Birgit Birnbacher: Wovon wir leben

Inhalt

«Ich verließ die Gegend, deren Gewicht auf meiner Brust ich erst bemerkte, als ich woanders war.”

Eine junge Frau aus einem kleinen Dorf geht in die Stadt, um Krankenschwester zu werden. Sie geht in dem Beruf auf, bis ihr ein Fehler unterläuft und sie entlassen wird.

„Ich bin gekommen, damit die Eltern sich um mich kümmern. Stattdessen haut Mama ab, und Papa ist gelb.“

Ihr Weg führt sie zurück in ihr Elternhaus, sie hofft, von ihren Eltern aufgefangen zu werden, doch dort ist alles noch schlimmer als damals, als sie wegging: Die Fabrik im Dorf existiert nicht mehr, so dass Arbeitslosigkeit herrscht, der Vater ist in einem desolaten Zustand, und die Mutter nach Sizilien ausgewandert. Statt vom Vater aufgefangen zu werden, sieht sie sich in der Rolle der Sorgenden. Sie ringt körperlich und seelisch nach Luft, der Raum scheint enger zu werden. Als sie Oskar, den Städter, kennenlernt, der sich von einem Herzinfarkt erholt, erlebt sie, wie ein Leben voller Zuversicht aussehen könnte. Sich selbst sieht sie am anderen Ende des Welterlebens: Konfrontiert mit allem, was sie hinter sich gelassen zu haben glaubte, ist sie nun gefordert, ihren Platz im Leben zu finden.

Gedanken zum Buch

“Viele Jahre habe ich mir eingeredet, dass ich gern Krankenschwester bin”

Was wir für unser Leben halten, ist oft nur die Geschichte, die wir uns selbst erzählen. Wir gehen einen Weg und wollen, dass es der richtige ist. Schlussendlich glauben wir es selbst, bis etwas geschieht, dass dieses Bild ins Wanken bringt. Dies ist der jungen Ich-Erzählerin passiert. Zwar merkte sie, wie überall gespart wurde, wie der Druck im Beruf grösser, die Zeit für die Patienten immer knapper wurden, doch sie fand für alles eine Lösung, um den Beruf doch noch den eigenen Ansprüchen entsprechend ausüben zu können. Dass ihr langsam sprichwörtlich die Luft ausging, merkte sie erst, als sie nach einem Berufsfehler einen Asthmaanfall hatte und wirklich um Luft rang.

„Ich habe es für selbstverständlich gehalten, dass eine Mutter nicht klatschend und tanzend durchs Leben hüpft“

Familien sind geprägt durch Rollenbilder, die sich in den Köpfen festsetzen. Ein Kind wächst in eine Familie hinein und erachtet das, was sich da abspielt, als Normalität, an die es sich zu halten gilt. Selten wird hinterfragt, wagt es dies doch, merkt es schnell, dass es eine Grenze überschritten hat, die sorgsam aufgebaut worden war. Erst nach und nach, je älter es wird, mit den eigenen Erfahrungen, wächst zuerst eine Ahnung, die dann zur Erkenntnis der Missstände wird, die geherrscht haben, die man fraglos akzeptiert hatte.

„Wir wissen das nicht, weil wir lieber zahlen, als uns zu involvieren. Etwas haben wir, die Familie, verwechselt: Von der Konfrontation mit dem Schmerz haben wir uns freigekauft, aber das heißt nicht, dass er nicht mehr existiert.“

«Wovon wir leben» ist ein Buch über das Leben einer Familie mit all ihren Strukturen. Es ist eine Geschichte davon, wie wir oft die Augen verschliessen vor dem, was ist, weil es bequemer ist, sich damit zu arrangieren als der Wahrheit, die oft unbequem ist, in die Augen zu blicken. Es ist aber auch eine Geschichte darüber, was es heisst, eigene Wege zu gehen, zu scheitern, neue Wege suchen zu müssen.

Birgit Birnbacher erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich dem stellen muss, wovor sie fliehen wollte, auf eine ruhige, fast sachliche und doch nicht kalte Weise, die frei ist von Pathos oder Kitsch. Vergeblich sucht man Wehleidigkeit oder Selbstmitleid, es wird nicht psychologisiert oder analysiert, nur erzählt. Dieses Erzählen geschieht auf eine authentische Weise aus der Ich-Perspektive der erzählenden Protagonistin, wodurch der Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt derselben involviert wird. Entstanden ist ein Buch, das zum Denken anregt, das einen mit auf eine Reise nach dem richtigen Weg nimmt, das einen eintauchen und mitleben lässt beim Lesen.

