Am 31. Oktober 1912 in Wien geboren, emigrierte Jean Améry 1938 nach Belgien. Es war keine Flucht in die Freiheit, er wurde als feindlicher Ausländer verhaftet und in ein Lager gesteckt. Nach einer Flucht aus demselben ging er in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Die Folge war seine Verhaftung und das nächste Lager, in dem er gefoltert wurde.
Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen folgten. Wie soll man nach all dem weiterleben? Diese Frage stellte sich Jean Améry immer wieder. Sie prägte sein Werk, welches sich massgeblich mit der schwarzen Zeit hinter ihm und den Folgen für die kommende Zeit beschäftigte. Jean Améry litt zeitlebens unter seiner Vergangenheit. Zusätzlich schien er darunter zu leiden, dass keiner derer, die ihm solches Unecht angetan hatten, sich zu einer Entschuldigung bewegen konnte.
In vielen Essays brachte er das historische Unrecht zu Papier, moralisierte und theoretisierte und hatte damit grossen Erfolg. Daneben verfasste er das, was er seine Romanessays nannte – literarische Versuche, mit denen er auf harsche Ablehnung stiess, was ihn sehr schmerzte.
Imre Kertesz schrieb mit Blick auf Jean Améry:
Er überlebte Auschwitz; und wenn er sein Überleben überleben wollte, wenn er es mit Sinn, oder sagen wir besser: mit Inhalt versehen wollte, dann konnte und musste er als Schriftsteller die einzige Chance notgedrungen in der Selbstdokumentierung […] sehen.
Jean Améry wurde nicht müde, zu schreiben. Er schrieb gegen die eigene Verzweiflung an, schrieb gegen die gefühlte Ohnmacht an. Er kämpfte mit den Worten, welche nie dem entsprachen, was wirklich passierte. Elie Wiesel formulierte diese Problematik folgendermassen:
Wie beschreibt man das Unsagbare? Wie stellt man es an, mit Anstand den Sturz der Menschen und den Untergang der Götter wieder aufleben zu lassen? Und dann, wie kann man sicher sein, dass die Worte, sobald sie zu Papier gebracht sind, nicht die Botschaft, deren Träger sie sind, verraten, entstellen?
Adorno verdeutlichte diesen Punkt noch weiter:
Die sogenannte künstlerische Gestaltung des nackten körperlichen Schmerzes der mit Gewehrkolben Niedergeknüppelten enthält, sei’s noch so entfernt, das Potential, Genuss herauszupressen. […] Durchs ästhetische Stilisationsprinzip […] erscheint das unausdenkliche Schicksal doch, als hätte es irgend Sinn gehabt; es wird verklärt, etwas von dem Grauen weggenommen; damit allein schon widerfährt den Opfern Unrecht.
Jean Améry lebte ein Leben als Opfer und wurde diesen Opferstatus nicht mehr los. Die einzige Möglichkeit des Überlebens war das Schreiben und beim Schreiben wurde er sich der eigenen Opferrolle immer wieder von Neuem bewusst.
Heute würde Jean Améry 100 Jahre alt. Er würde auf ein Leben voller Tragik, auf ein gefangenes Leben zurück schauen. Als er merkte, dass er nie mehr frei sein, die Vergangenheit sich immer in Ketten um ihn legen würde, befreite er sich selber mit einer Überdosis Schlaftabletten.
„Wer abspringt, ist nicht unbedingt dem Wahnsinn verfallen, ist nicht einmal unter allen Umständen ‚gestört‘ oder ‚verstört‘. Der Hang zum Freitod ist keine Krankheit, von der man geheilt werden muss wie von den Masern… Der Freitod ist ein Privileg des Humanen.“
Danke für diesen interessanten Beitrag. Ich muss gestehen, dass mir Jean Améry kein Begriff war, obwohl ich mich eigentlich sehr für Schriften aus der Zeit Auschwitz interessiere. Hast du etwas gelesen von ihm, was du mir besonders empfehlen könntest? 🙂
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Ich habe Améry im Zuge meiner Dissertation kennen gelernt, wo ich auch einen literarischen Exkurs eingebaut habe. Ich habe alles von ihm hier stehen, sehr zu empfehlen ist „Jenseits von Schuld und Sühne. Wenn dich die Zeit interessiert, kennst du sicher Imre Kertesz? Ich war sehr ergriffen beim Lesen seiner Bücher, vor allem „Roman eines Schicksalslosen“ und „Dossier K“. Es gäbe noch viele zu nennen, Michael Degens „Nicht alle waren Mörder“ habe ich hier schon rezensiert, ich habe es in einem Zug verschlungen. Wenn du mehr Tipps möchtest, nur melden.
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