gesellschafts- und politikkritischer Werke. 1951 wurde sie in die Gruppe 47 eingeladen, deren Preis sie bereits 1952 gewann. Gefragt, wieso sie schreibe, sagte sie einst:
„Ich schreibe, weil ich keine bessere Form des Schweigens finde.“
Sieht man Fotos von damals, lacht Ilse Aichinger immer. Man sieht eine schöne junge fröhliche Frau. Leise rührt sich die Frage, wo die oft tieftraurigen, verbitterten Aussagen ihren Anfang nahmen, die man in späteren Interviews von ihr hörte. Hat sie diese damals überspielt? Sind sie dem Leben geschuldet, welches ihr 1972 den Mann nahm, 1998 den Sohn? Oder wirkte die Kriegszeit zeitlebens nach? Worauf bezieht sie sich, wenn sie sagt:
„Man überlebt nicht alles, was man überlebt.“
Ihr grösster Erfolg war wohl der 1948 erschienene Roman «Die grösste Hoffnung», es folgten verschiedene Erzählungen auch Gedichtbände. Es fällt auf, dass ihre Sprache sich immer mehr verdichtet – in allen Formen. Das hatte seinen Grund auch darin, dass Ilse Aichinger Sprache immer mehr auch als Ausdrucksmittel unbrauchbar empfand, da diese zu sehr der Konvention, dem fraglosen Bezeichnen anheimfiel. Ihre Konsequenz war eine «Poetik des Schweigens», etwas, mit dem sie übrigens nicht alleine war, auch bei Paul Celan finden sich solche Ansätze.
Das folgende Gedicht spricht in meinen Augen von all dem:
Ortsanfang
Ich traue dem Frieden nicht, den Nachbarn, den Rosenhecken, dem geflüsterten Wort. Ich hörte, daß sie die Häute an die Schlinge legen, daß sie die Bänke kippen vor dem Winter, ihre Jauchzer flogen zum Schlaf gerüstet durch Schul- und Kirchenhäuser auf und fort. Wer erwartet noch die Vögel, die bleiben, den Rauch übers kurze Gras? (aus Verschenkter Rat, 1978)
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#abcdeslesens ist eine Aktion, die ich auf Instagram durchführe. Ich lese mich anhand des Alphabets durch mein Bücherregal und stelle einzelne Autoren vor.
«Die Männer sind unterwegs zu sich, wenn sie abends beieinander sind, trinken und reden und meinen. Wenn sie zwecklos reden, sind sie auf ihrer eigenen Spur, wenn sie meinen und ihre Meinungen mit dem Rauch aus Pfeifen, Zigaretten und Zigarren aufsteigen und wenn die Welt Rauch und Wahn wird in den Wirtshäusern auf den Dörfern, in den Extrastuben, in den Hinterzimmern der grossen Restaurants und in den Weinkellern der grossen Städte.»
Männer unter sich in einer von Männern und für Männer gemachten Welt. Während die Ehefrauen sich zu Hause ihrem Leben als Opfer einer so ausgerichteten Gesellschaft ausgeliefert sehen, tauschen die Männer in Wirtshäusern Meinungen aus, suchen sich dabei selber und stehen immer wieder vor der einen Frage: Wie lebt man weiter nach dem Krieg, wenn plötzlich vorherige Opfer und Täter wieder in einer Gesellschaft zusammenleben müssen?
«Nach dem Krieg – dies ist die neue Zeitrechnung.»
Das zentrale Thema dieser kurzen Erzählung ist der Umgang mit dem Kriegstrauma, die (Un-?)Möglichkeit seiner Überwindung. Es ist ein Thema, das bei Ingeborg Bachmann immer wieder präsent ist, da es sie auch selber betrifft und ein Leben lang begleiten wird. Wie lebt man in einer Welt nach dem Krieg zusammen, wenn die vormaligen Täter noch immer in Machtpositionen stehen, wenn die ehemaligen Opfer einen Umgang finden müssen mit den Menschen, die ihnen vorher alles genommen haben?
«Mit den Gefühlen des Opfers lagen die Frauen da, mit aufgerissenen Augen in der Dunkelheit, voll Verzweiflung und Bosheit. Sie machten ihre Rechnungen mit der Ehe, den Jahren und dem Wirtschaftsgeld, manipulierten, verfälschten und unterschlugen. Schliesslich schlossen sie die Augen, hängten sich an einen Wachtraum….Und im ersten Traum ermordeten sie ihre Männer, liessen sie sterben.»
Es sind die Männer, die sich diese Fragen stellen, die Frauen liegen zu Hause und sehen sich ebenfalls als Opfer. Sie sind die Opfer in einer Männerwelt, ein Opferdasein, das sich in die Nachkriegszeit hineingeschmuggelt hat und nun in den Köpfen ihr Unwesen treibt. Sie sind die Vergessenen, die Gefangenen zu Hause, während die Männer die Welt diskutieren. Wurden sie oft schon im Krieg verlassen, weil der Mann in den diesen zog und viele davon nicht wiederkamen, sind sie es nun wieder, weil die Männer in den Meinungskrieg ins Wirtshaus ziehen.
«Viel später erst, gegen Morgen, würden wir den Frauen über die feuchten Gesichter streichen im Dunkeln und sie noch einmal beleidigen mit unserem Atem, dem sauren starken Weindunst und Bierdunst, oder hoffen, inständig, dass sie schon schliefen und kein Wort mehr fallen müsse in der Schlafzimmergruft, unserem Gefängnis, in das wir doch jedesmal erschöpft und friedfertig zurückkehrten, als hätten wir ein Ehrenwort gegeben.»
Was für eine traurige Welt, was für eine abgelöschte Sicht auf Beziehungen und das Leben. Und doch wohl nicht so weit von der Wirklichkeit vieler Menschen in der Nachkriegszeit. Der Frieden war trügerisch insofern, als nichts aufgearbeitet wurde. Der Krieg war vor allem in den ersten Jahren kein Thema, es herrschte Schweigen, es wurden sowohl die Untaten der Täter verschwiegen wie auch das oft traumatisierte Weiterleben ohne eine Aufarbeitung von Schuld und Opferstatus. Und in den Menschen schwelte etwas, das nicht raus konnte. Hass, Wut, Unsicherheit, Trauer.
«Sie weinten um ihre ausgefahrenen, ausgerittenen, nie nach Hause kommenden Männer und beweinten endlich sich selber. Sie waren angekommen bei ihren wahrhaftigsten Tränen.»
«Unter Mördern und Irren» erschien 1961 in Ingeborg Bachmanns Erzählband «Das dreissigste Jahr», einem Zyklus von sieben Erzählungen, welche das Leben in der Nachkriegszeit, den Umgang mit den aktuellen Gegebenheiten und den aus dem Krieg resultierenden Traumata behandeln. Der Erzählband wurde eher verhalten aufgenommen bei der Erscheinung, stiess auch auf Kritik, was wohl einerseits dem Umstand geschuldet war, dass man Ingeborg Bachmann in der Poesie verortet hatte und da ihr Talent sah (Marcel Reich-Ranicki sagte im Rahmen seiner Reihe «Lauter schwierige Patienten» über Ingeborg Bachmann, ihr Gesamtwerk bestehe aus zwei Gedichtbänden, sie hätte nie anfangen sollen, Prosa zu schreiben – dem kann hier überhaupt nicht zugestimmt werden), andererseits der Tatsache, dass die Gesprächsbereitschaft über diese Themen noch lange nicht wirklich da war.
Fazit:
Eine gnadenlose Erzählung über den Versuch, mit den traumatischen Kriegserlebnissen nach dem Krieg weiterzuleben – als Mann, als Frau, als Paar und als Gesellschaft. Ganz grosse Leseempfehlung!
Zur Autorin
Ingeborg Bachmann wird am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen im Zweiten Weltkrieg endete nach Bachmanns Aussagen die Kindheit jä – ein Ereignis, das ihr späteres Schreiben immer wieder prägen wird. Erste Gedichte finden sich schon bei der 12-jährigen Ingeborg Bachmann. 1945 beginnt Ingeborg Bachmann ihr Studium in Literatur, Kunst und Jura in Insbruck, wechselt später nach Graz und dann nach Wien, wo sie mit Philosophie und Psychologie abschloss und 1950 eine Dissertation über Martin Heidegger schrieb. Es folgten journalistische Arbeiten, welche aber neben dem schon da dringenden Wunsch, Schriftstellerin zu sein, mehrheitlich eher als ungeliebter Brotjob anzusehen waren. Nach einer Einladung in die Gruppe 47 im Jahr 1952 konnte sie im Jahr 1953 deren Preis gewinnen, im gleichen Jahr erschien ihr erster Gedichtband «Die gestundete Zeit», 1956 der zweite mit dem Titel «Anrufung des Grossen Bären». Damit stand ihr Ruhm als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der literarischen Moderne fest, was aber leider finanziell zu wenig einträglich war, um davon zu überleben.
Es folgten mehrere Stellen, dem finanziellen Überleben geschuldet, sowie diverse Umzüge, welche wohl finanzielle und andere, der persönlichen Unrast und privatem Unglück geschuldete Gründe hatten. Über die Jahre finden sich verschiedene Liebschaften, denen allesamt wenig (und vor allem kein anhaltendes) Glück beschieden war. Irgendwann versiegten bei Ingeborg Bachmann die Gedichte, sie widmete sich Prosawerken, später einem gross gedachten Romanprojekt, von welchem aber nur ein Roman wirklich fertiggestellt wurde: 1971 erschien Malina.
