Rose Ausländer (11. Mai 1901 – 3. Januar 1988)

Ich hebe mein Glas auf Rose Ausländer, die heute 122 Jahre alt würde!

Denkzeiten

Rose Ausländer wurde als Rosalie Beatrice Scherzer am 11. Mai 1901 in Czernowitz, Österreich-Ungarn in einen liberal-jüdischen und kaisertreuen Haushalt geboren. Zwar hatte man sich vom streng orthodoxen Ostjudentum distanziert, trotzdem waren die wichtigen jüdischen Traditionen wichtig und wurden gelebt.

Czernowitz war eine Mischung aus verschiedenen Völkern und damit auch Sprachen, 60 Prozent der Bevölkerung waren Juden, die Umgangssprache war Deutsch. Deutsch wurde als Kultursprache und als Sprache des Aufstiegs angesehen. Paul Celan sprach von Czernowitz in einer Rede von einer «Gegend, in der Menschen und Bücher lebten». Literatur und Kultur genossen einen hohen Stellenwert in Czernowitz.

«Bukowina II

Landschaft die mich
erfand

Wasserarmig
Waldhaarig
die Heidelbeerhügel
honigschwarz

Viersprachig verbrüderte
Lieder
in entzweiter Zeit

Ausgelöst
strömen die Jahre
ans verflossene Ufer»

1916 musste die Familie nach Budhapest fliehen, weil Czernowitz von den Russen besetzt wurde. Von da ging es 1919 weiter nach Wien und 1920 zurück nach Czernowitz. Rose Ausländer…

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Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren.

Max Frisch – eine Biografie

Inhalt

«Es scheint eine Leidenschaft zu sein, die sich da entwickelt, unabhängig von äusserem Erfolg. Da will und muss sich einer Luft verschaffen, sich ausdrücken, sich aufteilen auf mehrere Stimmen, Rollen entwerfen, die man für das Leben halten könnte.»

Max Frisch war ein Zweifelnder. Ein Suchender. Er war ein Mensch voller Gegensätze und ein Mensch der Sprache, mit denen er all das zu erfassen suchte. Diesem Menschen hat sich Ingeborg Gleichauf in der vorliegenden Biografie auf eine persönliche, kenttnisreiche und poetische Weise angenommen. Sie beleuchtet das Leben und Schaffen eines Menschen, bei dem beides nicht zu trennen ist, weil ohne das Leben und seine Erfahrungen das Schreiben nicht möglich wäre, ohne das Schreiben ein Leben ebenso wenig. Zumindest könnte es ohne die Sprache und das Schreiben nicht verstanden werden.

In chronologischer Reihenfolge begleiten wir Max Frisch durch sein Leben, seine Reisen, seine Beziehungen und seine Werke, die jeweils kurz dargestellt werden. Entstanden ist ein romanhaft anmutendes Buch, welches für ein junges Publikum genauso zugänglich und aufschlussreich ist wie für ein erwachsenes.

Gedanken zum Buch

«Diese Frage nach sich selbst, nach dem, was man ist und sein könnte: Bereits der junge Frisch sieht hierin ein existenzielles Problem.»

Max Frisch wurde oft vorgeworfen, er drehe nur um sich, er sei quasi sein einziges Thema, um das er nachher alles geschrieben hat. Dass dies sicher zu kurz gegriffen ist, liegt auf der Hand, allerdings ist nicht zu bestreiten, dass das Thema der (eigenen) Identität eines seiner zentralen war. Was ist der Mensch und wer kann er sein? Wie steht er in der Gesellschaft und was bedarf es, darin und nicht am Rand zu stehen? Gerade die letzte Frage beschäftigte ihn stark, schwankte er doch in jungen Jahren zwischen seiner Sehnsucht nach Bürgerlichkeit, nach Zugehörigkeit, und seinem Drang, Schriftsteller, und damit am Rande stehender Beobachter, zu sein.

«Wie man sich doch immer in die Quere kommt, wenn man eigentlich ‘sachlich’ sein soll. IN allem, was man schreibt, ist man selbst enthalten. Und so ist das Schreiben, auch das journalistische Schreiben, immer eine Möglichkeit, mir und meinen Erfahrungen auf die Spur zu kommen.»

Schon Goethe sagte, dass alles Schreiben autobiographisch sei. Das bedeutet nicht, dass einer immer nur die eigene Lebensgeschichte schreibt, sondern es bleibt nicht aus, dass sich im Schreiben die eigenen Gedanken, Erfahrungen und Gefühle widerspiegeln. Frisch sah sich denn auch als Beobachter, als Augenmensch war ihm das klare (Hin-) Sehen wichtig. Wirklich gesehen und erfahren, vor allem aber verstanden, hat er die Dinge aber nur, wenn er für sie eine Sprache gefunden hat.

«Mit dem Seltsamen des Lebens umgehen wird für ihn bedeuten, sich vor allem sprachlich damit auseinanderzusetzen.»

Das Schreiben war immer auch sein Weg zu sich selbst, sein Weg zum klareren Verständnis. Daneben war es aber auch die Möglichkeit des Ausdrucks. Ohne einen solchen, so Frischs Überzeugung, sei das Leben kaum ertragbar. Frisch selbst sagte einst, dass Schreiben sei wie Reisen, indem er durch die Sprache aus sich herausgehe, um schliesslich wieder bei sich zu landen.

«Nichts ist dem Menschen so fern als das eigene Ich, er ist sich selbst das Fremde, daher kommt er sich gerade dann näher, wenn er in einen grossen Abstand zu sich tritt.»

Dass es notwendig ist, sich selbst auf die Spur zu kommen, führt Max Frisch auf den Umstand zurück, dass man sich eigentlich fremd ist. Wir leben in unserem Alltag und bewegen uns oft unbewusst in ihm. Viele unserer Reaktionen und Handlungen sind Automatismen, sind Gewohnheiten geschuldet. Max Frisch gibt sich damit nicht zufrieden, er will tiefer gehen, sich kennenlernen, herausfinden, wer er wirklich ist. Dazu dient ihm das Schreiben. Das ist auch eines der Hauptthemen seines Schreibens: Identität sowie die Verortung des Ichs in der Welt. Am besten gelingt das in Frischs Augen durch das Theater, weil dies immer eine Auseinandersetzung mit sich und der Gesellschaft darstellt. Das Stückeschreiben ist eine Form von Zeitzeugenschaft, die sich aktuellen Themen wie sozialer Ungerechtigkeit, den Fesseln des bürgerlichen Lebens und der Freiheit zuwendet.

Max Frisch erfindet keine neuen Welten, er beobachtet die vorhandene genau. Er ist ein Augenmensch, der sich im Sehen schult und das so Erfahrene in Sprache, in Sprachbilder umformt. SO geht er als Sehender durch die Welt, beobachtet sie, die Menschen in ihr und das Zeitgeschehen. Doch erst, wenn er es schafft, das alles in Sprache zu fassen, kann er es verstehen, existiert es im tatsächlichen Sinn.

Fazit
Ingeborg Gleichauf ist eine leicht zu lesende, dadurch auch einem jungen Publikum zugängliche, fast schon romanhafte, und doch fundierte Biografie gelungen, die einen sehr persönlichen Blick auf Max Frisch offenbart.

Zur Autorin
Ingeborg Gleichauf wurde 1953 in Freiburg geboren, studierte Germanistik und Philosophie und promovierte über Ingeborg Bachmann. Sie veröffentlichte erfolgreiche Biographien, darunter Hannah Arendt (2000), Sein wie keine andere. Simone de Beauvoir (2007) und Denken aus Leidenschaft (2008). Zuletzt erschien bei Nagel und Kimche Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie (2010).
Ingeborg Gleichauf wurde 1953 in Freiburg geboren, studierte Germanistik und Philosophie und promovierte über Ingeborg Bachmann. Sie veröffentlichte erfolgreiche Biographien, darunter Hannah Arendt (2000), Sein wie keine andere. Simone de Beauvoir (2007) und Denken aus Leidenschaft (2008). Zuletzt erschien bei Nagel und Kimche Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie (2010).

