Abschied

Nun sind es sechs Jahre. Sechs Jahre, in denen die Welt weiterdrehte, das Leben weiterging. Trotzdem.

Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Masche Kaleko

Als mein Vater starb, war mir dieses Gedicht wie aus dem Herzen geschrieben. Ein Weiterleben erschien fast undenkbar, meine Welt war dunkel und voller Schmerz. Wer könnte meinen Schmerz verstehen? Wer könnte wissen, was ich bis hier hin durchgemacht habe, wer nachvollziehen, wo ich nun stand? Ich fühlte mich trotz vieler gut gemeinter Worte allein – im wahrsten Sinne des Wortes verlassen. Zum Glück bin ich es nicht. Und doch hat mich der Weg geprägt, hat mir diese Erfahrung einiges mit auf meinen weiteren Weg gegeben.

Der Tod entreisst. Er trennt, was mal zusammen war. Er nimmt den einen mit und lässt den anderen ohne diesen zurück. Nun wissen wir alle nicht, was der Tod wirklich ist, was danach kommt – wir haben unsere Vorstellungen, Ideen, schöpfen auch Halt daraus. Was wir aber wissen – heute erinnern wir uns daran – ist, wie es für uns (für jeden einzeln von uns) ist, zurück zu bleiben, wenn einer geht.

Wo mal etwas (oder gar ganz viel) war, ist nichts mehr. Und doch auf eine andere Weise auch ganz viel. Wo grad noch jemand stand, steht keiner mehr – und doch ist er noch da. Irgendwie. Und oft ganz heftig gefühlt, fast schon überwältigend. Dann wieder still und leise – und… auch ab und an freudvoll. Was wäre da, wäre all das, was mal war, nicht gewesen? Wie dankbar kann man sein für das, was war, wenn es noch nachhallt? Und doch ist da auch der Schmerz, weil es gut war, und man das Gute gerne bewahren würde. Genau so, wie es gut war.

Menschen treten in unser Leben. Manche gehen gleich wieder, andere bleiben eine Weile, gehen dann, weitere bleiben lange. Weil es passt. Umso schwerer fällt der Abschied. Und doch bleibt die Dankbarkeit, dass sie da waren.

„Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“

Die Frage ist anfangs drängend, oft wohl auch überwältigend. Sie weicht mit der Zeit zurück, steigt nur ab und an am eigenen Firmament wieder auf im Sinne eines „ich vermisse dich“. Was bleibt ist die Erinnerung. Und damit der, der nicht mehr ist. Schön, wenn man sie lebendig halten kann, schön, wenn sie weiter Teil des Lebens ist. Und wunderbar, wenn sie zu einer friedvollen und freudvollen wird im Sinne einer Dankbarkeit dafür, dass war, was war, und noch sein darf, was ist. So leben Menschen weiter. Vielleicht ein bisschen ewig.

Rilke dichtete einst – das Gedicht ist übrigens mein Lebensmotto:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Und wer weiss: Vielleicht ist der letzte Ring auch der Ring, den andere für uns weiter ziehen. Durch ihre Erinnerung. Und wir gestalten diese Erinnerung durch unsere Gegenwart.

Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, und doch schaue ich ab und zu zum Himmel hoch und denke an ihn. Vielleicht weil wir früher gemeinsam oft zum Himmel schauten und über die Sterne sinnierten.

Ich schreibe an einem Buch, in dem ich mein Aufwachsen erinnere. Mein Aufwachsen mit ihm. Der Arbeitstitel ist „Mein Papabuch“. Die Arbeit daran bringt mir so vieles wieder ins Heute, das ich vergessen hatte. Zumindest glaubte ich das. Und so lebt er doch irgendwie auch weiter. Mit mir.

Danke für dein Dasein – so lange.

5 Kommentare zu „Abschied

  1. Ergreifende Gedanken, die ich nachvollziehen kann. Einen geliebten Menschen verliert man nie. Auch wenn er dem Neuen Platz macht, bleibt der Ort im Herzen nicht leer. Wir Menschen sind da, um erfüllt zu sein von dem, was war, von dem. was ist und von dem, was kommen wird. Wenn wir es nur von einem sind, verfehlt uns das Glück.

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