Die zunehmenden psychischen Probleme, die sie immer wieder plagten, gepaart mit Alkoholexzessen und Tablettenabhängigkeiten verdüsterten das Leben der Dichterin zunehmend. Bei einem einem Feuer in ihrer Wohnung in Rom erlitt Ingeborg Bachmann starke Verbrennungen, weswegen sie ins Krankenhaus kam. Gestorben ist sie aber mutmasslich an den Entzugserscheinungen eines Medikaments, bei welchem bis zu spät nicht klar war, welches es ist. Ingeborg Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom.
«Seit ich diese Nummer wählen kann, nimmt mein Leben endlich keinen Verlauf mehr, ich gerate nicht mehr unter die Räder, ich komme in keine ausweglosen Schwierigkeiten, nicht mehr vorwärts und nicht vom Weg ab, da ich den Atem anhalte, die Zeit aufhalte und telefoniere und rauche und warte.»
Eine Frau lebt mit einem Mann zusammen, Malina, sie braucht ihn, da er ihr immer wieder den Boden unter die Füsse gibt, sie von der zu leidenschaftlichen, zu gefühlverlorenen, zu selbstvergessenden Ebene in die rationale Lebenswelt zurückholt. Die Frau liebt einen anderen Mann, Ivan, den sie als ihr Leben, als ihren Mittelpunkt, als Sonne ihres Seins begreift. Ohne ihn ist sie nicht, ihr Leben ist ein Warten auf seinen Anruf, ein Hoffen auf seine Zeit, ein Wissen um das Lebensende, wäre er nicht mehr.
«Es ist unmöglich, Ivan etwas von mir zu erzählen. Aber weitermachen, ohne mich ins Spiel zu bringen?»
Die Frau ist ein verwundetes Wesen, viel hat sie erlebt, viel hat sie geprägt. Sie lebt in ihren Ängsten und Unsicherheiten, sucht nach Worten, findet sie nicht, verliert sich in Gefühlen, und sucht den Halt im Aussen, bei Malina, welcher sie ins Leben holt, bei Ivan, welcher sie aus diesem Leben in einen diesem enthobenen Raum führt, wo die eigenen Unzulänglichkeiten durch die Ausrichtung auf ihn in den Hintergrund geraten. Und doch stehen sie immer wieder zwischen ihnen, lassen sich aber nicht in Worte fassen. Die Frau ist ein schreibender Mensch, einer der Worte. Damit etwas ist, muss es dafür Worte geben.
«Kopfsätze haben wir viele, haufenweise, wie die Telefonsätze, die Schachsätze, wie die Sätze über das ganze Leben. Es fehlen uns noch viele Satzgruppen, über Gefühle haben wir noch keinen einzigen Satz, weil Ivan keinen ausspricht, weil ich es nicht wage, den ersten Satz dieser Art zu machen, doch ich denke nach über diese ferne fehlende Satzgruppe, trotz aller guten Sätze, die wir schon machen können.»
Ingeborg Bachmann ist ihren Themen treu geblieben: Liebe, Tod, Angst, Mord – alles kommt vor. Bei „Malina“ handelt es sich um einen Liebesroman, wenn auch keinen im traditionellen Sinn. Generell ist nichts an diesem Roman traditionell. Das fängt bei der Dreierbeziehung an und hört bei der Sprache noch lange nicht auf. Diese ist, wie man es bei Bachmann gewohnt ist aus ihrer Lyrik, einer Suche nach einer neuen Sprache geschuldet, die mit dem bricht, was nicht mehr brauchbar ist durch die Benutzung für das grösste Grauen der Menschengeschichte, welches auf Bachmann einen tiefen und nie verschwindenden, traumatischen Einfluss hatte. Das Unsagbare liegt offen da, indem die Worte einfach ausgespart sind, sich nur aus dem Vorhandenen erahnen lassen – oder aber schlicht nicht greifbar sind, weder für den Autor noch für den Leser.
«Die Gesellschaft ist der allergrösste Mordschauplatz. In der leichtesten Art sind in ihr seit jeher die Keime zu den unglaublichsten Verbrechen gelegt worden, die den Gerichten dieser Welt für immer unbekannt bleiben.»
„Malina“ ist auch ein Buch, welches von Unsicherheiten, Angst und vor allem vom Tod handelt. Bachmanns Bild der Welt als Kriegsschauplatz, als Mörder am Menschen, dringt durch alle Zeilen, spricht aus der ganzen Geschichte heraus, zumal die Frau an sich ein durch diese Welt verletztes Wesen ist.
«Es gibt Worte, es gibt Blicke, die töten können, niemand bemerkt es, alle halten sich an die Fassade, an eine gefärbte Darstellung.»
Die Welt besteht aus viel Schein, aus einer Fassade, hinter der das Wahre verborgen bleibt. Die Frau leidet daran und hält sich aber zum Schutz auch selber verborgen, kann nicht preisgeben, was mit ihr ist, was mit ihr geschehen ist, dass sie wurde, wer sie ist.
Ingeborg Bachmann wurde oft darauf angesprochen, ob «Malina» eine Autobiografie sei. Sie verneinte dies nicht, stellte allerdings klar, dass es sich dabei nicht um eine erzählte Geschichte, sondern um einen geistigen Prozess handle. Dies zeigt sich deutlich in der Bruchstückhaftigkeit des Buches, welches aus einzelnen Szenen und gesuchten Wörtern bestehen. Ingeborg Bachmann ist es gelungen, die individuellen Erfahrungen in paradigmatisch und symbolisch erdichtete Konstellationen zu übertragen.
Während im ersten Kapitel des Buches Ivan eine tragende Rolle spielt, indem sich alles auf ihn ausrichtet, zeigt sich im zweiten Kapitel das erzählende Ich durch seine Träume klar in seiner Verletztheit. Nur durch das Mittel des Traumes war es Ingeborg Bachmann möglich, das noch nachhallende Trauma des Krieges zu thematisieren, die Träume wurden zum Schauplatz der ihr und dem erzählenden Ich innewohnenden Angst.
Im letzten Kapitel übernimmt Malina nach und nach die Oberhand, er steuert das Kapitel durch die Gespräche. Das Ich weicht nach und nach zurück, bis es in der Wand verschwindet.
«Es war Mord.»
Mit diesem Satz endet ein Roman, der eigentlich viel mehr als ein Roman ist, der so viele Ebenen hat, dass sich bei jedem erneuten Lesen eine neue offenbart, der so viele Lücken hat, dass man als Leser in sie fallen, sich in ihnen verlieren, den Anschluss wieder neu suchen muss. Er hat so viel Offenes, das man als Leser füllt. «Malina» ist geprägt durch eine poetische, durch eine mystische Sprache, die nichts einfach klar darlegt, sondern in einer fast lyrischen Form mit den Worten spielt. Worte, Symbole – alles hat eine Bedeutung und danach noch viele über die erste hinausgreifende. Es entsteht ein Netz aus Bezügen innerhalb des Werkes und darüber hinaus ins Leben der Autorin, in andere literarische Werke, zu Aussagen von Philosophen, zu geschichtlichen Ereignissen und gesellschaftsprägenden Mechanismen.
«Malina» ist kein einfacher Roman, es empfielt sich, ihn langsam zu lesen, in Bruchstücken, wie er auch geschrieben steht. Es empfiehlt sich, Pausen zu machen, nachzudenken, nochmals zu lesen. Nur so wird man als Leser wohl dem Roman gerecht. Er ist keine leichte Lektüre für nebenbei, aber eine lohnende.
Fazit: Ein vielschichtiges, tiefgründiges, weit verzweigtes Werk, welches seine vielen Ebenen erst nach und nach preisgibt. Durch die verschiedenen möglichen Lesarten ein Buch, das man sicher mehrfach lesen kann und sogar sollte. Ganz grosse Leseempfehlung!
Zur Autorin Ingeborg Bachmann wird am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen im Zweiten Weltkrieg endete nach Bachmanns Aussagen die Kindheit jä – ein Ereignis, das ihr späteres Schreiben immer wieder prägen wird. Erste Gedichte finden sich schon bei der 12-jährigen Ingeborg Bachmann. 1945 beginnt Ingeborg Bachmann ihr Studium in Literatur, Kunst und Jura in Insbruck, wechselt später nach Graz und dann nach Wien, wo sie mit Philosophie und Psychologie abschloss und 1950 eine Dissertation über Martin Heidegger schrieb. Es folgten journalistische Arbeiten, welche aber neben dem schon da dringenden Wunsch, Schriftstellerin zu sein, mehrheitlich eher als ungeliebter Brotjob anzusehen waren. Nach einer Einladung in die Gruppe 47 im Jahr 1952 konnte sie im Jahr 1953 deren Preis gewinnen, im gleichen Jahr erschien ihr erster Gedichtband «Die gestundete Zeit», 1956 der zweite mit dem Titel «Anrufung des Grossen Bären». Damit stand ihr Ruhm als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen der literarischen Moderne fest, was aber leider finanziell zu wenig einträglich war, um davon zu überleben.
Es folgten mehrere Stellen, dem finanziellen Überleben geschuldet, sowie diverse Umzüge, welche wohl finanzielle und andere, der persönlichen Unrast und privatem Unglück geschuldete Gründe hatten. Über die Jahre finden sich verschiedene Liebschaften, denen allesamt wenig (und vor allem kein anhaltendes) Glück beschieden war. Irgendwann versiegten bei Ingeborg Bachmann die Gedichte, sie widmete sich Prosawerken, später einem gross gedachten Romanprojekt, von welchem aber nur ein Roman wirklich fertiggestellt wurde: 1971 erschien Malina.