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Verlag Nagel & Kimche AG; 2. Edition (16. August 2010)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 272 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3312009893

Gepsräche mit Max Frisch: Der unerkannte Geliebte

«Es ist bemerkenswert, dass wir gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei. Wir lieben ihn einfach. Eben darin besteht ja die Liebe, das Wunderbare an der Liebe, dass sie uns in der Schwebe des Lebendigen hält…» (Tagebuch 1, 27)

Jemanden zu sehr zu kennen, bedeutet danach, dass das Lebendige einer Art Starre weicht. Wenn ich denke, jemanden durch und durch zu kennen, dann weiss ich, wie er ist, was er tut, ich muss nicht mehr hinschauen, mich nicht mehr interessieren, es steht alles fest.

«Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben, solang wir sie lieben.» (Tagebuch 1, 27)

Die Liebe führt dazu, immer weiterzugehen, tiefer zu tauchen, den anderen in seinem Sein zu durchschauen. Nur wird das nie gelingen, weil alles, was die Natur hervorbringt, unerschöpflich ist, schrankenlos, wie es Max Frisch ausdrückt «alles Möglichen voll».

Vielleicht ist es aber auch so, dass wir den kennen, den wir nicht lieben, weil wir nur soviel erkennen wollen, wie sich uns darbietet. Wir haben gar nicht den Wunsch, tiefer zu tauchen, immer mehr zu kennen. Wir sind weniger forsch forschend, eher zurückhaltend erkennend und annehmend. Die kleinen Eigenheiten, die tiefen Geheimnisse, sie offenbaren sich erst in der Nähe, deren grösste die Liebe darstellt.

Anneleen Van Offel: Hier ist alles sicher

Inhalt

«Dieser Tote ist nicht mein Sohn, das ist ein Mann, den ich nicht kenne… Es gelingt mir nicht, meinen Sohn zu sehen, in dem Toten auf dem Krankenhausbett meinen Sohn zu sehen.»

Als Immanuel seine Mutter Lydia nach 10 Jahren Funkstille bittet, nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat.

Gedanken zum Buch

«Der Tod kommt von innen, er ist immer schon da, er wächst, bis er grösser ist als das, was der Körper ertragen kann.»

«Hier ist alles sicher» ist eine Geschichte über die verschiedenen Leben, die man leben kann, es ist eine Geschichte über die Liebe, über Verlust, Schuld, Reue und den Tod. Es geht darum, was Familie ist und was Heimat bedeutet. Es ist die Geschichte einer Suche nach der eigenen Geschichte, danach, wer man ist und was davon bleibt, wenn vieles nicht mehr ist.

«Mit jedem Mal, dass ich das ausspreche, wird es endgültiger.»

Es ist die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Zuerst durch Distanz, dann durch den Tod. Diesen endgültigen Abschied zu verstehen, zu realisieren, ist schwer. Ihn in Worte zu fassen, ist noch schwerer, da die Sprache den Dingen eine endgültige Realität zu verleihen scheint. Wenn es ausgesprochen ist, kann es nicht mehr ignoriert werden, dann ist es wirklich.

«Solange es Reue gibt, bin ich schuldig, und solange ich mich schuldig fühle, bin ich unschuldig, weil ich dann nicht zulasse, dass es in Vergessenheit gerät.»

Wer trägt die Verantwortung für das eigene Leben und wer die für das Leben anderer, allen voran das Leben von Kindern? Hat das eigene Tun dazu beigetragen, dass ein Unglück geschah? Hätte man es verhindern können? Wäre Lydia imstand gewesen, den Selbstmord von Immanuel aufzuhalten, wenn sie früher nach Israel gegangen wäre? Wo ist dessen Vater, der vor 10 Jahren das Kind mit sich nach Israel nahm, raus aus Belgien und dem damals gemeinsamen Zuhause? Wer hat Schuld an dem, was passiert ist?

All diese Fragen treiben Lydia um, als sie durch Israel fährt, auf den Spuren von Immanuels Leben ohne sie. Sie will ihm nah sein, will die Landkarte seines Lebensweges nachfahren, in der Hoffnung, mehr über ihn zu erfahren. Es wird ihr nicht wirklich gelingen, die Fragen bleiben präsent, sie nimmt sie mit auf ihrem Weg.

Anneleen van Offel beginnt ihre Erzählung damit, dass Lydia am Totenbett des Sohnes sitzt. Sie blickt auf ihr Kind und reist in Gedanken zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Erinnerungen vermischen sich mit aktuellen Gefühlen, ein Riss bricht auf, der durch die Welt geht und sich über das ganze Buch erstrecken wird als Leitmotiv. Es entsteht beim Lesen eine Atmosphäre, die fast körperlich wirkt, einen Kloss im Hals und eine Schwere auslöst. Das Buch betrübt, bewegt, bestürzt, es überfordert mit dieser Unmittelbarkeit des Schmerzes.

Im zweiten Kapitel kommt es zu mehr Distanz, die Suche nach dem verpassten Leben des Sohnes beginnt und das Buch nimmt Fahrt auf. Sprachlich poetisch und philosophisch tiefgründig zieht einen diese Geschichte in den Bann, kann diesen Sog aber leider nicht durchhalten. Das Geschehen, die inneren Monologe, die Erinnerungen – sie alle werden zeitweise träge und langwierig. Trotzdem kann man von einem sehr lesenswerten und gelungenen Debüt sprechen.

Fazit
Eine Geschichte über Liebe, Schuld, Familie, Verlust und Tod – emotional bewegend, philosophisch tiefgründig und sprachlich poetisch.

Autorin und Übersetzerin
Anneleen Van Offel, 1991 in Antwerpen geboren, studierte Wortkunst am dortigen Königlichen Konservatorium. Sie hat Kolumnen für die flämische Zeitung „De Standaard“ und Kurzgeschichten und Gedichte für verschiedene Literaturzeitschriften geschrieben. Sie arbeitet als Redakteurin für die Zeitschrift „Deus Ex Machina“. Außerdem ist Anneleen Van Offel Programmgestalterin verschiedener literarischer Veranstaltungen. Von 2019 bis 2021 war sie Stadtschreiberin von Kortrijk. Für ihr Debüt „Hier ist alles sicher“ reiste sie immer wieder nach Israel, sprach mit zahlreichen Israelis, israelischen (Ex-)Soldaten und deren Familien. Der Roman wurde in Belgien und den Niederlanden von der Presse gefeiert und für seinen einfühlsamen Stil gelobt. anneleenvanoffel.be | @anneleenvanoffel

Christiane Burkhardt studierte Italienische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Kunstgeschichte und war anschließend zunächst im Lektorat tätig. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen in München und unterrichtet neben ihrer eigenen Tätigkeit literarisches Übersetzen

Angaben zum Buch

  • ·  Herausgeber ‏ : ‎ Freies Geistesleben; 1. Edition (15. März 2023)
  • ·  Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • ·  Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 266 Seiten
  • ·  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3772530319
  • ·  Originaltitel ‏ : ‎ Hier is alles veilig
  • ·  Übersetzung‏ : ‎ Christiane Burkhardt

Christian Morgenstern (6. Mai 1871)

Ich hebe mein Glas auf Christian Morgenstern, er würde heute 152 Jahre alt.

Denkzeiten

Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern wird am 6. Mai 1871 in München in eine Malerfamilie geboren. Als Christian Morgensterns Mutter 1881 an Tuberkulose stirbt, wird Christian nach Hamburg zu seinem Paten geschickt, kehrt ein Jahr später zurück nach München und geht ab da ins Internat in Landshut, wo er züchtigenden Körperstrafen der Lehrer und Mobbing der Mitschüler ausgesetzt ist. Als sein Vater, mittlerweile neu verheiratet, nach Breslau an die Königliche Kunstschule berufen wird, zieht die ganze Familie um, Christian besucht da das Gymnasium. In diese Zeit fallen auch seine ersten Schreibversuche, das Trauerspiele Alexander von Bulgarien, die Mineralbeschreibung Mineralogia popularis (beide Texte sind nicht erhalten) und der Entwurf für eine Faustdichtung entstehen.

