André Gorz: Brief an D: Geschichte einer Liebe

«Bald wirst du zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist Du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je.»

Wenn ein Buch so anfängt, dann weiss ich, dass hier etwas Wunderbares auf mich wartet, in das ich mich ganz reingeben möchte. Aufsaugen werde ich dieses Buch, da bin ich mir sicher.

Worum geht es?

«Du hast mir Dein ganzes Leben und alles, was du bist, geschenkt; ich möchte Dir in der Zeit, die uns noch bleibt, alles von mir schenken können.»

Nach achtundfünfzig gemeinsamen Jahren schreibt André Gorz seiner Frau Dorine mit diesem Buch eine wundervolle Liebeserklärung voller Tiefe, Wärme, Poesie. Die Liebe dieser beiden Menschen ist förmlich spürbar und sie rührt zeitweise zu Tränen. Neben dieser wunderbaren Liebeserklärung blickt André Gorz klar auf die Zeit, die war, beleuchtet die einzelnen Stationen des gemeinsamen Lebens und geht auch mitunter hart mit sich ins Gericht. Er schilt sich einiger Fehler, denen er diese Schrift gegenüberstellen möchte.

«Und so bin ich bald der Chefredakteur dieses Pressedienstes geworden. Du kamst oft in die Redaktion, um einen grossen Teil der englischen Publikationen durchzusehen… Deine Eleganz und Dein britischer Humor erhöhten mein Ansehen bei den Vorgesetzten.»

Zu sehen, wie Dorine André Gorz nur zudiente, sich in seinen Dienst stellte, obwohl sie ihm ebenbürtig wäre, von ihm in gewissen Bereichen sogar als Überlegene gesehen wird, verwundert mich. Ist es der Zeit geschuldet? Einerseits sicher, doch verkehrten die beiden eng mit Beauvoir und Sartre, so dass sie ein anderes Beispiel gehabt hätten (wobei Simone durchaus sich unterordnende Züge hatte trotz aller Unabhängigkeit). Wie sah Dorine ihre Rolle? Waren sie ein wirkliches Team, wie es durchaus oft klingt in diesem Buch, oder doch Macher und Helferin? Später ist Dorine auch eigene Wege gegangen, hat eine eigene Karriere angestrebt.

André Gorz beschreibt ihren Weg immer mit Ehrfurcht, Anerkennung und voller Zugewandtheit. Er betont dabei, dass ihr Weg immer auch ein gemeinsamer war, dass diese Gemeinsamkeit sie nährte und ihrem Leben Sinn verlieh.  

«Ich kann mir nicht vorstellen, weiter zu schreiben, wenn du nicht mehr bist. Du bist das Wesentliche, ohne das alles Übrige, so wichtig es mir erscheinen mag, solange Du da bist, seinen Sinn und seine Bedeutung verliert.»

Das Schreiben war für André Gorz das wichtigste, das zentrale Element in seinem Leben. Er bedankt sich bei Dorine immer wieder für ihr Verständnis diesem Schreiben gegenüber und für ihre Unterstützung dabei. Ohne sie hätte er es nicht geschafft, so zu schreiben, und ohne zu schreiben, hätte er nicht sein können.

Ich sitze mit diesem Buch in meinem Sessel und lese mich durch die Zeilen. Ich lese von der Liebe zwischen diesen beiden Menschen, die beim Lesen fast körperlich spürbar ist, sie geht sprichwörtlich zu Herzen. «Brief an D. Geschichte einer Liebe» ist ein persönliches und berührendes Buch. Es ist das Buch eines Menschen, der liebt und der es schafft, diese Liebe spürbar werden zu lassen. André Gorz ist es gelungen, ein authentisches Buch zu schreiben, das von grossen Gefühlen spricht und nie pathetisch wird. Er hat ein wahres Buch geschrieben, das auch die schwierigen Momente und Zeiten nicht ausblendet, und es doch immer wieder schafft, zur Liebe zurückzukehren, die die Basis von allem ist.

«Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten.»

In diesen letzten Zeilen klingt das Ende dieser Liebe an. Sie haben kurz darauf beschlossen, gemeinsam aus dem Leben zu gehen. Und ja, ich wünsche mir von Herzen, dass sie dieses gemeinsame zweite Leben haben (auch wenn ich nicht an ein Leben nach dem Tod glaube).

Was soll ich noch zu dem Buch sagen? Es ist schon viel zu viel und reicht doch nicht an das heran, was ich fühle nach dem Lesen. Vielleicht noch das: Ich kann es nur ans Herz legen. Von Herzen!


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2 Kommentare zu „André Gorz: Brief an D: Geschichte einer Liebe

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