Die zunehmenden psychischen Probleme, die sie immer wieder plagten, gepaart mit Alkoholexzessen und Tablettenabhängigkeiten verdüsterten das Leben der Dichterin zunehmend. Bei einem einem Feuer in ihrer Wohnung in Rom erlitt Ingeborg Bachmann starke Verbrennungen, weswegen sie ins Krankenhaus kam. Gestorben ist sie aber mutmasslich an den Entzugserscheinungen eines Medikaments, bei welchem bis zu spät nicht klar war, welches es ist. Ingeborg Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom.
Es ist wieder Samstag und ich möchte weitere 10 Artikel vorstellen, über die ich die Woche durch im Netz gestolpert bin. Allen gemeinsam ist, dass sie sich um Literatur im weitesten Sinne drehen.
Was Vielleser nicht gelesen haben
5000 Bücher seien das Maximum an Büchern, die man im Leben lesen kann. Dies das Ergebnis einer Untersuchung. 10 Vielleser gestehen hier, welche Werke sie bislang NICHT gelesen haben – und das aus verschiedenen Gründen.
Die Mörderischen Schwestern finden, Frauenliteratur kriege zu wenig Aufmerksamkeit, weil die Jurys so zusammengesetzt seien, dass Männer besser portiert würden. Sie haben darum acht Frauenkrimis gewählt und stellen sie vor.
Da sitzt man nun und hat sein Buch geschrieben, nun bräuchte man nur noch einen Verlag. Gar nicht so einfach, den zu finden, zumal es in der Verlagsbranche durchaus schwarze Schafe gibt.
Früher galt Lesen als gefährlich, aber wenn ich von Rausch, Sucht und Schlafverzicht lese, scheint es in der Tat seine Tücken zu haben. Aber lest selber:
Zwei Grössen der Literatur, zwei, die sich liebten, sich schrieben, ihre Liebe aber nicht leben konnten. Helmut Böttiger studierte ihre Briefe und kommt zum Schluss, dass die Liebe nicht alltagstauchlich gewesen sei.
Ich bin ja grundsätzlich der Meinung, dass es kein Buch gibt, das man gelesen haben MUSS, aber natürlich ganz viel wunderbare, die ich als lesenswert und Bereicherung empfinde. Trotzdem finde ich Listen immer wieder spannend, da sie inspirieren und man sich dazu Gedanken machen kann.
„Der Buchhandlungspreis ist es eine Mischung aus Anerkennung und Förderung“ – und weil Buchhandlungen wunderbar sind und nicht genügend gewürdigt werden können, hier nochmals ein Artikel dazu.
Am 3. September starb der Lyriker John Ashbery.
«Wenn mir ein Gedicht gefällt, dann empfinde ich es. Es kümmert mich nicht sonderlich, was es bedeutet».
Ein schöner Nachruf in der NZZ.
Ich habe ihn bei einer Lesung erlebt, die ich moderieren durfte. Ein spannender Mensch, ein offener Mensch, ein Mensch, der sich Gedanken macht. Wieso er kaum über Frauen schreibt? Wie genau er es mit der Geschichte nimmt?
Es ist wieder Samstag und ich möchte weitere 10 Artikel vorstellen, über die ich die Woche durch im Netz gestolpert bin. Allen gemeinsam ist, dass sie sich um Literatur im weitesten Sinne drehen.
Bücher im Café
Der Kaffeehaussitzer liest gerne in Kaffees – der Name verrät es schon –, liest Bücher und bloggt darüber. Er hat Karla Paul ein Interview dazu gegeben
Tierfabeln, die unterhalten, dabei aber eine tiefere Botschaft mit sich bringen – Weisheiten in Geschichten verpackt, damit der Leser etwas fürs Leben lernt.
Das Literaturfest »Poetische Quellen« in Bad Oeynhausen und Löhne sowie die »Sarajevoer Poesietage« wollen in Zukunft zusammenarbeiten. Der Autor Dzevad Karahasan hat daran massgeblichen Anteil und er spricht darüber.
Wer genug hat von den ewig gleichen langweiligen Notizen, für den gibt es Sketchnotes. Man muss dafür nicht Picasso sein, und: Man kann es lernen. Zum Beispiel mit dem Buch hier.
Buchbloggern scheint es nicht mehr so sehr um Literatur zu gehen, sondern um die ästhetische Präsentation des Leseerlebnisses.. Habe ich bei Instagram genauso gefühlt und bewege mich drum ein wenig weg da. Was denkt ihr dazu??
In Wien gibt es im Wiener Allerhgeiligenpark eine Leseaktion. Unter dem Motto „Wer sich auf die Decke setzt, ist willkommen“ soll Kindern Freude am Lesen vermittelt werden.
Ein Projekt, das man vielleicht auch an anderen Orten starten könnte?!
Es ist wieder Samstag und ich möchte weitere 10 Artikel vorstellen, über die ich die Woche durch im Netz gestolpert bin. Allen gemeinsam ist, dass sie sich um Literatur im weitesten Sinne drehen.
Ein Interview mit Affinity Konar
Affinity Konars Roman „Mischling handelt vom Schicksal der Zwillingsschwestern Perle und Stasia, die 1944 nach Auschwitz deportiert und dort zu Mengeles Versuchsopfern werden.
Die bekannte Krimiautorin Nele Neuhaus erzählt über die Angst vor dem weissen Blatt Papier, wie sie mit den Verrissen ihrer Bücher durch Denis Scheck geht und über Krimis allgemein.
Bücher im Kleinstformat lagern im Magazin des Mainzer Gutenberg-Museums. Ein Lesevergnügen wird das wohl kaum mit Lupe und Pinzette, aber süss anzuschauen sind sie allemal.
Das fand ich nicht, das möchte ich einfach jedem nochmals ans Herz legen, der Kafka mag – die Ausstellung dauert noch bis am 28. August. Gezeigt wird das 100 Jahre alte Manuskript von Kafkas Roman „Der Prozess“.
Von Jahr zu Jahr gibt es mehr kritische Stimmen zum deutschen Buchpreis, die Auswahlkriterien, Themenwahl sowie die Geschlechterverteilung bei den Autoren werden heiss diskutiert. Hier einige Gedanken dazu sowie die diesjährige Longlist.
Wer gerne liest, kennt das Problem: Die Regale platzen aus allen Nähten, Bücher müssen weg. Was läge näher, als ein neues Zuhause für sie zu suchen? Tipps und Tricks, wie man gebrauchte Bücher am besten online verkaufen kann.
Ich werde neu jeden Samstag 10 Artikel hier vorstellen, über die ich die Woche durch im Netz gestolpert bin. Allen gemeinsam ist, dass sie sich um Literatur im weitesten Sinne drehen.
„Uncreative Writing“
Schreibt ab, denn es ist alles schon geschrieben. Dies verkürzt gesagt die These des US-Autors und Literaturdozenten Kenneth Godsmith. Hier ein Interview mit Swantje Lichtenstein, die sein Buch „Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter“ zusammen mit Hannes Bajohr übersetzt hat. Der Artikel: HIER
Was denkt ihr dazu? Ist diese Form von Literatur eine analoge Geschichte zu Collagen und damit eine moderne Form von Literatur?[1] Oder doch nur Plagiat?
150 Jahre gelbe Bändchen
Wer kennt sie nicht, die kleinen gelben Büchlein? Reclams Universal-Bibliothek hat es sich zum Programm gemacht, grosse Literatur in kleinen und erschwinglichen Büchern zu verlegen und damit die Leseerinnerungen von Schülern massgeblich mitgeprägt. Der Artikel: HIER
Buchhandlungen als Glücksorte
Der Autor Arnold Stadler ist überzeugt: Buchhandlungen braucht die Welt, denn da wohnt das Glück. Recht hat er! Der Artikel: HIER
Lesen ist gesund
Das war uns natürlich schon lange klar, aber hier kann man es nochmals detailliert nachlesen und hat sogar noch eine wirklich wunderbare Illustration dazu. Der Artikel: HIER
Lesesucht – es gibt schlimmeres
Sechs Süchtige erzählen davon, was sie lesen, wie sie lesen, wo sie lesen, wieso sie lesen – und überhaupt. Der Artikel: HIER
Jeder kann Autor sein
Wer schon immer mal ein Buch schreiben wollte, aber nicht weiss, wie das geht: 30 Schreibtipps von Autoren. Der Artikel: HIER
Auch Satzzeichen spielen eine Rolle
Wie gerne vergisst man mal ein Komma oder setzt Anführungszeichen falsch? Satzzeichen tragen aber durchaus zum besseren Lesen und vor allem zum richtigen Verstehen bei. Der Artikel: HIER
Wie überarbeite ich mein Manuskript?
Tipps und Tricks für die, welche eine Geschichte, einen Text geschrieben haben und diesen nun überarbeiten wollen. Der Artikel: HIER
Der Verleger Egon Ammann ist tot – ein Nachruf
Er war ein Liebhaber der Literatur, einer, der sich immer wieder mit Enthusiasmus für die Literatur einsetzte. Der Artikel: HIER
Tatort-Autoren plaudern aus dem Nähkästchen
Woher nehmen die Autoren des Tatort-Krimis ihr Wissen? Wen fragen sie, wenn sie mal anstehen? Worauf kommt es an beim Schreiben? Der Artikel: HIER
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[1] Wobei: Ganz neu ist es ja nicht, schon Thomas Mann wandte eine Technik an, die man Montage-Technik nannte, Nietzsche sogar noch mehr: Wenn man seine Bücher analysiert, kann man ganze Abschnitte finden, die er aus anderen Werken abgeschrieben hat.