Fazit
Eine sehr gelungene, zum Nachdenken anregende Erzählung über das Leben einer Frau, die sich ihrer Vergangenheit, ihren verinnerlichten Rollenmustern und Fluchtpunkten stellen und einen neuen Weg für ihr Leben finden muss.

Zur Autorin
Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Schriftstellerin in Salzburg. Ihr Debütroman Wir ohne Wal (2016) wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt sie zahlreiche Förderpreise und 2019 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Bei Zsolnay erschienen zuletzt die Romane Ich an meiner Seite (2020) und Wovon wir leben (2023).

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ Paul Zsolnay Verlag; 3. Edition (20. Februar 2023)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3552073357

Anneleen Van Offel: Hier ist alles sicher

Inhalt

«Dieser Tote ist nicht mein Sohn, das ist ein Mann, den ich nicht kenne… Es gelingt mir nicht, meinen Sohn zu sehen, in dem Toten auf dem Krankenhausbett meinen Sohn zu sehen.»

Als Immanuel seine Mutter Lydia nach 10 Jahren Funkstille bittet, nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat.

Gedanken zum Buch

«Der Tod kommt von innen, er ist immer schon da, er wächst, bis er grösser ist als das, was der Körper ertragen kann.»

«Hier ist alles sicher» ist eine Geschichte über die verschiedenen Leben, die man leben kann, es ist eine Geschichte über die Liebe, über Verlust, Schuld, Reue und den Tod. Es geht darum, was Familie ist und was Heimat bedeutet. Es ist die Geschichte einer Suche nach der eigenen Geschichte, danach, wer man ist und was davon bleibt, wenn vieles nicht mehr ist.

«Mit jedem Mal, dass ich das ausspreche, wird es endgültiger.»

Es ist die Geschichte einer Mutter, die ihren Sohn verloren hat. Zuerst durch Distanz, dann durch den Tod. Diesen endgültigen Abschied zu verstehen, zu realisieren, ist schwer. Ihn in Worte zu fassen, ist noch schwerer, da die Sprache den Dingen eine endgültige Realität zu verleihen scheint. Wenn es ausgesprochen ist, kann es nicht mehr ignoriert werden, dann ist es wirklich.

«Solange es Reue gibt, bin ich schuldig, und solange ich mich schuldig fühle, bin ich unschuldig, weil ich dann nicht zulasse, dass es in Vergessenheit gerät.»

Wer trägt die Verantwortung für das eigene Leben und wer die für das Leben anderer, allen voran das Leben von Kindern? Hat das eigene Tun dazu beigetragen, dass ein Unglück geschah? Hätte man es verhindern können? Wäre Lydia imstand gewesen, den Selbstmord von Immanuel aufzuhalten, wenn sie früher nach Israel gegangen wäre? Wo ist dessen Vater, der vor 10 Jahren das Kind mit sich nach Israel nahm, raus aus Belgien und dem damals gemeinsamen Zuhause? Wer hat Schuld an dem, was passiert ist?

All diese Fragen treiben Lydia um, als sie durch Israel fährt, auf den Spuren von Immanuels Leben ohne sie. Sie will ihm nah sein, will die Landkarte seines Lebensweges nachfahren, in der Hoffnung, mehr über ihn zu erfahren. Es wird ihr nicht wirklich gelingen, die Fragen bleiben präsent, sie nimmt sie mit auf ihrem Weg.

Anneleen van Offel beginnt ihre Erzählung damit, dass Lydia am Totenbett des Sohnes sitzt. Sie blickt auf ihr Kind und reist in Gedanken zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit hin und her. Erinnerungen vermischen sich mit aktuellen Gefühlen, ein Riss bricht auf, der durch die Welt geht und sich über das ganze Buch erstrecken wird als Leitmotiv. Es entsteht beim Lesen eine Atmosphäre, die fast körperlich wirkt, einen Kloss im Hals und eine Schwere auslöst. Das Buch betrübt, bewegt, bestürzt, es überfordert mit dieser Unmittelbarkeit des Schmerzes.

Im zweiten Kapitel kommt es zu mehr Distanz, die Suche nach dem verpassten Leben des Sohnes beginnt und das Buch nimmt Fahrt auf. Sprachlich poetisch und philosophisch tiefgründig zieht einen diese Geschichte in den Bann, kann diesen Sog aber leider nicht durchhalten. Das Geschehen, die inneren Monologe, die Erinnerungen – sie alle werden zeitweise träge und langwierig. Trotzdem kann man von einem sehr lesenswerten und gelungenen Debüt sprechen.

