J. M. Coetzee: Die jungen Jahre (Rezension)

Der Dichter, der nicht zu schreiben beginnt

Wann wird er endlich kein Kind mehr sein? Was wird ihn davon befreien, ihn zum Mann machen?
Befreien wird ihn, wenn es soweit ist, die Liebe. Wenn er auch nicht an Gott glaubt, an die Liebe und die Macht der Liebe glaubt er.

coetzeeJungenJahreJohn wächst im politisch immer schwierigeren Südafrika, in Kapstadt, auf und studiert Mathematik. Er ist sich sicher, dass er zum Dichter berufen ist, nur gelingt das mit dem Schreiben nicht ganz, da die Umstände nicht stimmen. Er wähnt sich am falschen Ort und vor allem von der Muse – der richtigen Frau, die für ihn bestimmt ist und die in ihm die Kreativität entzünden wird – ungeküsst.

Um beides zu ändern bricht John nach London auf, wo er eine Stelle als Programmierer bei IBM annimmt. Neben der Arbeit sucht er nach Frauen und nach literarischen Vorbildern, an denen er sich festhalten und wachsen könnte – beides klappt nicht wie gewünscht und auch der Arbeitsalltag setzt ihm mehr und mehr zu.

Unter dem schattenlosen Neonlicht fühlt er sich im Innersten bedroht. Dem Gebäude, ein charakterloser Würfel aus Beton und Glas, entströmt offenbar ein Gas, geruchlos, farblos, das in sein Blut gelangt und ihn betäubt. IBM, das kann er beschwören, ist dabei, ihn umzubringen, ihn in einen Zombie zu verwandeln.

John ist ein Suchender – er sucht seinen Platz im Leben und den Weg dahin, seiner Bestimmung zu folgen und Künstler zu sein. Dabei ist er verblüffend passiv, hofft grundsätzlich, dass die Entscheidungen von anderen getroffen werden und wenn dem so ist, fügt er sich auch ohne besseres Wissen oder rechte Überzeugung hinein. So hält er Beziehungen zu Frauen aufrecht, die ihm nichts bedeuten, ihn im Gegenteil bedrücken. Er fängt nicht zu schreiben an, trotzdem er überzeugt ist, Dichter zu sein, da er auch dazu erst jemanden braucht, der ihm die Initialzündung gibt. Dass er auf diese Weise immer unglücklicher wird, liegt auf der Hand, er analysiert diesen Zug denn auch selber:

Im richtigen Leben, so scheint es, kann er nur eins richtig: unglücklich sein. Im Unglücklichsein ist er immer noch Klassenbester. Für das Unglück, das er auf sich ziehen und ertragen kann, scheint es keine Grenzen zu geben.

und findet darin etwas Gutes (frei nach dem Motto „ich erkläre mir meine Welt, wie sie mir am besten passt“:

Unglück ist sein Element. […] Wenn das Unglück abgeschafft werden würde, wüsste er nicht, was er mit sich anfangen sollte. […] Unglück ist eine Schule für die Seele.

Zudem kann ein Dichter nur unglücklich sein, nur aus dem Unglück entspringt gute Kunst – dessen ist sich John sicher. Bei allem Unglück driftet John nie ins Selbstmitleid ab, der Stil des Romans bleibt schonungslos offen, das Leben wird auf einer sehr rationalen Ebene durchdacht, gelebt und abgehandelt.

M. Coetzee ist mit Die jungen Jahren ein wunderbarer Roman gelungen, der autobiographische Züge trägt, Künstlerroman und Zeitzeugnis gleichermassen ist. Aus der Sicht des Protagonisten erfährt der Leser mehr über die Zustände in Afrika in den 1960er Jahren, erfährt, was es heisst, als Ausländer im vom Klassendenken beherrschten London Fuss fassen zu wollen. Er ist Zeuge der vielen Fragen und Überlegungen, die im Kopf des Protagonisten herumwirbeln und sein eigenes Leben und (Nicht-)Schreiben sowie auch die Welt um sich sehr klar und differenziert analysieren. Das Ganze verpackt Coetzee in eine wunderbar poetische, fliessende Sprache.

Fazit:
Erzählkunst auf ganz hohem Niveau. Coetzee entführt den Leser in die Welt eines Künstlers und lässt Zeitgeschichte lebendig werden. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor und zur Übersetzerin
M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren ist und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für ›Leben und Zeit des Michael K.‹ und 1999 für ›Schande‹. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Literaturpreise:
u.a.:
Lannan Literary Award 1998, Booker Prize 1983 (für ›Leben und Zeit des Michael K.‹), Booker Prize 1999 (für ›Schande‹), Commonwealth Writers Prize 1999 (für ›Schande‹), ›Königreich von Redonda-Preis‹ 2001, Literaturnobelpreis 2003

Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, weiter hat sie u. a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.

Angaben zum Buch:
Taschenbuch:224 Seiten
Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag (1. August 2004)
Übersetzung: Reinhild Böhnke
ISBN-Nr.: 978-3596155842
Preis: EUR 9.90 / CHF 15.90

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4 Kommentare zu „J. M. Coetzee: Die jungen Jahre (Rezension)

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