Wann wird er endlich kein Kind mehr sein? Was wird ihn davon befreien, ihn zum Mann machen?
Befreien wird ihn, wenn es soweit ist, die Liebe. Wenn er auch nicht an Gott glaubt, an die Liebe und die Macht der Liebe glaubt er.[1]
J. M. Coetzee wird am 9. Februar 1940 in Kapstadt als Kind einer Grundschullehrerin und eines Juristen, die Familie hat niederländische Wurzeln, geboren. Gesprochen wird wird in der Familie Englisch, trotzdem ist er auch des Afrikaans mächtig. Die politischen Umstände sind alles andere als einfach, die Apartheid bahnt sich an und spaltet das Land. Coetzee studiert Englisch, absolviert daneben ein Zweitstudium in Mathematik. Er fühlt sich – glaubt man seinem autobiographischen Roman Die jungen Jahre – immer zum Dichter berufen, findet aber selten die richtigen Umstände, um wirklich mit dem Schreiben zu beginnen, so wie er es gerne täte. Entweder wähnt er sich am falschen Ort oder er fühlt von der Muse – der richtigen Frau, die für ihn bestimmt ist und die in ihm die Kreativität entzünden wird – ungeküsst.
Um beides zu ändern bricht John nach London auf, wo er eine Stelle als Programmierer bei IBM annimmt. Neben der Arbeit sucht er nach Frauen und nach literarischen Vorbildern, an denen er sich festhalten und wachsen könnte – beides klappt nicht wie gewünscht und auch der Arbeitsalltag setzt ihm mehr und mehr zu.
Unter dem schattenlosen Neonlicht fühlt er sich im Innersten bedroht. Dem Gebäude, ein charakterloser Würfel aus Beton und Glas, entströmt offenbar ein Gas, geruchlos, farblos, das in sein Blut gelangt und ihn betäubt. IBM, das kann er beschwören, ist dabei, ihn umzubringen, ihn in einen Zombie zu verwandeln.[2]
Neben dem immer unbefriedigenderen Brotberuf schreibt Coetzee eine wissenschaftliche Arbeit über Ford Madox Ford und erhält damit 1963 den Master in Englisch der Universität Kapstadt. Im gleichen Jahr heiratet er auch. Es folgt 1965 das Doktoratsstudium, welches er 1969 erfolgreich abschliesst, um danach eine Lehrtätigkeit an der State University of New York at Buffola aufzunehmen. Sein politisches Engagement gegen den Vietnamkrieg wird ihm zum Verhängnis: Sein Antrag auf ein unbefristetes Aufenthaltsrecht wird abgelehnt, die ganze Familie (mittlerweile sind zwei Kinder geboren) reist nach Südafrika, wo Coetzee 1970 einen Lehrauftrag für Englisch, Linguistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Uni Kapstadt übernimmt, 1984 wird er zum Professor ernannt.
Das Werk
Coetzees Romane, Erzählungen und auch seine Sachbücher zeugen von seinem politischen Engagement. Immer weist er auf die Missstände in seinem Land hin, zeigt die prekäre Lage in Bezug auf die Menschlichkeit, aber auch die Vergehen des Menschen am Tier auf.
Ebenfalls Thema ist bei Coetzee die Grenze zwischen Literatur und Fiktion. In einigen Werken tritt ein stark autobiographischer Zug zutage, trotzdem bleibt der Protagonist des Romans eine Kunstfigur, die zwar viele Lebensfakten des Autors in sich trägt oder Stationen durchläuft, dabei aber nie ein genaues Abbild desselben darstellt. Das persönliche Selbstverständnis eines Menschen, so Coetzee, ist denn auch selten eine realistische, objektive Sicht auf sich selber, es entspringt vielmehr einem Bewusstsein, das bewusst oder unbewusst manipulierbar ist. Eingehend befasst hat sich Coetzee damit in seinem Buch Eine gute Geschichte: Ein Gespräch über Wahrheit, Erfindung und Psychotherapie, welches in Zusammenarbeit mit der Psychologin Arabella Kurtz 2016 herausgekommen ist.
Aktuelle Lesung
John M. Coetzee liest am Dienstag, 4. Juli am Openair Literatur Festival in Zürich aus seinem bisher unveröffentlichten Text The Glass Abattoir (Das Glas-Schlachthaus). Es geht in dem Text im weitesten Sinne um die Beziehung eines Sohnes zu seiner Mutter, aber auch um das Verhältnis von Mensch und Tier, um die Missstände in Bezug auf die unwürdige Behandlung des Tieres durch den Menschen.
Link zur Veranstaltung: HIER
Ausgewählte Werke:
Romane und Erzählungen
1977 In the Heart oft he Country (Im Herzen des Landes)
1980 Waiting fort he Barbarians (Warten auf die Barbaren)
1983 Life & Times of Michael K (Leben und Zeit des Michael K)
1997 Boyhood. Secenes from Provincial Life (Der Junge. Eine afrikanische Kindheit)
Kasandra ist die Geschichte der Königstochter und Seherin, die ihren eigenen Tod vorhersieht und ihm entgegen geht, mit dem Vorsatz, bis zum Schluss ihre Bewusstheit und Autonomie wahren zu wollen.
Mit der Erzählung geh ich in den Tod.
Hier ende ich, ohnmächtig, und nichts, nichts, was ich hätte tun oder lassen, wollen oder denken können, hätte mich an ein andres Ziel geführt.[1]
Apollon verleiht Kassandra die Sehergabe. Weil sie seinem Werben nicht nachgibt, bestraft er sie mit einem Fluch: Zwar sieht sie alles, was sich ereignen würde, voraus, aber keiner glaubt ihren Prophezeiungen.
Kassandra wird Priesterin im Tempel des Apollon, soll deswegen – wie alle anderen Mädchen auch – entjungfert werden. In diesem Zusammenhang trifft sie auf Aineias, welcher sie mit sich nimmt, sie aber nicht anrührt. Kassandra verliebt sich in Aineias, verliert ihre Unschuld später aber an Panthoos, den Apollonpriester, welcher sie zur Priesterin geweiht hat. Beim Akt selber stellt sie sich immer vor, er wäre Aineias. Wieso dieser nicht wirklich an der Stelle ist, erschliesst sich nicht ganz.
Später taucht Paris in Troja auf, Kassandra erfährt, dass er ihr Bruder ist. Kassandra sieht voraus, dass dessen Liebe zu Helena, der Gemahlin des Königs Menelaos, Troja in den Untergang führen würde, doch niemand hört auf sie. So sehr sie auch versucht, vor dem Krieg zu warnen – ihre Prophezeiungen versanden im Nichts (als Kassandrarufe).
Nicht die Untat, ihre Ankündigung macht die Menschen blass, auch wütend, ich kenn esvon mir selbst. Und dass wir lieber den bestrafen, der die Tat benennt, als den, der sie begeht.
Es folgen weitere Vorhersagen, die nicht gehört werden, sowie die Verheiratung Kassandras durch ihren Vater mit Eurypylos, welcher allerdings gleich nach der Hochzeit im Kampf fällt. Auch Paris ist mittlerweile tot. Aineias bittet Kassandra, mit ihm zu gehen und an einem anderen Ort ein neues Leben zu beginnen, was Kassandra trotz ihrer Liebe ablehnt. Sie entscheidet sich für ihren eigenen Tod.
Es folgt die berühmte Szene mit dem Trojanischen Pferd, die Griechen haben es vor die Stadtmauern gestellt und damit ein scheinbares Ende der Belagerung signalisiert. Trotz Kassandras Warnungen ziehen die Trojaner es in die Stadt hinein – das Ende Trojas ist damit besiegelt. Die wenigen Überlebenden werden von den Griechen versklavt.
Kassandra wird Agamemnons Sklavin, sie fährt auf seinem Schiff nach Mykene und lässt während der Fahrt die ganze Geschichte Revue passieren. Sie weiss, dass in Mykene der Tod auf sie wartet. Klytaimnestra, Agamemnons Frau, und Aigisthos, ihr Geliebter, werden Agamemnon und Kassandra ermorden.
Für alles auf der Welt nur noch die Vergangenheitssprache. Die Gegenwartssprache ist auf Wörter für diese düstre Festung eingeschrumpft. Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden.
Entstehung
Das Werk ist 1983 gleichzeitig in der BRD und in der DDR erschienen. Es ist ein gesellschaftskritisches Werk, welches anhand der mythologischen Geschichte die innergesellschaftlichen Bewusstseinsprozesse offenlegen will. Zum mythologischen Stoff kam Christa Wolf eher zufällig. Bei einer Reise verpasst sie einen Flug nach Athen und sitzt ohne Literatur in Berlin fest, so dass sie sich dem Vorhandenen zuwendet: Orestie von Aischylos. Von Kassandra fasziniert, forscht sie weiter. Wer sich für die ganze Entstehungsgeschichte interessiert, dem seien die vier im Rahmen der Frankfurter Poetik-Vorlesungen gehaltenen Vorlesungen von 1982 empfohlen: Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra (HIER)
Hintergründe
Kassandra ist in der griechischen Mythologie die Tochter des Priamos und der Hekabe, sie ist die Zwillingsschwester von Helenos sowie die Schwester von Hektor, Polyxena, Paris und Troilos.