Fazit
Eine Geschichte über Liebe, Schuld, Familie, Verlust und Tod – emotional bewegend, philosophisch tiefgründig und sprachlich poetisch.

Autorin und Übersetzerin
Anneleen Van Offel, 1991 in Antwerpen geboren, studierte Wortkunst am dortigen Königlichen Konservatorium. Sie hat Kolumnen für die flämische Zeitung „De Standaard“ und Kurzgeschichten und Gedichte für verschiedene Literaturzeitschriften geschrieben. Sie arbeitet als Redakteurin für die Zeitschrift „Deus Ex Machina“. Außerdem ist Anneleen Van Offel Programmgestalterin verschiedener literarischer Veranstaltungen. Von 2019 bis 2021 war sie Stadtschreiberin von Kortrijk. Für ihr Debüt „Hier ist alles sicher“ reiste sie immer wieder nach Israel, sprach mit zahlreichen Israelis, israelischen (Ex-)Soldaten und deren Familien. Der Roman wurde in Belgien und den Niederlanden von der Presse gefeiert und für seinen einfühlsamen Stil gelobt. anneleenvanoffel.be | @anneleenvanoffel

Christiane Burkhardt studierte Italienische Literaturwissenschaft, Neuere Deutsche Literatur und Kunstgeschichte und war anschließend zunächst im Lektorat tätig. Heute lebt und arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin aus dem Italienischen, Niederländischen und Englischen in München und unterrichtet neben ihrer eigenen Tätigkeit literarisches Übersetzen

Angaben zum Buch

  • ·  Herausgeber ‏ : ‎ Freies Geistesleben; 1. Edition (15. März 2023)
  • ·  Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • ·  Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 266 Seiten
  • ·  ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3772530319
  • ·  Originaltitel ‏ : ‎ Hier is alles veilig
  • ·  Übersetzung‏ : ‎ Christiane Burkhardt

Joy Williams: Stories

Inhalt

«Das bringt uns zu der Frage: Was ist der Mensch?, mit ihren drei Untergliederungen: Was kann er wissen? Was soll er tun? Was darf er hoffen?»

Diese Worte Kants legt Joy Williams einem Automechaniker in den Mund, dessen Aufgabe es ist, einem Paar mitzuteilen, dass ihr ganzer Stolz so verrostet ist, dass eine Reparatur nicht mehr lohnt. Er ist eine Nebenfigur in den insgesamt 13 Kurzgeschichten, die alle mitten aus dem Leben gegriffen sind. Sie handeln unter anderem von einem Priester, dessen Frau im Krankenhaus liegt, von einer sterbenskranken Frau, die eine Freundin besucht, Frauen, die nur ein Umstand verbindet: Ihre Kinder haben Menschen umgebracht. Wir leben lesend ein Stück mit ihnen, tauchen in ihre Gedankenwelten ein, und gehen wieder weiter.

Obwohl die Geschichten in sich geschlossen und immer von anderen Menschen handeln, zeichnen sie in ihrer Gesamtheit ein Bild, das Bild der (amerikanischen) Gesellschaft der mehrheitlich kleinen Leute, die vom Leben herausgefordert ihren Platz suchen und sich darin einrichten.

Gedanken zum Buch

«Er hat stets richtig gehandelt, aber es hat nie zu etwas geführt.»

Es sind die alltäglichen Fragen, welche in diesen Geschichten behandelt werden: Was ist richtig, was falsch? Wie verhalte ich mich in dieser Gesellschaft, damit ich dazugehöre, wie, wenn ich weiss, dass ich eigentlich nur geduldet, nicht erwünscht bin? Es werden Ausschnitte von Lebensentwürfen dargestellt, welche doch über sich hinausweisen, da sie Teil eines Ganzen sind. Was vorher war, klingt in ihnen an, doch wohin es führen wird, bleibt offen.

«Sie war gross und ungepflegt und sah aus wie der Inbegriff eines Menschen, der seit Kurzem nicht mehr geliebt wird.»

Joy Williams gelingt es, ihre Figuren mit wenigen Worten plastisch werden zu lassen. Durch ihre Gedanken, ihre Sprache, ihr Auftreten werden sie zu Menschen, die wir uns vorstellen können. Es entstehen Bilder im Kopf, die über die Menschen hinauswachsen, zu Typen werden, die Erfahrungen in sich tragen und lebendig werden lassen – auch eigene, die beim Lesen mitgedacht werden.

