#abcdeslesens – A wie Ilse Aichinger (1.11.1921 – 11.11.2016)

In einem Interview sagte Ilse Aichinger mal, dass die glücklichste Zeit ihres Lebens die im Krieg gewesen sei. Da hätte man immerhin gewusst, woran man sei, wer Freund und wer Feind sei. Zudem wäre es eine Zeit voller Hoffnung gewesen. Diese Worte aus dem Mund einer Kriegsüberlebenden, einer Frau, die als jüdisches Mädchen nur mit Glück den zweiten Weltkrieg überlebte, da einen grossen Teil der eigenen Familie verloren hat, machen nachdenklich.

Ilse Aichinger begann schon 1945 mit dem Schreiben gesellschafts- und politikkritischer Werke. 1951 wurde sie in die Gruppe 47 eingeladen, deren Preis sie bereits 1952 gewann. Gefragt, wieso sie schreibe, sagte sie einst:

„Ich schreibe, weil ich keine bessere Form des Schweigens finde.“

Sieht man Fotos von damals, lacht Ilse Aichinger immer. Man sieht eine schöne junge fröhliche Frau. Leise rührt sich die Frage, wo die oft tieftraurigen, verbitterten Aussagen ihren Anfang nahmen, die man in späteren Interviews von ihr hörte. Hat sie diese damals überspielt? Sind sie dem Leben geschuldet, welches ihr 1972 den Mann nahm, 1998 den Sohn? Oder wirkte die Kriegszeit zeitlebens nach? Worauf bezieht sie sich, wenn sie sagt:

„Man überlebt nicht alles, was man überlebt.“

Ihr grösster Erfolg war wohl der 1948 erschienene Roman «Die grösste Hoffnung», es folgten verschiedene Erzählungen auch Gedichtbände. Es fällt auf, dass ihre Sprache sich immer mehr verdichtet – in allen Formen. Das hatte seinen Grund auch darin, dass Ilse Aichinger Sprache immer mehr auch als Ausdrucksmittel unbrauchbar empfand, da diese zu sehr der Konvention, dem fraglosen Bezeichnen anheimfiel. Ihre Konsequenz war eine «Poetik des Schweigens», etwas, mit dem sie übrigens nicht alleine war, auch bei Paul Celan finden sich solche Ansätze.

Das folgende Gedicht spricht in meinen Augen von all dem:

Ortsanfang

Ich traue dem Frieden nicht,
den Nachbarn, den Rosenhecken,
dem geflüsterten Wort.
Ich hörte,
daß sie die Häute an die Schlinge legen,
daß sie die Bänke kippen vor dem Winter,
ihre Jauchzer flogen
zum Schlaf gerüstet
durch Schul- und Kirchenhäuser
auf und fort.
Wer erwartet noch die Vögel,
die bleiben,
den Rauch übers kurze Gras?
(aus Verschenkter Rat, 1978)

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#abcdeslesens ist eine Aktion, die ich auf Instagram durchführe. Ich lese mich anhand des Alphabets durch mein Bücherregal und stelle einzelne Autoren vor.

4 Kommentare zu „#abcdeslesens – A wie Ilse Aichinger (1.11.1921 – 11.11.2016)

  1. Da freue ich schon auf die Beiträge!
    Fürs Q: Thomas de Quincey, geboren am 15. August 1785 in Manchester, gestorben am 8. Dezember 1859 in Edinburgh, war ein britischer Schriftsteller, Essayist und Journalist.Er war mit Wordsworth und Coleridge bekannt; über sein von der Opiumsucht bestimmtes Leben schrieb er das autobiographische Werk »Bekenntnisse eines englischen Opiumessers«.
    LG Michael

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