Wegen ihrer Schönheit verleiht ihr der Gott Apollon die Sehergabe, er verspricht sich als Dank ihre Zuneignung, die sie ihm aber versagt. In seinem Stolz verletzt verflucht Apollon Kassandra und ihre ganze Nachkommenschaft. Zwar soll sie die Sehergabe behalten, aber keiner wird ihren Weissagungen glauben.
Die tragische Heldin findet sich in den Kassandrarufen noch heute: Warnungen, die keiner hören will.
Für das Verständnis von Christa Wolfs Buch empfiehlt es sich, zuerst die Zusammenhänge der griechischen Mythologie kennenzulernen. Ein Standardwerk ist sicher Die schönsten Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab.
Hier alle in Wolfs Werk vorkommenden Figuren und ihre Zugehörigkeiten/Beziehungen[2]:
Achill: griechischer Held, wird von Kassandra „Achill das Vieh“ genannt (Grieche)
Agamemnon: Bruder des Menelaos, Gatte Klytaimnestras, hat seine eigene Tochter Iphigenie geopfert (Grieche)
Aias der Große: wird im Zweikampf von Hektor besiegt (Grieche)
Andron: Bediensteter des Hofes, später Gefolgsmann Eumelos und Geliebter Polyxenas (Trojaner)
Aphrodite: Verspricht Paris die schöne Helena. (griechische Göttin)
Apollon: Gott der Seher und Musen. Er schenkte Kassandra die Kraft des Sehens (griechischer Gott)
Arisbe: Mutter des Aisakos. Lebt in den Ida-Bergen (Trojanerin)
Artemis: Göttin der Jagd. Soll Aisakos in einen Tauchvogel verwandelt haben. (griechische Göttin)
Asterope: Die Frau des Aisakos, starb am Kindbettfieber (Trojanerin)
Athene: Schutzgöttin Athens, ist auf der Seite der Griechen, weil Paris nicht sie als schönste Göttin gewählt hat (griechische Göttin)
Briseis: Tochter Kalchas‘, Frau des Troilos, geht nach dessen Tod zu ihrem Vater, zu den Griechen, kehrt aber später zurück und lebt von da an in den Ida-Bergen (Trojanerin)
Deiphobos: Zweitältester Bruder Kassandras (Trojaner)
Hesione: Schwester des Priamos, wird von Telamon entführt und zur Frau genommen (Trojanerin)
Iphigenie: Tochter Agamemnons und der Klytaimnestra, wurde von ihrem Vater der Artemis geopfert (Griechin)
Kalchas: „der Seher“, läuft von den Troern zu den Griechen über.
Kassandra: Ich-Erzählerin, Tochter des Priamos und Hekabe. Sie ist Priesterin im Tempel des Apollon, Außenseiterin, Seherin und ein Beutestück des Agamemnon.
Oinone: Vor Helena die Geliebte des Paris, hat eine besondere Kräuterheilkunde
Panthoos: ‚Panthoos der Grieche’ genannt, oberster Apollon-Priester
Paris: Bruder der Kassandra, hätte getötet werden sollen, da ein Fluch auf ihm liegt, wuchs bei Hirten auf, Helena wird ihm von Aphrodite versprochen, entführt sie. (Trojaner)
Troilos: Bruder der Kassandra, wird am ersten Kriegstag von Achill getötet (Trojaner)
Trojanisches Pferd: Erfindung des Odysseus; die Griechen täuschten ihre Abreise vor, versteckten sich jedoch im riesigen Trojanischen Pferd. Die Troer nahmen es hinein, da sie dachten, es sei ein Geschenk der Griechen an die Götter und so konnten die Griechen Troja stürmen.
Christa Wolf berichtet aus der Sicht von Kassandra über den Mythos des abendländischen Patriarchats. Im Beuteschiff von Agamemnon sitzend, überdenkt sie ihr Leben, überdenkt ihr Streben nach Bewusstheit und Autonomie.
Ich will die Bewusstheit nicht verlieren, bis zuletzt.
Lieber geht sie in den Tod, als ihr Leben einem Mann anzuvertrauen. Lieber ergibt sie sich ihrem Schicksal, als sich aufzugeben. Sie ist damit eine Aussenseiterin in einem System, das für Frauen klare Rollen vorgesehen hat. Diesen Rollen widersetzt sich Kassandra. Auch wenn sie immer wieder zum Objekt gemacht wird, indem sie verheiratet, in Priestergebräuche gepresst und bei Nichtbefolgen des männlichen Willens verflucht wird, hält sie an ihrem Subjekt-Sein fest.
Kassandra behandelt aber auch eine Tragik des Menschseins insgesamt: Blind rennen wir ins Unglück, Warnrufe ignorieren wir, wähnen uns in Sicherheit, bis es zu spät ist. Die Trojaner wollten nicht wahrhaben, dass sie besiegbar sein könnten, waren sie doch bislang immer die Sieger gewesen. Dieser Hochmut bedeutete ihren Fall.
Vergeblich versuchen wir uns der Gewalt zu entziehen
Dieser Satz vom Anfang des Buches deutet klar auf den Inhalt desselben: Es geht abwärts, die Spirale dreht unaufhaltsam und die Menschen werden durch Schmerz und Leid mitgezogen. Schwäche und Angst lassen sie dabei immer mehr zu Gehorchenden werden, statt dass sie selber ihr Leben in die Hand nehmen. Dem widersetzte sich Kassandra. Sie wollte selber ihr Leben steuern, auch wenn es in den Tod führte.
Die politische, zeitgeschichtliche und gesellschaftskritische Komponente liegt auf der Hand. Christa Wolf hat mit Kassandra eines der wenigen Zeugnisse abgelegt innerhalb der DDR, welches eine bewusste Gesellschafts- und Selbstanalyse aufweist. Dass sie sich dabei als Kassandra sieht, dafür steht dieses Buch.
Zur Autorin
Christa Wolf wurde 1929 in Landsberg/Warthe (Gorzów Wielkopolski) geboren und lebte in Berlin und Woserin, Mecklenburg-Vorpommern. Ihr Werk wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Georg-Büchner-Preis und dem Deutschen Bücherpreis für ihr Gesamtwerk. Sie starb 2011 in Berlin.
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[1] zit. nach Christa Wolf: Kassandra, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 2008. (HIER)
Ich habe ja vor einiger Zeit auf Instagram eine #abcliteraturchallenge gemacht, daraus entstand dieser Artikel: HIER
Gerade lief die zweite Runde aus, dieses waren die Bücher, die ich auswählte:
A: Hannah Arendt: Denktagebücher
Nirgendwo taucht man so tief in ihr Denken, in ihren Arbeitsprozess, in ihr Dichten auch ein wie hier. Und man lernt unglaublich viel kennen und wird auch selber immer wieder zum Denken angeregt!
B: Gottfried Benn: Gedichte
Ein vielseitiger, tiefgründiger Dichter, welcher wie kein anderer Tabuthemen wie Krankheit, Verwesung und Tod aufgriff, aber auch in ehrlichen, poetischen Versen voller Melancholie und Feingefühl. Der Band enthält seine Gedichte von den frühen bis zu den späten und lässt so gut die Entwicklung Benns erkennen, sowohl inhaltlich wie auch sprachlich und formal.
C: J. M. Coetzee: Die jungen Jahre
Autobiographie, Künstlerroman und Zeugnis einer Zeit und eines Zeitgefühls. Die Suche nach dem eigenen Platz in dieser Welt beschrieben in einer oft poetisch anmutenden Sprache. Sehr berührend!
D: Friedrich Dürrenmatt: Stoffe I-III und IV-IX
Mein Lieblingsschweizer mit Humor, Biss und Tiefgang liefert hier eine Art poetischer Autobiografie, die zugleich beispielhaft für sein philosophisches Denken und seinen scharfen Blick auf sich und vor allem die Welt ist.
E: T. S. Eliot: Gesammelte Gedichte
„Ich verbrachte mein Leben mit Versuchen, mich selbst zu vergessen. Versuchen, mich mit der Rolle zu identifizieren, die ich mir gewählt hatte.“ Das lässt Eliot seinen Lord Claverton sagen und es steckt nur schon in diesen zwei Versen unglaublich viel drin: über sein Denken, seine Zeit, den Menschen generell in seinem täglichen Tun. Berühmt wurde Eliot vor allem für „The Waste Land“, aber auch seine übrigen Gedichte sind sehr zu empfehlen.
F: Claire Fuller: Eine englische Ehe
„Was ich wirklich liebe: Wie wir damals waren und wie wir hätten werden können.“ Ein wunderbares Buch über die Liebe, über Träume, Verletzungen, das Älterwerden, Hoffnung und vieles mehr. Für mich das grosse Highlight unter den Neuerscheinungen.
G: Françoise Gilot: Mein Leben mit Picasso
Françoise Gilot schreibt über ihre Zeit an der Seite des wohl grössten Künstlers: Pablo Picasso. Eine wunderschöne Liebesgeschichte, die aber für beide Seiten auch schmerzhaft war. Zudem die Geschichte einer starken Frau.
H: Patricia Highsmith: Ediths Tagebuch
Ediths Tagebuch handelt von der Sehnsucht einer Frau nach einem harmonischen Familienleben, allerdings sitzt dieselbe in der amerikanischen Pampa, wird vom Mann betrogen, dessen Onkel sie dafür pflegen soll und kämpft mit einem egoistischen Sohn. Um der Öde zu entkommen, schreibt sie von ihrem imaginären Wunschleben in ihr Tagebuch.
I: Kazuo Ishiguro: Die Ungetrösteten
Die Geschichte eines Konzertpianisten, der von verschiedenen Menschen um Gefallen gebeten wird und darüber sein eigenes Leben mehr und mehr aus den Augen verliert.