Ab dem Herbst 1889 besucht Christian Morgenstern die Militär-Vorbildungsschule, verlässt diese aber schon nach einem Jahr und kehrt aufs Gymnasium zurück. Es folgt das Studium der Nationalökonomie, währenddessen Morgenstern zusammen mit Freunden die Zeitschrift Deutscher Geist gründet…

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Lebenskunst: Glauben

Mein Zugang zum Yoga kam über die Philosophie. Ich kannte zuerst die Hintergründe, stieg erst dann auf die Matte. Man könnte sagen, dass dies dem entspricht, was ich bin: Ich will zuerst wissen, was ich tue, bevor ich es tue. Diesen Zug habe ich nie ganz ablegen können, er ist aber auf der Matte anders geworden: Ich habe gelernt, etwas zu tun, um dann zu erfahren, was dahinter steckt, wie es wirkt. Dies nun von der Matte ins Leben zu holen, ist nicht immer einfach, aber immer befriedigend, wenn es gelingt, da es einen unmittelbareren Zugang zum Leben mit sich bringt, einen, der nicht von vorauseilenden Gedanken, Bewertungen, auch Ängsten beschwert ist. Es ist eine neue, mir vorher sehr fremde Art des Vertrauens in das Tun und dessen Wirkung, ein Vertrauen auf die Erfahrung dadurch und daraus.

Meine erste Begegnung mit Ganesha kam erst später. Und: Es war Liebe auf den ersten Blick. Ich hatte in verschiedenen Yogastudios verschiedene Statuen hinduistischer Gottheiten gesehen, sie haben ich alle nicht sonderlich angesprochen, hier war es anders. Dass Ganesha der Gott der Intelligenz und der Künste ist, dass er Glück bringt und Hindernisse aus dem Weg räumt, erfuhr ich dann bei der weiteren Auseinandersetzung und befand: Das passt, das kann ich brauchen.

„Om Gam Ganapataye Namaha“ (Ganesha-Mantra)

Nun bin ich kein gläubiger Mensch und in vielem doch eher westlich als östlich ausgerichtet, da so geprägt, und doch gefällt mir das hinduistische Konzept der Anbetung verschiedener Götter je nach Lebenssituation und Bedürfnissen. Für mich bedeutet das, die Energie auf das zu lenken, was im Leben aktuell ist. Ich stehe vor einer Aufgabe und sehe Hindernisse? Ganesha ist da. Für mich nicht als Gott, sondern eher als Symbol dafür, dass Hindernisse aus dem Weg geräumt werden können. Wenn ich daran glaube und das Meinige dazu tue. Diese Haltung kommt aus dem Glauben, dass das, worauf ich meine Energie lenke, stark wird, weil die gelenkte Energie ihm Kraft gibt. Und wer weiss: Vielleicht hilft Ganesha ja doch mit. Und sonst ist er einfach «mein Elefäntli», das mich begleitet in meinem Leben. (Dass ich Elefanten liebe und sammle, hat sicher auch ein wenig zu dieser Liebe beigetragen)

Keine Demokratie ohne Dialog

Unsere Gesellschaft ist gespalten. Das hört man in der heutigen Zeit häufig und meistens werden als Grund dafür Corona und die deswegen vom Staat verhängten Massnahmen ins Feld geführt. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses die Gründe für die Spaltung sind oder aber sie dieselbe, schon dagewesene, deutlich machten. Neu, davon bin ich überzeugt, ist diese Spaltung nicht, denn Spaltungen gab es immer, sowohl strukturell (arm-reich, das Patriarchat mit der Unterdrückung der Frau, etc.) wie auch in den Gesinnungen der Mitglieder der Gesellschaft. Sie teilen diese immer in zwei Lager: Dafür und dagegen.

Ich bin schon lange der Meinung, dass unser Verhalten einer Demokratie nicht würdig ist, dass wir mit unserer Art des Zusammenlebens die Demokratie gefährden und ad absurdum führen. Wenn man sich anschaut, was Demokratie bedeutet, ergibt sich folgende kurze Definition:

„Als demokratisch im weitesten Sinne bezeichnet man daher heute Machtverhältnisse, in denen Staatstätigkeiten (…) vom Volk durch die Wahl von Vertretern (Repräsentanten) und Vertreterkörperschaften ausgeübt wird, die auf mannigfache Weise (…) zustande kommen und verschieden zusammengesetzt sind. […] Demokratisch nennt man ferner innere Meinungsbildungsprozesse und Beschlussverfahren in Organisationen und Verbänden, zu welchen (analog zur demokratischen Staats- und Gemeindeverfassung) alle Mitglieder chancengleich Zugang haben und in denen sie gleichberechtigt mitwirken können.“ (Wörterbuch der philosophischen Begriffe)

Nun gibt es verschiedene Formen der Demokratie, welche ich hier nicht weiter behandeln möchte. Relevant für mein Thema hier ist nur noch, dass in einer Demokratie freie Menschen frei wählen können und bei solchen Wahlen das sogenannte Mehrheitsprinzip zum Tragen kommt. Das heisst: Bei demokratischen Entscheidungen gilt, was von der Mehrheit der Wählenden (verfassungskonform) bestimmt wird. Dass dies nicht immer befriedigend ist für die Minderheit, die den Entscheid mittragen muss, liegt auf der Hand. Was aber wäre die Alternative? In meinen Augen keine, welche die Vorzüge einer Demokratie behält und etwaige Problematiken beseitigen könnte.

«Die Majorität hat viele Herzen, aber ein Herz hat sie nicht.» Otto von Bismarck

Zentral für eine funktionierende Demokratie ist in meinen Augen ein funktionierender Austausch zwischen denen, welche die Entscheidungsgewalt haben. Nur so kann es gelingen, eine Lösung für Probleme zu erhalten, welche für die grösstmögliche Mehrheit stimmt und für die kleinstmögliche Minderheit trotz allem tragbar ist.

«Demokratie ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen.» Benjamin Franklin

Im Wissen darum, dass die überstimmte Minderheit die gefällten Entscheidungen mittragen muss, und in Anbetracht dessen, dass wir auch teilweise über Dinge entscheiden, die gerade die Minderheiten betreffen, ist es wichtig bei solchen Entscheidungen, dass die Minderheiten mit ihren Anliegen mitbedacht werden.

„Man ist gewöhnlich immer desto weniger republikanisch gesinnt, je höher der Rang ist, den man in der Welt bekleidet.» Georg Christoph Lichtenberg

Das Wissen um und das Ausnutzen der eigenen Übermacht ohne Rücksicht und Solidarität sind einer (als sozial verstandenen) Demokratie nicht angemessen. Da fangen die Probleme an, daran krankt in der heutigen Zeit die Demokratie:

Die Fronten sind verhärtet. Es scheint, als ob Menschen nicht mehr an einem Diskurs interessiert sind, als ob Dialektik ein vergessenes Gut und stures Beharren auf der je eigenen Sicht das einzige Anliegen ist. Andere Meinungen werden nicht mehr gehört, sie werden mit eigenen Argumenten in Grund und Boden gestampft. Nützt das nichts, wird der Anders-Denkende als Idiot bezeichnet und bevorzugt zum Schweigen gebracht – in den Sozialen Medien dadurch, dass man ihn ignoriert oder blockiert.

Ausgehend von meiner Hypothese, dass ohne Austausch keine (gelebte und gelingende) Demokratie möglich ist, bedeutet dies den Tod derselben. Wir müssen aber nicht mal in die Politik gehen, obwohl die Staatsform natürlich eine Sicherung der persönlichen Interessen einer Gesellschaft ausdrücken soll (im Idealfall) und damit natürlich relevant ist für den einzelnen Menschen. Schon die Gesellschaft ist eine grosse Gruppe, die oft zu abstrakt klingt. Wir leben darin, aber was ist sie konkret? Schauen wir uns also das Problem im kleineren Rahmen an: Wie gehen wir mit Menschen um, die anders denken? Hören wir uns an, was sie zu sagen haben, wie sie zu ihrer Meinung kommen? Können wir ihre Meinung auch einmal stehen lassen und akzeptieren, dass wir in gewissen Punkten nicht einer Meinung sind? Oder stimmt für uns ein Miteinander nur, wenn einer den anderen überzeugt hat (bevorzugt wir den Anderen)? Die Vehemenz, mit welcher heute Diskussionen ausgefochten (die Kriegsmetaphorik ist bewusst gewählt) werden, besorgt mich.