J: Uwe Johnson: Die Mutmassungen über Jakob
Ein Buch über den Tod von Jakob Ab: Wie kam er, der ins Visier der Staatssicherheit gekommen war, ums Leben? War es Mord, Selbstmord oder ein Unfall? Ein Roman über die Suche nach Wahrheit , ein Roman auch über die Verhältnisse in der DDR.
K: Franz Kafka: Das Schloss
Das Schreiben sollte für ihn therapeutische Wirkung haben, er litt unter psychischen Problemen und wollte sich quasi auf einen friedlichen Tod hinschreiben, zu gross war in ihm die Vorstellung eines baldigen Endes. Entstanden ist ein skurriler, grotesker Roman, ein Meisterwerk der Literatur.
L: Harper Lee: Wer die Nachtigall stört
Es gibt wohl kaum einen liebenswürdigeren Protagonisten als Atticus Finch. Die Geschichte eines liebevollen Vaters, der seinen Kindern die Werte des friedlichen Miteinanders vorlebt, der einsteht für seine Überzeugungen und sich einsetzt im Kampf gegen Rassismus und Ungerechtigkeit. Ein Mensch mit dem Herzen auf dem richtigen Fleck. Eigentlich müsste das Buch Pflichtlektüre sein, es schlägt alle langatmigen philosophischen Abhandlungen über Sitte und Moral auf wunderbare Weise. Toll übrigens auch die gelungene Verfilmung mit Gregory Peck.
M: Heinrich Mann: Professor Unrat
Die Tyrannei des kleinen Mannes, erzählt als eine makabre Groteske.
N: Friedrich Nietzsche
Keine leichte Kost. Für einmal kein theoretisches Buch, Nietzsche schreibt in hymnischer Prosa über den Denker Zarathustra und legt diesem eigentlich die eigene Philosophie in den Mund. Dabei hält er die zeitgenössische Leserschaft für dem Werk nicht gewachsen, weswegen er es auch ein Buch für Alle und Keinen nennt.
O: Lori Ostlund: Das Leben ist ein merkwürdiger Ort
Die Geschichte von Aaron Englund, der nach vielen Jahren Beziehung und 149 Einträgen in seinem persönlichen Klagenkatalog beschliesst, nochmals neu anzufangen und sein Leben hinter sich zu lassen. Er fährt nach San Francisco, findet einen Job sowie eine neue Unterkunft und merkt dann, dass er etwas mitgenommen hat: seine Vergangenheit in Form von vielen Erinnerungen.
Sylvia Plath: Die Tagebücher
Die Tagebücher einer sensiblen, melancholischen, mit sich unbarmherzigen, intensiven, zerrissenen, nach Anerkennung dürstenden Dichterin.
Q musste leider ausfallen
R: Rainer Maria Rilke: Gesammelte Gedichte
Das ist eines der Bücher für die berühmte einsame Insel für mich. Dadurch, dass von den frühen bis zu den späten Gedichten alle da sind, kann man Rilkes Entwicklung als Dichter schön nachvollziehen. Der eher schwülstig flache Jungdichter entwickelt eine Sprachprägnanz und Bildkraft, arbeitet mit Rhythmus und Enjambements mit einem Können , das seinesgleichen sucht. Ich habe mich wohl grad als Fan geoutet.
S: Arthur Schnitzer: Der Weg ins Freie
Eine Geschichte über die Liebe, das Streben nach Freiheit, Ausbrüche und Lebenslügen. „Ungetrübte Erinnerungen bewahren wir doch nur an versäumte Gelegenheiten.“
T: George Tabori – verschiedene Werke
Mein T widmete ich einem Autoren, nicht einem seiner Werke: George Tabori, der sich in seinen Werken mit Themen wie Rassismus und Diskriminierung auseinandersetzte, der unermüdlich die Gräueltaten, die Menschen einander antun und vor allem im Zweiten Weltkrieg angetan haben (Taboris Vater starb in Auschwitz), thematisierte.
Das eine U, das in meinem Regal steht, brachte ich schon letztes Mal, so dass das U dieses Mal ausfallen musste.
V: Voltaire: Über die Toleranz
Dass das Buch aktueller denn je ist, zeigt das Zitat: „Was soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er einem den Hals abschneidet?“
W: Oscar Wilde: Bunbury
Wildes letzte Komödie handelt von Dandys und Liebeleien, kommt in locker-flockigem Stil mit viel Humor daher und ist doch bitterböse Gesellschaftskritik.
Mit dem X ist es jedes Mal dasselbe: Ich habe keines.
Y: Irvin D. Yalom: Die Liebe und ihr Henker
Yalom plaudert aus dem Nähkästchen der Psyhoanalyse, entstanden sind unterhaltsame Geschichten rund um die Menschen, ihre Beziehungen, Sorgen und Absurditäten.
Z: Emile Zola: Das Kunstwerk
Zola beschreibt einen an sich selber verzweifelnden Künstler, der schliesslich nur einen heilsamen Weg sieht: Selbstmord.
Es war eine schöne Runde, ich glaube, ich mache wohl noch eine Runde, dann werde ich aber die Titel dem ABC entlang laufen lassen. Start ist am 1. Juli, vielleicht macht jemand auf Instagram mit?
Friedrich Mergel startet alles andere als gut ins Leben: Der Vater ein Säufer, die Mutter – schön, stolz und fromm – ist nach dem Tod ihres Mannes mit allem überfordert und mausarm, so dass er schon früh die Härte des Lebens kennenlernt. Durch seinen Onkel wird er zudem in unlautere Machenschaften verwickelt. Bei dieser Vorgeschichte ist es kaum verwunderlich, dass der Verdacht auf ihn fällt, als die Leiche des ermordeten Juden Aaron gefunden wird.
Friedrich Mergel kommt als Sohn des Säufers Friedrich Mergel und der stolzen und schönen Margret Semmler in einem kleinen westfälischen Dorf auf die Welt. Schon früh nimmt sein Leben einen schwierigen Gang, sein Vater stirbt, als Friedrich neun Jahre alt ist, Armut ist das Los von Friedrich und seiner Mutter. Friedrich arbeitet als Kuhhirt, bis ihn sein Onkel Simon Semmler unter die Fittiche nimmt und ihm durch dunkle Geschäfte zu etwas Geld verhilft. Bei seinem Onkel lernt er auch dessen unehelichen Sohn, den Schweinehirten Johannes Niemand kennen, die zwei werden unzertrennlich.
Friedrich ist Teil der sogenannten Blaukitte,, welche im Dorf immer wieder Holz stehlen. Als bei einem solchen Vorfall der Oberförster Brandis zu Tod kommt (Friedrich hat durch einen warnenden Pfiff an seine Mitganoven eine Teilschuld), meldet sich Friedrichs Gewissen – doch die Geschichte lässt sich nicht mehr drehen, das Unheil nimmt seinen Lauf, Friedrich kann den Pfad von Gewalt und Vergehen nicht mehr verlassen.
Auf einer Hochzeitsfeier wird Friedrich vom Juden Aaron gedemütigt, kurz darauf findet man dessen Leiche im Brederwald unter einer Buche. Der Verdacht fällt auf Friedrich, welcher zusammen mit Johannes Niemand flieht. Zwar gesteht kurze Zeit darauf jemand anderes den Mord, Friedrich bleibt aber verschwunden. Erst nach 28 Jahren, die Tat ist mittlerweile verjährt, kehrt Friedrich heruntergekommen und verkrüppelt zurück – er ist unterzwischen in türkischer Gefangenschaft gewesen – und bestreitet fortan einen kargen Lebensunterhalt durch Botengänge. Hartnäckig meidet er den Brederwald, welcher ihn aber doch immer anzieht. Schliesslich erhängt er sich an der Buche, unter welcher Aaron damals (von ihm) ermordet gefunden worden ist.
Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.
Entstehung
Die Novelle von Annette von Droste-Hülshoff ist 1842 im Cotta’schen Morgenblatt für gebildete Leser erschienen. Sie beruht auf einer wahren Gegebenheit, von welcher die Autorin seit ihren Kindertagen durch Erzählungen Kenntnis hatte. Ihr Onkel August von Haxthausen hatte seinerseits die ganze Ursprungsgeschichte anhand von Gerichtsakten aufgezeichnet und sie unter dem Titel Geschichte eines Algier Sklaven veröffentlicht. In Die Judenbuche erfand Annette von Droste-Hülshoff quasi eine Vorgeschichte zu dieser wahren Geschichte.
Zum Werk
In ihrer Novelle gelingt es Annette von Droste-Hülshoff, begangenes Unrecht als eine Folge der Verhältnisse in der Gesellschaft darzustellen. Sie beschreibt diese Gesellschaft selber dadurch als problematisch, als
die Begriffe von Recht und Unrecht einigermassen in Verwirrung geraten waren.
Neben dem eigentlichen Recht hat sich ein zweites, von den Mitgliedern der Gesellschaft selber bestimmtes eingebürgert, welches sich in der öffentlich geäusserten Meinung niederschlug und durch entsprechendes Verhalten oder Nicht-Verhalten Vergehen gegen so gedachte Ordnungen ahndete – oder ignorierte.
es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung.
Droste-Hülshoff legt diese Mechanismen anhand des Einzelschicksals von Friedrich Mergel dar, welcher schon von Geburt kaum eine Chance auf ein erfolgreiches Leben hat, sein Schicksal wird ihm quasi in die Wiege gelegt dadurch, dass schon der Vater ein „gänzlich verkommenes Subjekt“ ist.
Die Natur fungiert in dieser in einem westfälischen Dorf spielenden Geschichte als Zeuge und Richter. Alles, was passiert, geschieht im Brederwald, der Tod von Friedrichs Vater, der von Förster Brandis sowie der spätere Mord an Aaron in der Nähe der Buche, die so zum Dingsymbol für das Unheil wird. An dieser Buche erhängt sich schliesslich Friedrich auch, als er mit der auf sich geladenen Schuld nicht mehr umgehen kann. Damit erfüllt er den Spruch, der als Mahnung an den Judenmord 28 Jahre zuvor in die Rinde geschnitzt worden war:
Wenn du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan hast.
Annette von Droste-Hülshoff
Annette von Droste-Hülshoff wurde 1797 bei Münster geboren und zeigte schon früh literarisches Talent. Neben dem beschaulichen Leben im Münsterland reiste sie gern und viel, nach der Hochzeit ihrer Schwester und deren Wegzug nach Meersburg am Bodensee bevorzugt dahin, so dass sie den Ort bald als zweite Heimat erlebte und 1844 vor Ort auch selber ein Haus erwarb, wo sie ab 1846 ganz wohnen blieb und 1848 starb.
Ein Sonderling, gebildet, das Bürgertum verachtend, nicht davon loskommend. Er ist ach so leidend und analysiert sein Sein und sein Leiden am Sein. Über Seiten. Und er dreht im Kreis. Immer wieder definiert er sich. Als Wolf. Und er definiert seine Abneigung gegen das Bürgertum und konstatiert seine Anhänglichkeit an dasselbe. Und dann verzweifelt er wieder. Und hadert mit dem Sein, liebäugelt mit dem Nicht-mehr-Sein, vor dem er sich aber doch fürchtet und plötzlich wieder dem Sein anhängt.
Anfangs fand ich ein paar Stellen, die ich grossartig fand. Dann wurden es weniger. Dann noch weniger. Dann war es bemühend. Dann ödete es mich an. Dann kämpfte ich, weil es ja ein Klassiker ist. Und dann gab ich auf.
So viel Pseudo-Psychologie. So viel Innensicht, die im Kreise dreht. So viele Klischees, die wie ein Steak in der Pfanne gedreht und gewendet werden.
Ich bekenne mich schuldig: Ich kann Hesses Prosa kaum lesen. Ich liebe seine Gedichte, seine Romane sind für mich schlicht psychologisierendes, klischeehaftes, zu Offensichtliches als tiefgründige Erkenntnisse erzählendes Schreiben.
Und ja, nun frage ich mich natürlich: Was ist falsch mit mir? Ich erinnere mich an meine Anfänge im Germanistik-Studium. Ich war jung und traf den einen oder anderen Mann. Man diskutierte und immer kriegte ich erst zu hören:
Ich lese nicht gerne.
Knapp gefolgt von:
Aber Hesse, den las ich gerne.
Ich habe Hesse gemieden, da alle, die nicht gerne lesen, ihn mochten. Das war kindisch. Aber ich war jung. Ich lernte seine Gedichte kennen, ich liebte (und liebe noch immer) sie. Ich las das eine oder andere Werk von ihm, die kurzen gingen grad noch, die langen waren tödlich. Und nun wollte ich einen neuen Anlauf starten. Am Anfang war ich begeistert, es liess schnell nach.
Darf man das sagen? Er ist ja… einer der Grossen. Muss man den mögen? Was ich grosse Literatur? Ich bleibe dabei – für mich: Er ist ein grossartiger Lyriker, in der Kürze trifft er Gefühle, Erfahrungen, Erkenntnisse. Auf den Punkt. Aber in der langen Form schweift er aus. Er packt die selben kurzen Erkenntnisse in Schleifen, Packpapier, Tüll und verziert mit Blumen. Oder er dreht im Kreis. Immer und immer wieder. Und ich würde gerne schreien:
Ich habe es begriffen!!!!
Aber er kann mich nicht mehr hören, es bleibt nur noch:
Ein tyrannischer Schulprofessor verspricht jedem ungehorsamen Schüler – und für ihn sind sie alle ungehorsam – den Untergang. Bei diesem Vorhaben stösst er auf die Künstlerin Rosa Fröhlich, setzt für sie alles aufs Spiel, verfolgt mit ihr sein Ziel, die zu Stürzenden zu Fall zu bringen und stürzt nach einer intensiven und machtvollen Phase selber ab.
Da er Raat hiess, nannte die ganze Schule ihn Unrat, Nichts konnte einfacher und natürlicher sein.
Seit 26 Jahren ist der Gymnasiallehrer Raat Lehrer am Gymnasium einer nordischen Kleinstadt, alle ansässigen Bürger kennen ihn und damit auch seinen Übernamen, den er seiner Unbeliebtheit – er ist alles andere als ein zugewandter Lehrer, seine Mittel und Methoden sind tyrannisch, feindselig und schikanös – verdankt: Professor Unrat. Da er dies nicht auf sich sitzen lassen will, sinnt er auf Rache, besonders die drei Schüler Kieselack, von Erztum und Lohmann hat er dabei im Visier.
Als Unrat per Zufall auf ein Gedicht Lohmanns an eine Künstlerin stösst, wittert er seine Chance, weil er ein unsittliches Verhältnis des verhassten Schülers annimmt. Er macht sich auf die Suche nach der Künstlerin Rosa Fröhlich. Schon die Suche läuft wie im Fieberwahn ab. Als er schliesslich in die Gaststätte „Blauer Engel“ kommt, sieht er sich am Ziel. Nicht nur ist der Zuschauersaal gefüllt mit dem ganzen minderwertigen Pöbel, gegen das er grösste Abscheu hegt, auch findet er da die gesuchte Künstlerin und die verfolgten Schüler, welche ihm aber entkommen können.
Unrat verliebt sich in die bunte Künstlerin, geht fortan täglich in das Etablissement – einerseits, um den Schülern doch noch auf die Schliche zu kommen, andererseits, um zu verhindern, dass jemand anders der Künstlerin zu nah kommt. Rosa Fröhlich lässt sich auf Unrat ein, worauf dieser ihr alle Wünsche erfüllt, von teuren Speisen und Kleidern angefangen bis hin zu einer eigenen Wohnung. In ihr sieht er eine Gleichgesinnte, etwas, das er im ganzen Ort nicht kennt und auch im ganzen Leben nie kannte.
Sein Verhältnis mit der Künstlerin macht die Runde im Ort, zuerst wird er zum Gespött und Gemiedenen, dann verliert er die Stelle an der Schule. Rosa und Unrat heiraten, sie leben fortan in der Unratschen Villa vor dem Tor der Stadt. Durch die fehlenden Einkünfte in finanzielle Not gelangt, fängt Unrat auf Anraten Rosas an, privat zu unterrichten, allerdings wird aus dem Unterricht bald ein Festgelage, das sich immer mehr ausweitet und die Bürger der Kleinstadt zu Spiel und Wein in die Unratsche Villa lockt. Indem sich Rosa mit ihnen einlässt, stürzt einer nach dem anderen aus seinem wohleingerichteten Leben, Unrat sieht sich am Ziel, es allen heimzuzahlen, welche ihn je gedemütigt haben. Das Geld fliesst in Strömen, Rosa und Unrat leben in Saus und Braus, doch dann kommt es zu Engpässen, die Schulen häufen sich.
Am Ende tritt Lohmann, welcher zu Schulzeiten Unrats grösstes Feindbild war, erneut in das Leben der beiden. Er bietet Rosa an, alle ihre Schulden zu tilgen, legt ihr seine gefüllte Brieftasche auf den Tisch. Unrat kommt dazu, er tobt vor Eifersucht, geht Rosa körperlich an und flieht dann mit Lohmanns Brieftasche. Das Ehepaar Raat wird verhaftet, womit der Tyrann gestürzt ist und das gemeine – und vorher den Gelagen im Unratschen Haus nicht abgeneigte – Volk wird wieder zu ehrbaren Bürgern,
Entstehung
Professor Unrat erschien 1905, seine Niederschrift hatte nach Heinrich Manns eigenen Aussagen nur wenige Monate gedauert.
Während Heinrich Mann sich in seinen vorherigen, nach 1900 erschienen Romanen mehrheitlich mit der bürgerlichen Gesellschaft der Grossstadt befasst und – als Kritik an der Décadence – deren Verfall analysiert hat, wendet er sich im vorliegenden Roman der Provinz zu. Dass der Roman in Lübeck spielt, ist kein Geheimnis. Die Stadt hat in der wilhelminischen Monarchie einen Sonderstatus im Vergleich mit anderen deutschen Städten, da in ihr eine republikanische Verfassung gilt, so dass sie statt von einem Monarchen von den reichen Kaufmännern und traditionellen Patrizier beherrscht wird. Für die Unterschicht, die einfachen Bürger bedeutet das, dass sie kaum Rechte hat.
Das gesellschaftliche und vor allem schulische Klima ist durchdrungen von sturen Prinzipien und Grundsätzen, es gilt Zucht und Ordnung.
Zum Werk
Der Roman lässt sich einerseits als Schulsatire lesen, hat aber eine noch viel tiefere Bedeutung auf einer zweiten Ebene: Es ist eine sozialpathologische Studie, welche den einzelnen Menschen mit seinem durch Leiden und unterdrückte Triebe gesteuerten Handeln, welches sich in Machtanspruch und Tyrannei ausdrückt. Der in seinem Selbstbewusstsein erschütterte Professor Unrat sinnt auf Rache und lebt diese mit einer schon krankhaften Leidenschaft aus. Sein Blick ist von den eigenen Vorstellungen verstellt, die Realität unterliegt diesen.