«Die Demokratie ist die edelste Form, in der eine Nation zugrundegehen kann.» Heimito von Doderer

Was mich ebenso besorgt, ist, dass in solchen Diskussionen nicht nur nicht genau hingehört wird, sondern die Gegenargumente oft auch aus dem Zusammenhang gerissen, falsch wiedergegeben werden und der sie Äussernde durch solche Fehlzuschreibungen verunglimpft wird. Es ist gut und wichtig, eine Meinung zu haben, und eine Meinung muss auch vertreten werden, schliesslich steckt eine Überzeugung dahinter. Was ich aber vermisse, ist die Einsicht, dass wohl keiner allein in jedem Fall immer die ganze Wahrheit sieht oder alles wissen kann. Wer glaubt, Wahrheit erkenne man nur von einem (dem eigenen) Standpunkt heraus, muss auch glauben, dass die Erde eine Scheibe ist – oder hat er die Krümmung gesehen von da, wo er steht? Hinzuhören, wie man etwas auch noch anders sehen kann, oder wie es von einer anderen Warte aus gesehen wird, kann helfen, den eigenen Blick zu weiten. Das kann dazu führen, dass man merkt, dass die eigene Sicht richtig war, weil man im Gedanken des Anderen einen Denkfehler findet, es kann dazu führen, die eigene Sicht zu revidieren oder anzupassen, weil man merkt, dass man etwas nicht bedacht hat, oder es kann zu einer gemeinsamen neuen Meinung führen, welche mehr ist als nur die Summe ihrer Teile, sondern ein ganzheitlicherer Blick auf eine Welt, die so komplex ist, dass einer allein sie kaum je wird erfassen können.

Wenn wir das nun auf die Demokratie anwenden und darauf, wie Menschen, die diese gestalten sollen, agieren müssten, komme ich zu dem Schluss: Es wird uns nur gemeinsam gelingen, die Welt so zu schaffen, dass sie für all die, welche sie bewohnen müssen, eine gute Welt ist, in welcher jeder sich nach seinen Fähigkeiten als Gleichberechtigter entwickeln kann und die Chance hat, zu partizipieren. Dazu bedarf es eines offenen Dialogs unter als gleichwertig Anerkannten, die man als mit sich verbunden sieht, weil sie wie man selber auch, in eine Welt geworfen wurden, die sie sich nicht ausgesucht haben, in welcher sie nun aber ein gelingendes Leben leben möchten.

Martin Suter: Melody

Inhalt

«Das erste Geheimnis über mich, das ich ihnen verraten muss: Ich bin kein sehr ordentlicher Mensch… Das zweite Geheimnis über mich: Ich bin kein uneitler Mensch. Ich habe mein ganzes Leben versucht, der Welt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln. Ihre Aufgabe besteht darin, dieses auch für die Nachwelt zu bewahren.»

Tom, ein junger Jurist, wird vom Altnationalrat Dr. Stotz, seine Lebenserwartung beträgt noch ein Jahr, beauftragt, seine noch vorhandenen Dokumente zu ordnen und durch gezielte Selektion nur das zu bewahren, das dem Bild entspricht, das Dr. Stotz hinterlassen möchte.

„Das dritte Geheimnis ist für sie bereits keines mehr: ich bin ein geschwätziger alter Mann.“

In der gemeinsamen Zeit erzählt Dr. Stotz Tom von seiner grossen Liebe Melody, die eines Tages, kurz vor der Hochzeit, einfach verschwunden ist, ihn aber ein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Nach Stotz’ Tod macht sich Tom mit Laura, der Grossnichte von Dr. Stotz auf der Suche nach der Wahrheit um die Geschichte mit Melody. Was ist wirklich passiert damals?

Gedanken zum Buch

„Sind Geschichten nicht immer erfunden? Spielt es eine Rolle, ob sie Wahrheit oder Fiktion sind?“

Ein sterbenskranker Mann schaut auf sein Leben zurück und auf das, was dieses Leben massgeblich geprägt hat neben seinem Erfolg: Seine Liebe zu Melody, der Frau, die er heiraten wollte und die eines Morgens einfach weg war. Er erzählt die Geschichte des Kennenlernens, die Schwierigkeiten, die sich durch ihren islamischen Hintergrund ergaben, und die seiner lebenslangen Suche nach Melody. Es ist eine traurige Geschichte, die dem alten Mann sichtlich nah geht. Ein gelebtes Leben. Ein erzähltes Leben. Was ist Wahrheit, was Fiktion? Wo hört das eine an und fängt das andere an?

„Wo die Unwahrheit es sich bequem gemacht hat, bringt Wahrheit nur Unruhe.“

Und auch eines, das die Frage hinterlässt, ob eine Unwahrheit nicht auch besser sein kann in gewissen Fällen, als die Wahrheit zu kennen.

Das Buch lebt von seinen authentischen Figuren, von der klaren, fliessenden Sprache, von der leichten Stimmung, die durch die Zeilen weht und beim Lesen ein gutes Gefühl hinterlässt. Und dies, obwohl Krankheit, Alter und Tod ein sehr zentrales Thema sind. Martin Suter gelingt es, trotz der Präsenz des angekündigten und eintretenden Todes, die Erzählung nie schwer oder bedrückend werden zu lassen.

Es gelingt Martin Suter ebenfalls, von Anfang an eine Spannung aufzubauen, die bis am Schluss nicht aufhört. Es stehen Fragen im Raum, deren Antworten man kennen will. Der Leser wird von seiner Neugier von Seite zu Seite geleitet und lässt das Buch nicht eher ruhen, bis er die Wahrheit kennt – wenn es sie denn gibt.

Fazit
Ein wunderbar leichtes, flüssig geschriebenes Buch mit stimmigen Charakteren und einem guten Mass an Spannung, die einen nicht loslässt bis zum Schluss.

Zum Autor
Martin Suter wurde 1948 in Zürich geboren. Seine Romane und ›Business-Class‹-Geschichten sind auch international große Erfolge. Seit 2011 löst außerdem der Gentleman-Gauner Allmen in einer eigenen Krimiserie seine Fälle, derzeit liegen sechs Bände vor. 2022 feierte der Kinofilm von André Schäfer ›Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit‹ am Locarno Film Festival Premiere. Seit einigen Jahren betreibt der Autor die Website martin-suter.com. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Diogenes; 2. Edition (22. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 336 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3257072341

Wer ist dieses Wir, das die Welt retten soll?

Hollywood-AutorInnen streiken, weil die Arbeitsbedingungen nicht mehr menschenwürdig sind. Das Publikum wird beruhigt, sie hätten keine Einbussen. Und nun? Schauen wir einfach weiter, Glück gehabt, die werden schon mürbe und schreiben weiter? NEIN! Wenn wir selber faire Arbeitsbedingungen wollen, müssen wir auch hinstehen, wenn andere sie nicht haben. Gerade als Konsument hat man viel in der Hand und damit eine Verantwortung! Solche Unternehmen müssen gezwungen werden, ihre Mitarbeiter fair zu behandeln. Wer macht mit?

Kann man ein Teil einer Verbesserung werden? Kann man Gedanken wachsen lassen und so einen Beitrag leisten? Ich denke ja. Wenn viele mitmachen. Und es weitere Kreise zieht. Ich würde es mir wünschen. Für Autoren. Für Künstler. Für Arbeitnehmer generell. Für Menschen.

Hier zum Artikel:

Hollywood-Autorinnen und -autoren streiken

Joy Williams: Stories

Inhalt

«Das bringt uns zu der Frage: Was ist der Mensch?, mit ihren drei Untergliederungen: Was kann er wissen? Was soll er tun? Was darf er hoffen?»

Diese Worte Kants legt Joy Williams einem Automechaniker in den Mund, dessen Aufgabe es ist, einem Paar mitzuteilen, dass ihr ganzer Stolz so verrostet ist, dass eine Reparatur nicht mehr lohnt. Er ist eine Nebenfigur in den insgesamt 13 Kurzgeschichten, die alle mitten aus dem Leben gegriffen sind. Sie handeln unter anderem von einem Priester, dessen Frau im Krankenhaus liegt, von einer sterbenskranken Frau, die eine Freundin besucht, Frauen, die nur ein Umstand verbindet: Ihre Kinder haben Menschen umgebracht. Wir leben lesend ein Stück mit ihnen, tauchen in ihre Gedankenwelten ein, und gehen wieder weiter.

Obwohl die Geschichten in sich geschlossen und immer von anderen Menschen handeln, zeichnen sie in ihrer Gesamtheit ein Bild, das Bild der (amerikanischen) Gesellschaft der mehrheitlich kleinen Leute, die vom Leben herausgefordert ihren Platz suchen und sich darin einrichten.

Gedanken zum Buch

«Er hat stets richtig gehandelt, aber es hat nie zu etwas geführt.»

Es sind die alltäglichen Fragen, welche in diesen Geschichten behandelt werden: Was ist richtig, was falsch? Wie verhalte ich mich in dieser Gesellschaft, damit ich dazugehöre, wie, wenn ich weiss, dass ich eigentlich nur geduldet, nicht erwünscht bin? Es werden Ausschnitte von Lebensentwürfen dargestellt, welche doch über sich hinausweisen, da sie Teil eines Ganzen sind. Was vorher war, klingt in ihnen an, doch wohin es führen wird, bleibt offen.

«Sie war gross und ungepflegt und sah aus wie der Inbegriff eines Menschen, der seit Kurzem nicht mehr geliebt wird.»

Joy Williams gelingt es, ihre Figuren mit wenigen Worten plastisch werden zu lassen. Durch ihre Gedanken, ihre Sprache, ihr Auftreten werden sie zu Menschen, die wir uns vorstellen können. Es entstehen Bilder im Kopf, die über die Menschen hinauswachsen, zu Typen werden, die Erfahrungen in sich tragen und lebendig werden lassen – auch eigene, die beim Lesen mitgedacht werden.

«Wenn man stirbt, kann man alles tun, was man will?…Das wusste ich nicht. Ist ja mal was Neues. Es hat also auch seine guten Seiten.»

Es sind selten erbauliche Themen, sie reichen von Krankheit über Tod gar hin zu Mord, es sind Themen von Menschen, die Leid erlebt haben, die vom Leben herausgefordert sind. Trotzdem fehlt jegliche Form von Befindlichkeit, von Melancholie, von psychologischer Beurteilung. Die Geschichten werden sachlich, bildhaft und sprachlich klar erzählt, aufgelockert durch einige Prisen Humor.

«Im Grossen und Ganzen glaubten sie, dass die Toten in der Nähe blieben und alle Erfordernisse des Daseins auf Erden erfüllten, nur befreit von der Banalität täglichen Leidens.»

Aus diesen Geschichten tropft das ganz normale Leben von normalen Menschen, die mit ihrem Alltag ein Auskommen suchen und ihn doch immer ein bisschen zu verpassen scheinen. Es sind Sozialstudien ohne wissenschaftlichen Anspruch, es sind kleine Spiegel der Gesellschaft ohne moralinsauren Zeigefinger, es sind Finger in Wunden und Blicke in Abgründe ohne belastende Schwere. Es sind kleine Auszeiten aus dem eigenen Alltag mit den eigenen Ansprüchen, die zeigen, was es noch gäbe an Lebensmodellen und wie man damit umgehen könnte – oder vielleicht auch besser nicht.

Fazit
Unterhaltsame, dennoch tiefgründige – manchmal auch abgrundtiefe – Einblicke in die Gesellschaft des amerikanischen Kleinbürgertums.

Zur Autorin und Übersetzerin
Joy Williams, geboren 1944, wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet. Sie hat zwölf Bücher geschrieben, darunter Romane, Kurzgeschichten, Essays, einen Reiseführer. Sie zählt seit langem zu den nachdrücklichen ökologischen Stimmen in den USA und lebt in Tucson, Arizona und Laramie, Wyoming.

Brigitte Jakobeit lebt in Hamburg. Sie übersetzt u. a. William Trevor und Patti Smith und wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Melanie Walz gilt als eine der herausragenden Literaturübersetzerinnen. Sie wurde mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium und mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

(Joy Williams: Stories, dtv Verlagsgesellschaft, 2. Auflage, 2023)

Lesemonat April

Wieder ist ein Monat vorbei, es war lesetechnisch ein grossartiger, bereichernder, beglückender. Dass ich ihn in Spanien verbrachte, liess die Sonne nicht nur aus Büchern, sondern auch vom Himmel scheinen, was ich sehr genoss.

Ich bin diesen Monat intensiv mit Max Frisch beschäftigt gewesen, habe einige Dokumentationen und Interviews geschaut und auch zwei Biografien gelesen. Dazu fand ich auf Youtube noch eine grossartige Inszenierung von Max Frischs «Andorra», die ich euch nur ans Herz legen kann.

Müsste ich meine Lesehighlights nennen, wären natürlich alle Bücher von und zu Max Frisch dabei, ich beschränke mich auf eines und so wären es dann die vier:

Ich tauchte mit Judith Hermann in ihr Schreiben und Leben ein, wir pendelten zwischen Traum und Wirklichkeit und waren uns nie ganz im Klaren, was nun wozu gehörte. 

Ich las bei Claire Keegan vom Leben eines Mädchens in einem Umfeld, in dem es an Liebe und eigentlich auch allem anderen fehlt, und das in einem neuen Umfeld erst lernen muss, dass es Liebe, Vertrauen und Zuwendung gibt und es diese auch geniessen darf. 

Ich lebte bei Martin Suter mit Tom und Dr. Stotz in dessen Villa und saugte die Geschichten über Melody, die verschollene Liebe von Dr. Stotz auf. Immer schwebte die Frage über uns allen: Was geschah mit Melody?

Ich pendelte mit Max Frisch zwischen Technik und Liebe hin und her, reiste mit Homo Faber nach Südamerika und Italien, um schliesslich in Griechenland zu landen, wo ein Kreis sich schloss. 

Ich beschäftigte mit Themen Schreiben, Wahrheit und Illusion, Identität und Zuschreibung, Schuld, Liebe und vielen mehr. Und ich freue mich auf einen neuen Lesemonat. 

Was waren eure Lesehighlights im April?

Hier die vollständige Liste:

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagtEine Geschichte vom Schreiben und vom Leben und von der Verwebung von beidem. Eine Geschichte, die zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt, nie ganz klar offenbarend, was wozu gehört. Eine Geschichte, die eigentlich keine ist, sondern ein Schreibfluss der Erinnerungen und der versuchten Einordnung derselben. Wir hätten uns alles gesagt – und irgendwie doch alles verschwiegen. 4
Claire Keegan: Das dritte LichtEin kleines Mädchen wird bei Verwandten abgeladen, weil die Mutter wieder schwanger und so ein Maul weniger zu stopfen ist. Plötzlich findet sich das Kind in einer Umgebung voller Liebe und Leichtigkeit, kann sich kaum drauf einlassen, weil klar ist: Irgendwann muss sie zurück. Ein Buch voller Wärme und Poesie. 5
Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine BiografieEin sehr literarisches, informatives, persönliches Porträt eines Schriftstellers und Menschen mit kurzen Analysen der wichtigsten Werken.5
Daniel Glattauer: Die spürst du nichtEine Sozialstudie in Romanform, bei der ein Flüchtlingsmädchen im Ferienpool reicher Leute ertrinkt, was von den Medien und in den Kommentarspalten derselben ausgeschlachtet wird. Angereichert wird alles mit ein paar Klischees und einem Erzähler, der sich immer wieder quasi an den Leser wendet und sich mit diesem verbündet. Nicht uninteressant, aber teilweise zu gewollt. 4
Anneleen van Offel: Hier ist alles sicherAls Immanuel seine Mutter Lydia bittet, nach 10 Jahren Funkstille nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat. Nach einem fast körperlich schmerzhaften, niederdrückenden Anfang sprachlich und inhaltlich gut und einnehmend, doch dann liess es langsam los und hat mich verloren.  3
Joy Williams: Stories13 Kurzgeschichten aus dem amerikanischen Alltag des Kleinbürgertums. Sozialstudien, welche die Herausforderungen desselben offenlegen, ohne dabei zu psychologisieren oder zu plakativ darstellend zu werden. Mit viel Charme, Sprachkunst und einer guten Prise Humor gewürzt. Mich hat es doch nicht durchgehend gepackt, es wirkte oft zu beliebig und planlos. 3
Martin Suter: MelodyTom, ein junger Jurist, wird vom Altnationalrat Dr. Stotz, seine Lebenserwartung beträgt noch ein Jahr, beauftragt, seine noch vorhandenen Dokumente zu ordnen und durch gezielte Selektion nur das zu bewahren, das dem Bild entspricht, das Dr. Stotz hinterlassen möchte. In der gemeinsamen Zeit erzählt Dr. Stotz Tom von seiner grossen Liebe Melody, die eines Tages, kurz vor der Hochzeit, einfach verschwunden ist, ihn aber ein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Nach Stotz’ Tod macht sich Tom mit Laura, der Grossnichte von Dr. Stotz auf der Suche nach der Wahrheit um die Geschichte mit Melody. Was ist wirklich passiert damals?5
Urs Bircher: Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911 – 1981Eine sehr umfassende, objektive Biografie, die das Leben und Schreiben Max Frischs in die politische Zeit der Schweiz und die kulturellen Gegebenheiten einbettet. Ohne Verklärung aber mit der nötigen Zugewandtheit zeichnet Urs Bircher das Bild dieses streitbaren, tiefgründigen, selbstreflexiven, neugierigen, dem Schreiben mit Akribie und Sprachgenauigkeit verfallenen Menschen. Er stützt sich dabei auf das Werk und auf Gespräche mit noch lebenden Weggenossen Frischs. Vermutlich für Schweizer Leser interessanter als für andere. 4
Max Frisch: AndorraEin Lehrer rettet Andri, vorgeblich einen jüdischen Jungen, von den Schwarzen jenseits der Grenze und zieht ihn als seinen Sohn auf. Andri wird von den Andorranern diskriminiert und mit Klischeevorstellungen überhäuft, die er schliesslich selbst glaubt – obwohl er eigentlich kein Jude ist, sondern der leibliche Sohn des Lehrers und einer Frau aus dem Land der Schwarzen. Als diese zu Besuch kommt, will der Lehrer Andri die Wahrheit sagen, doch dieser glaubt ihm nicht, dass er sein Sohn ist, zu sehr haben die Zuschreibungen sein Selbstbild geprägt. Schliesslich dringen die Schwarzen in Andorra ein, nehmen Andri mit und töten ihn. Ein Stück über Macht, Rassismus, Vorurteile und Identität. 5
Max Frisch: Homo FaberEin Techniker lernt auf einer Schiffsreise eine junge Frau, Sabeth, kennen. Die beiden reisen zusammen nach Rom, später nach Athen zu ihrer Mutter, Hanna, die Fabers frühere Freundin war. Dass Sabeth seine Tochter sein könnte, will er nicht sehen. Doch dann geschieht ein Unglück. Ein grossartiger Roman über das Leben, über Lebensentwürfe, über Schuld und Liebe.5
Layla AlAmmar: Das Schweigen in mirTag für Tag beobachtet die junge Frau die Nachbarn hinter ihren Fenstern in ihren Wohnungen. Es ist die einzige Form, wie Beziehungen zu Menschen für sie möglich sind. Sie kriegt Einblicke in die ganzen Gewohnheiten der einzelnen Menschen, in Leben, die so fern von ihrem eigenen sind. Selbst ist sie aus dem Krieg geflüchtet, aus Syrien mit Schleppern und zu Fuss, unter traumatischen Bedingungen in England gelandet. Es hat ihr förmlich die Sprache verschlagen. Für eine Zeitung soll sie ihre Erinnerungen an den Krieg und die Flucht festhalten, damit mehr Verständnis für die Situation von Flüchtlingen geschaffen werden kann. Nur: Wie könnte man das je verstehen?   4

Hier noch der Link zum Youtube-Video:

https://www.youtube.com/watch?v=gxjjz1U7sgU

Gespräche mit Max Frisch: Utopien

«Ob es die Utopie ist von einer brüderlichen Gesellschaft ohne Herrschaft von Menschen über Menschen oder die Utopie einer Ehe ohne Unterwerfungen, die Utopie einer Emanzipation beider Geschlechter; die Utopie einer Menschenliebe, die sich kein Bildnis macht vom ändern, oder die Utopie einer Seligkeit im Kierkegaard’schen Sinn, indem uns das allerschwerste gelänge, nämlich daß wir uns selbst wählen und dadurch in den Zustand der Freiheit kommen; die Utopie einer permanenten Spontaneität und Bereitschaft zu Gestaltung-Umgestaltung (nach Johann Wolfgang Goethe: Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung), alles in allem: die Utopie eines kreativen und also verwirklichten Daseins zwischen Geburt und Tod – eine Utopie ist dadurch nicht entwertet, daß wir vor ihr nicht bestehen. Sie ist es, was uns im Scheitern noch Wert gibt. Sie ist unerläßlich, der Magnet, der uns zwar nicht von diesem Boden hebt, aber unserem Wesen eine Richtung gibt in schätzungsweise 25000 Alltagen. Ohne Utopie wären wir Lebewesen ohne Transzendenz.»

(Max Frisch in seiner Dankensrede anlässlich des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1976)

Als ich ein Kind war, spielte ich gerne mit Lego. Ich hatte immer ausgefallene Ideen, was ich bauen wollte (es gab noch nicht so viele fertige Bausätze mit seitenlangen Bauanleitungen) und versuchte dann, dies umzusetzen. Mein Vater wollte mir immer helfen, mir zeigen, wie es geht, doch das machte mich wütend. Ich wollte es selbst herausfinden. Mein Vater hat mir bis ins Erwachsenenalter vorgeworfen, dass ich mir schon als Kind nicht helfen lassen wollte. Zwar stimmt das nicht ganz, da ich durchaus Hilfe annehme, wo ich etwas nicht selbst kann (oder können will), aber nicht da, wo ich der Überzeugung bin, es selbst zu schaffen.

In der Fachsprache gibt es den Begriff der Selbstermächtigung. Das bedeutet, Strategien zu entwickeln, die dem einzelnen Menschen helfen, autonom und selbstbestimmt ihr Leben zu leben und ihre Herausforderungen zu meistern. In meinen Augen ist das ein zentraler Aspekt des Menschseins. Darauf baut die Selbstachtung, das Selbstbewusstsein, und auch die Würde auf. Menschen, die nicht wissen, dass sie selbst etwas bewirken können, fühlen sich (und sind meist auch wirklich) Opfer der Umstände und damit hilflos und abhängig von anderen. Dieses Gefühl der eigenen Ohnmacht beeinträchtigt das Selbstbild und nagt an der Selbstachtung.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand sich als Opfer sehen will, es sei denn, er verspricht sich von dem Status etwas. Was ich mir aber gar nicht vorstellen kann und will, ist, dass jemand zum Opfer gemacht werden möchte. Wenn ich allerdings die aktuellen Diskussionen um Geschlechterakzeptanz, Diskriminierung und Rassismus verfolge, scheint genau das zu passieren: Es werden Täter und Opfer zementiert. Nehmen wir das Beispiel des Rassismus:

Eine aktuell populäre Sicht bei der heutigen Thematisierung von Rassismus (die ursprünglich aus den Staaten zu uns kam) ist, dass Weisse aufgrund ihrer Hautfarbe per se rassistisch seien, weil es Weisse waren, die in der Geschichte die Schwarzen unterdrückt haben. Rassismus ist so gesehen in die Gene eingebrannt, es gibt kein Entkommen.