Der Roman Heinrich Manns ist eine bitterböse Gesellschaftssatire, welche die kleingeistigen Bürger einer nordischen Kleinstadt – welche unschwer als Lübeck zu erkennen ist – in ihrer Doppelmoral blossstellt. Selber auf Sitte und Anstand pochend und Vergehen dagegen verurteilend, erliegen sie alle dem Reiz des anrüchigen Angebots der Unratschen Villa vor dem Tor – es ist durchaus sinnig, dass die Villa nicht innerhalb der Stadtmauern ist – und lassen sich auf unlautere Amouren mit der Künstlerin Fröhlich ein: Sitte und Anstand liegen in Trümmern. Der vorher verspottete Unrat ist nun der sie alle umstürzende Alleinherrscher, bis er selber gestürzt wird und die Kleinstadt sich wieder hinter ihre Fassade von Anständigkeit und Moral zurückziehen kann.
Liest man den Roman nach dem Zweiten Weltkrieg, könnte man Heinrich Mann fast schon eine prophetische Sicht unterstellen mit seinem Sturz des Tyrannen.
Heinrich Mann
Luiz Heinrich Mann wird am 27. März 1871 in Lübeck als Sohn des Lübecker Kaufmanns Thomas Johann Heinrich Mann und dessen Ehefrau Julia da Silva-Bruhns geboren, er hat vier Geschwister, darunter Thomas Mann. Nach dem vorzeitigen Austritt aus dem Gymnasium beginnt er eine Buchhändlerlehre, die er abbricht und danach Volontär im Fischerverlag in Berlin arbeitet. Nebenher besucht er Vorlesungen an der Friedrich-Wilhelms-Universität. 1893 zieht die Familie Mann (der Vater war gerade gestorben) nach München. Heinrich Mann reist in der Folge viel, teilweise zusammen mit seinem Bruder Thomas. 1931 wird Heinrich Mann Präsident der Sektion Dichtkunst der Preussischen Akademie der Künste. 1939 heiratet er die Schauspielerin Nelly Kröger, mit ihr, dem Neffen Golo Mann und dem Ehepaar Werfel flieht er 1940 über Spanien und Portugal in die USA, wo er sich kulturell fremd fühlt und sich finanziell nicht mehr fängt. Er wird deshalb von seinem Bruder Thomas Mann unterstützt. 1944 nimmt sich Nelly Mann das Leben, sie hat schon lange an einem Alkoholproblem gelitten. Eine neue Chance tut sich für Heinrich Mann 1949 auf: Er wird zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt. Heinrich Mann stirbt aber noch vor seiner Rückkehr nach Deutschland im Jahr 1950.
Eine Gruppe von Menschen, alle irgendwie mit finanziellen Wünschen oder Nöten bestückt, wartet im Kurort Roulettenburg auf den Tod und damit das Erbe einer alten Dame. Mit ihrem Auftritt sterben die Hoffnungen der anderen und das erwünschte Erbe wird durch die Besitzerin selber aufs Spiel gesetzt – sie verliert es beim Roulette. Zurück bleibt ein Scherbenhaufen.
Ein hochverschuldeter russischer General hält sich im Kreise von Verwandten, Bekannten und Gefolgschaft in Roulettenburg auf. Erzählt wird die Geschichte von Aleksej Iwanowitch, seines Zeichens Hauslehrer, selber verliebt in die Nichte des Generals, in Polina. Diese jedoch wird auch vom Franzosen de Grieux verehrt, welcher aufgrund seiner besseren finanziellen Stellung die besseren Karten hat. Dass Polinas Onkel seine Schulden beim windigen Franzosen hat, macht die Geschichte noch ein wenig verstrickter – und beeinflusst Aleksejs Haltung gegen diesen nicht positiv.
Der General wiederum liebt die vermögende Mademoiselle Blanche, welche mit ihrer Mutter ebenfalls vor Ort ist und einer Verbindung nur zustimmt, wenn der General zu Geld kommt. Für diesen Geldsegen gibt es eine einzige Hoffnung: Der Tod der alten Erbtante Antonida Wassiljewna Taradewitschewa. So gehen denn auch einige Telegramme nach Russland, um nach dem möglichen Ableben derselben anzufragen.
Dann kommt der Tod. Allerdings stirbt nicht die Erbtante, sondern die Hoffnung, denn die alte Dame erscheint wie sie leibt und lebt in Roulettenburg. Für die schon vor Ort Sitzenden hat sie nur Spott und Häme übrig, weiss sie doch nur zu gut über all die Verstrickungen und Hoffnungen bescheid. Die Situation wird nicht besser dadurch, dass sie gleich klar sagt, dass der General kein Geld von ihr zu erhoffen braucht, auch dass sie schnell Gefallen am Roulette findet, wo sie Unsummen verliert, trägt nicht zur guten Laune des Neffen bei.
Die alte Dame reist ab, zurück bleibt ein verzweifelter General. Polina besinnt sich indessen auf ihre Gefühle zu Aleksej und bittet diesen um Hilfe für ihre eigenen finanziellen Probleme. Statt die so lange erhoffte Liebe zu geniessen, zieht dieser nun an den Roulettetisch und verfällt einem fieberhaften Spiel. Polina flüchtet sich zu Mr. Astley, einem stillen Engländer, Mademoiselle Blanche wendet sich Aleksej zu und die beiden gehen nach Paris, wo über kurz oder lang das ganze Geld verprasst wird. Schliesslich heiratet Blanche doch den General – so ein Titel hat doch seinen Reiz – und Aleksej geht verarmt nach Homburger, wo er sich als Gelenheitsarbeiter durchschlägt. Seine Spielsucht hat ihn fest im Griff, nicht mal die Nachricht, dass Polina ihn immer noch liebt, kann ihn retten.
Entstehung
Die Entstehungsgeschichte zu „Der Spieler“ liest sich fast selber wie ein Roman. Fast möchte man sie als Dostojewskis Pakt mit dem Teufel, als seine persönliche Faust-Tragödie beschreiben.
Wir schreiben das Jahr 1866. Dostojewskis Bruder ist kurz vorher verstorben und hatte dem Schriftseller neben seiner Witze und deren vier Kindern auch noch einen Schuldenberg hinterlassen. Dostojewski selber ist gerade daran, seinen Roman Schuld und Sühne zu schreiben, welcher über mehrere Monate im Feuilleton einer Zeitung erscheint, als er von diesem finanziellen Desaster getroffen wird. In seiner Not erbittet er von einem Verleger einen Vorschuss von 3000 Rubel auf einen in kurzer Frist zu schreibenden Roman. Sollte dies nicht gelingen, gingen alle Rechte an allen bisherigen Romanen sowie am in Entstehung befindlichen an den Verleger über.
Die Rettung kommt in Form der Stenografin Anna Snitkina und seiner eigenen Spielsucht. Diese beiden Zutaten plus noch eine Inspiration durch Alexander Puschkins Pique Dame führen dazu, dass Dostojewski das fast Unmögliche möglich macht: Tagsüber diktiert Dostojewski Anna das, was er sich in der vorhergehenden Nacht ausgedacht hat, überarbeitet dann die getippten Entwürfe tags darauf und diktiert weiter. Nach 26 Tagen steht der Roman schwarz auf weiss da und kann dem gnadenlosen Verleger am 1. November 1866, zwei Stunden vor Ablauf der Frist, übergeben werden.
Was hier so einfach klingt nach dieser schreiberischen Meisterleistung, hat aber auch noch seine Tücken: Der Verleger (Stellowski hiess der Mann) sah seine Felle wohl schon davon schwimmen und verliess St. Petersburg am 31. Oktober, um die Übergabe – sollte sie denn stattfinden wollen – zu verunmöglichen. Er hat die Rechnung ohne Anna Snitkina gemacht, welche das Manuskript einem Notar aushändigt, welcher daraufhin die fristgerechte Ablieferung belegen kann.
Dostojewski und Anna heiraten übrigens kurz darauf.
Zum Werk
Der Spieler ist ein eher schmales Werk im Vergleich zu Dostojewskis übrigen Romanen, dabei aber nicht minder brillant. Die Geschichte wird vom Ich-Erzähler Aleksej Iwanowitch erzählt, welcher das ganze Geschehen stets mit eine Hauch Komik versieht und das Groteske daran offenlegt. Im Sprachduktus folgt der Roman dem Inhalt, er hat etwas Getriebenes an sich, nimmt das Spielfieber des Süchtigen auf.
Trotz des sehr engen Zeitrahmens der Entstehung zeigt sich im Spieler das literarische Können und Kalkül Dostojewskis, zeichnet er doch einen Spannungsbogen, welcher seinesgleichen sucht. Acht Kapitel lang plätschert alles dahin, sieht man sich als Leser endlosen Gesprächen und Scharmützeln ausgesetzt, bis im neunten Kapitel alles auf den Höhepunkt zusteuert: Der Auftritt der alten Dame. Mit diesem Auftritt lösen sich alle Hoffnungen und Absichten auf, der langsame und stete Fall aller Beteiligten nimmt seinen Lauf.
Der Spieler ist nicht nur eine Anlehnung an Puschkins Pique Dame (diese wird vor allem ersichtlich, wenn man sich nur auf die drei Figuren Aleksej, Polina und Antonida konzentriert), er ist auch eine Abhandlung über die eigene Spielsucht, welcher Dostojewski durch die finanzielle Misere verfallen war.