Diese Sicht zementiert nicht nur die Fronten schwarz-weiss, sie macht Schwarze auch zu ewigen Opfern. Wenn dem Weissen der Täterstatus eingebrannt ist, ist es dem Schwarzen das Opfertum. Tun wir jemandem damit einen Gefallen oder macht diese Sicht irgendetwas besser? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Menschen, so gesehen, wird auf diese Weise die Würde abgesprochen (auf beiden Seiten). Diese Argumentation leugnet, dass Menschen frei sind, sich zu ändern – darauf gründet unter anderem ihre Würde. Avishai Margalit schreibt in seinem Buch „Politik der Würde“:

„der grundlegende Respekt vor jedem einzelnen orientiert sich an dem, was er in Zukunft tun könnte, nicht an dem, was er in der Vergangenheit getan hat. Achtung ist dem Menschen nicht dafür zu zollen, in welchem Grad er sein Leben tatsächlich zu ändern vermag, sondern allein für die Möglichkeit der Veränderung.“

Margalit fährt fort, dass ein Mensch nicht durch seine Vergangenheit determiniert (wenn auch durchaus geprägt), sondern zu jedem Zeitpunkt frei ist, sich und sein Verhalten zu ändern. Wenn dies schon für das eigene Verhalten gilt, wie viel grösser muss also die Möglichkeit einer Veränderung über Generationen sein, in denen durchaus ein Denkprozess stattfand und auch Massnahmen zur Abschaffung von Rassismus erfolgreich durchgesetzt wurden. Leider ist er noch lange nicht aus der Welt, nur denke ich, es bedürfte eines Miteinanders und keiner neuen Fronten, diesen Weg erfolgreich weiterzugehen.

Ich bin der Meinung, es ist wichtig, genau hinzuschauen, wo heute noch strukturelle Benachteiligungen existieren. Diese dürfen nicht hingenommen werden. Die davon Betroffenen sollten aber nicht nur Opfer sein, sondern selbst Akteure. Sie sollten nicht nur von den anderen Veränderungen erwarten, sondern sich auch selbst in der Möglichkeit sehen, aktiv zu werden. Als Teil eines Ganzen mit anderen Teilen. Dafür ist ein Miteinander wichtig, Fronten schaden mehr. Es muss ein Raum geschaffen werden, in welchem es möglich ist, für die eigenen Rechte und gegen Benachteiligungen einzustehen. Dann gibt es keine Täter und Opfer durch von aussen definierte Kriterien, sondern eine gemeinsame Welt mit gemeinsamen Werten und Zielen, welche von allen miteinander gestaltet wird. Eine Welt, in der jeder seinen Platz hat.

Eine Utopie? Ich mag Utopien… und ich glaube, sie könnten oft verwirklicht werden. Und ich glaube, dass die Utopie das ist, was uns immer wieder antreibt, weil wir an etwas glauben, es als machbar sehen, unseren Platz in dem Vorhaben wahrnehmen und als ausfüllbar erachten. Wir sind als Ganze Teil eines Ganzen. Diese Doppelrolle wollen wir ausfüllen, denn nur durch diese sind wir ganz Mensch. Und weniger sollte kein Mensch sein müssen.

Karl Kraus (*28. April 1874)

Am 28. April 1874 kommt Karl Kraus als Sohn eines jüdischen Papierfabrikanten und dessen Frau in Jicin, Böhmen zur Welt. 1877 zieht die Familie Kraus nach Wien, wo Karl Kraus 1892 sein Studium der Rechtswissenschaft beginnt. Karl Kraus schreibt neben dem Studium Artikel und Rezensionen, welche er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Versuche, im Theater Fuss zu fassen sind nicht von Erfolg gekrönt, weitere Projekte wie eine geplante Satirezeitschrift verlaufen im Sande.

1896 hängt Kraus die Jurisprudenz an den Nagel und wendet sich dem Philosophie- und Germanistikstudium zu, welches er ohne Abschluss beendet. 1897 ein erster Aufschwung: Die Satire Die demolirte Litteratur wird ein Publikumserfolg, allerdings schaffte er sich damit keine Freunde in der Literatenwelt.

Ich hasse und hasste diese falsche, erlogene „Decadence“, die ewig mit sich selbst coquettiert, ich bekämpfe und werde immer bekämpfen: die posierte, krankhafte, onanierte Poesie![1]

Kraus wird im selben Jahr Wiener Korrespondent der Breslauer Zeitung, in ihm wächst der Wunsch, eine eigene Zeitschrift herauszugeben. 1899 erscheint die erste Ausgabe von Die Fackel. Auch damit macht er sich keine Freunde, ein Prozess folgt dem anderen, weil sich zu viele auf die Füsse getreten fühlen durch die Vorwürfe, die Kraus in der Fackel gegen sie veröffentlicht.

1899 löst sich Karl Kraus von der jüdischen Gemeinschaft und lässt sich 1911 in der Wiener Karlskirche römisch-katholisch taufen (1923 beendet er auch dieses Intermezzo durch den Kirchenaustritt).

1902 erscheint Kraus’ Aufsatz Sittlichkeit und Kriminalität, ein Angriff auf die vermeintliche Verteidigung von Moral, Ordnung und Sittlichkeit mit justiziellen Mitteln.  Dieses Thema begleitet ihn durch die nächsten Jahre. Ab 1906 verfasst Karl Kraus Aphorismen, welche zuerst in der Fackel, später zusammengefasst in Büchern erscheinen.

Im Jahr 1915 beginnt die Arbeit am Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit, welches 1919 in Form von Sonderheften der Fackel veröffentlicht wird. Es folgen Lesungen im Rundfunk und Aufnahmen für Schallplatten.

Die Machtergreifung Hitlers lässt die Fackel still werden.
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
Und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
Man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
Nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.[2]

Monatelang erscheint keine Ausgabe, doch Karl Kraus’ Schaffen ruht nicht. Er arbeitet an einem Text über die Machtübernahme und die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft. Das Werk erscheint erst  posthum 1952 unter dem Titel Dritte Walpurgisnacht.

Die Fackel erscheint wieder sporadisch, was nicht allen zu gefallen scheint, da ihr Inhalt gewohnt kritisch bleibt. Im Februar 1936, nach Erscheinen einer Ausgabe, wird Kraus von einem Radfahrer niedergestossen, was immer stärkere Kopfschmerzen und Gedächtnisschwund zur Folge hat. Ein Herzinfarkt im Juni desselben Jahres führt schlussendlich zum Tod. Karl Kraus stirbt am 12. Juni 1936 in seiner Wohnung an einem Herz- und Gehirnschlag.

Der Mensch Karl Kraus
Karl Kraus ist ein kritischer Geist, der mit seiner polemischen Art aneckt und polarisiert. Er hält mit seiner Meinung nicht hinterm Zaun, sticht in die Wunden der Gesellschaft und zeigt mit dem Finger auf die Vergehen der Menschen, allen voran der sogenannt Grossen der Öffentlichkeit. Mit Leidenschaft und Wortgewandtheit setzt er sich ein, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Er hat dabei viele Anhänger, die seinen Vorlesungen lauschen und ihn als unfehlbare Autorität sehen. Seine zahlreichen Gegner sehen in ihm einen verbitterten Misanthropen, verurteilen seine Aussprüche als hasserfüllt und übers Ziel schiessend.

Karl Kraus und die Sprache
Karl Kraus Werkzeug ist die Sprache. Er legt grossen Wert auf sie und sieht im allgemein üblichen nachlässigen Umgang mit ihr den Ursprung für viele Missstände der Welt.

Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen
An allen jenen, die die Sprache sprechen.
Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.
Ihr aber seid die kundigen Thebaner.[3]

Sprache hat für Karl Kraus religiösen Charakter. Sünde gegen die Sprache sieht er als Lüge und die Vermehrung der Lügen als Vermehrung des Bösen in der Welt. Sprache ist für Karl Kraus das Medium des Denkens, nicht nur Mittel zum Zweck.

Dass Stil nicht der Ausdruck dessen ist, was einer meint, sondern die Gestaltung dessen, was einer denkt und was er infolgedessen sieht und hört; dass Sprache nicht bloss das, was sprechbar ist, in sich begreift, sondern dass in ihr auch alles was nicht gesprochen wird erlebbar ist; dass es in ihr auf das Wort so sehr ankommt, dass noch wichtiger als das Wort das ist, was zwischen den Worten ist…[4]

Sprache soll als Medium des Denkens immer wieder selber kritischer Reflexion unterzogen werden, nicht einfach nur dahingesagt und hingenommen sein. Rund ums ich sieht Kraus das genaue Gegenteil: Leere Floskeln, Gesagtes als blosse Hülle ohne Inhalt  – und die Welt damit dem Untergang geweiht.

Die Welt geht unter und man wird es nicht wissen.[5]

Werke von Karl Kraus

  • Die demolirte Litteratur (1897)
  • Sittlichkeit und Kriminalität (1908)
  • Sprüche und Widersprüche (1909)
  • Die chinesische Mauer (1910)
  • Die letzten Tage der Menschheit (1918)
  • Weltgericht (1919)
  • Literatur und Lüge (1929)

[1] Brief an Arthur Schnitzler, März 1893
[2] Die Fackel, Nr. 888, S. 4
[3] Worte in Versen, S. 94
[4] Die Sprache, S. 341
[5] Die letzten Tage der Menschheit, S. 10

Claire Keegan: Das dritte Licht

Inhalt

«Jetzt, wo mein Vater mich abgeliefert und sich satt gegessen hat, ist er ganz wild auf seinen Tabak, sich eine Kippe anzuzünden und wegzukommen.»

Weil die Mutter wieder schwanger, das Geld und die Zeit knapp sind, liefert ein Vater seine kleine Tochter bei Verwandten ab, wo sie für eine Zeit bleiben soll. Plötzlich sieht sich das Kind mit Menschen konfrontiert, die sich um es kümmern, die Liebe zu geben haben.

«Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet… aber jeder Tag ist fast wie der vorhergehende.»

Sie kann sich kaum auf all das Schöne einlassen, verbietet anfänglich sogar, es zu geniessen und geht dann doch im neuen Leben auf, das nicht von Kälte, Schmutz und Angst geprägt ist – höchstens der Angst, wieder zurückzumüssen.

Gedanken zum Buch
Claire Keegan hat eine kleine, feine, zärtliche Geschichte voller Wärme geschrieben. «Das dritte Licht» erzählt von einem Mädchen, das lernt, was Familie, was Liebe bedeuten, wie leicht das Leben sein kann. Dies geschieht in einer klaren, präzisen Sprache voller Poesie, in der jedes Wort am richtigen Platz sitzt, keines zu viel scheint, die dadurch eine Intensität entwickelt und den Leser in die beschriebene Welt und in eigene Gefühlswelten eintauchen lässt.

«Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein neuer Ort, und ich brauche neue Wörter.»

Man könnte dem Buch den Vorwurf machen, dass die dem Mädchen zugeschriebenen Gedanken zu erwachsen sind für ein kleines Kind, dass die Art und Weise zu denken nicht zu dem ansonsten doch sehr kindlichen Wesen passen. Keegan nutzt dieses Mittel aber wohl bewusst, um ohne viele Erklärungen und Beschreibungen die (wohl eher unbewusste) Innenwelt des Mädchens zugänglich zu machen. Es sind zudem Gedanken, die zum eigenen Reflektieren anregen, Sätze, die man nach der Lektüre des Buches mitnimmt.

«Ich stecke in einer Zwickmühle, wo ich weder die sein kann, die ich immer bin, noch zu der werden kann, die ich sein könnte.»

Frei nach Nietzsches «Werde, der du bist» steckt hier die Frage nach dem eigenen Sein drin. Das bisherige Umfeld hat das Mädchen geprägt, hat sie zu etwas gemacht, das sie ist, weil sie sich an diese Umwelt angepasst hat, eine Umgebung, die ihr viele Möglichkeiten verwehrt hat. Im neuen Umfeld bieten sich neue Möglichkeiten des Seins. Die Frage, die sich stellt, ist nur: Kann sich das Mädchen darauf einlassen? Wäre dieses Einlassen nicht ein Verrat an den eigenen Eltern? Und: Was, wenn sie wieder zurückmuss? Wie wirkt die alte, beengte, freud- und lieblose Umgebung auf sie, nachdem sie gelernt hat, was Liebe und Familie bedeuten können?

Fazit
Die Geschichte eines Mädchens, das lernt, was Familie und Zugehörigkeit bedeuten, ein Buch voller Wärme und Poesie.

Zur Autorin und zum Übersetzer
Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2022) erschienen. Ihre Erzählung Kleine Dinge wie diese (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, 1950 in Wiesbaden geboren, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. John McGahern, Mark Twain, Ian McEwan, F. Scott Fitzgerald, Anne Enright, Maeve Brennan und Sebastian Barry übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. 2020 erhielt er den Straelener Übersetzerpreis der Kulturstiftung NRW.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Steidl Verlag (18. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 104 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3969991992

Gespräche mit Max Frisch

Wenn ich zurückblicke, kommt es mir manchmal so vor, als sei ich um ihn rumgeschlichen. Ich habe ihn immer wieder präsentiert bekommen. Im Gymnasium mit der Pflichtlektüre «Andorra», die ich (natürlich!) so ziemlich verweigert habe. Die Auszüge, die ich mitkriegte, waren wenig prickelnd. Später sah ich Reden. Interviews. Sie waren beeindruckend. Er beeindruckte mich. In seiner Vehemenz, seiner Streitbarkeit, seiner Tiefe, seiner Argumentation. Ich war radikal. Er auch. Das gefiel mir. Ich hob ihn innerlich hoch, wollte reinstechen, doch beim Lesen seiner Bücher lockerte sich der Griff merklich. Zeit ging ins Land.

Diese Dynamik hat sich mehrfach wiederholt. Wieder auf ihn stiess ich über meine Faszination für Ingeborg Bachmann – die abgrundtiefe Beziehungsgeschichte zog mich in den Bann und die Behandlung derselben durch die germanistische Zunft liess die gerechtigkeitsorientierte Philosophin in mir lauthals (innerlich) protestieren. So sehr ich sie schätzte und mich verbunden und sogar vertreten fühlte: Das war zu einseitig. Ich wollte Max Frisch sicher keinen Persilschein ausstellen, den er für sich selbst nie gefordert und wo er ausgeteilt wurde, immer verurteilt hatte, aber: Die unglaublich wunderbare, bewundernswerte, charismatische, begabte Dichterin war selbst kein Kind von Traurigkeit, kein Unschuldsengel und sicher kein einfaches Wesen. Die Täter-Opfer-Zuschreibung konnte nicht aufgehen. Die nun jüngst endlich zugänglichen Briefe legen es offen – auf beiden Seiten.

War es nur landsmännische Loyalität, die mich immer wieder in die Bresche springen liess? Nein. Es war ein tief empfundenes Verständnis für die Zweifel, Nöte, Radikalitäten, und eine Neugier. Und der gehe ich nun nach. Nicht biographisch. Nicht germanistisch. Nicht wissenschaftlich. Rein interesse-gelenkt. Ich trete ins Gespräch mit dem Autoren, der den Dialog hochhielt. Und ich teile ab und zu meine Gedanken zu Sätzen, die ich so finde bei ihm.

Ich freue mich auf dieses Eintauchen. Ich würde mich freuen, wenn der Dialog ein offener würde, neue Gedanken zu Sätzen geäussert würden, ein Diskurs entstünde, Denken gelebt und laut gemacht würde. Seid ihr dabei?