«Wenn man stirbt, kann man alles tun, was man will?…Das wusste ich nicht. Ist ja mal was Neues. Es hat also auch seine guten Seiten.»

Es sind selten erbauliche Themen, sie reichen von Krankheit über Tod gar hin zu Mord, es sind Themen von Menschen, die Leid erlebt haben, die vom Leben herausgefordert sind. Trotzdem fehlt jegliche Form von Befindlichkeit, von Melancholie, von psychologischer Beurteilung. Die Geschichten werden sachlich, bildhaft und sprachlich klar erzählt, aufgelockert durch einige Prisen Humor.

«Im Grossen und Ganzen glaubten sie, dass die Toten in der Nähe blieben und alle Erfordernisse des Daseins auf Erden erfüllten, nur befreit von der Banalität täglichen Leidens.»

Aus diesen Geschichten tropft das ganz normale Leben von normalen Menschen, die mit ihrem Alltag ein Auskommen suchen und ihn doch immer ein bisschen zu verpassen scheinen. Es sind Sozialstudien ohne wissenschaftlichen Anspruch, es sind kleine Spiegel der Gesellschaft ohne moralinsauren Zeigefinger, es sind Finger in Wunden und Blicke in Abgründe ohne belastende Schwere. Es sind kleine Auszeiten aus dem eigenen Alltag mit den eigenen Ansprüchen, die zeigen, was es noch gäbe an Lebensmodellen und wie man damit umgehen könnte – oder vielleicht auch besser nicht.

Fazit
Unterhaltsame, dennoch tiefgründige – manchmal auch abgrundtiefe – Einblicke in die Gesellschaft des amerikanischen Kleinbürgertums.

Zur Autorin und Übersetzerin
Joy Williams, geboren 1944, wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet. Sie hat zwölf Bücher geschrieben, darunter Romane, Kurzgeschichten, Essays, einen Reiseführer. Sie zählt seit langem zu den nachdrücklichen ökologischen Stimmen in den USA und lebt in Tucson, Arizona und Laramie, Wyoming.

Brigitte Jakobeit lebt in Hamburg. Sie übersetzt u. a. William Trevor und Patti Smith und wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Melanie Walz gilt als eine der herausragenden Literaturübersetzerinnen. Sie wurde mit dem Zuger Übersetzer-Stipendium und mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

(Joy Williams: Stories, dtv Verlagsgesellschaft, 2. Auflage, 2023)

Lesemonat April

Wieder ist ein Monat vorbei, es war lesetechnisch ein grossartiger, bereichernder, beglückender. Dass ich ihn in Spanien verbrachte, liess die Sonne nicht nur aus Büchern, sondern auch vom Himmel scheinen, was ich sehr genoss.

Ich bin diesen Monat intensiv mit Max Frisch beschäftigt gewesen, habe einige Dokumentationen und Interviews geschaut und auch zwei Biografien gelesen. Dazu fand ich auf Youtube noch eine grossartige Inszenierung von Max Frischs «Andorra», die ich euch nur ans Herz legen kann.

Müsste ich meine Lesehighlights nennen, wären natürlich alle Bücher von und zu Max Frisch dabei, ich beschränke mich auf eines und so wären es dann die vier:

Ich tauchte mit Judith Hermann in ihr Schreiben und Leben ein, wir pendelten zwischen Traum und Wirklichkeit und waren uns nie ganz im Klaren, was nun wozu gehörte. 

Ich las bei Claire Keegan vom Leben eines Mädchens in einem Umfeld, in dem es an Liebe und eigentlich auch allem anderen fehlt, und das in einem neuen Umfeld erst lernen muss, dass es Liebe, Vertrauen und Zuwendung gibt und es diese auch geniessen darf. 

Ich lebte bei Martin Suter mit Tom und Dr. Stotz in dessen Villa und saugte die Geschichten über Melody, die verschollene Liebe von Dr. Stotz auf. Immer schwebte die Frage über uns allen: Was geschah mit Melody?

Ich pendelte mit Max Frisch zwischen Technik und Liebe hin und her, reiste mit Homo Faber nach Südamerika und Italien, um schliesslich in Griechenland zu landen, wo ein Kreis sich schloss. 

Ich beschäftigte mit Themen Schreiben, Wahrheit und Illusion, Identität und Zuschreibung, Schuld, Liebe und vielen mehr. Und ich freue mich auf einen neuen Lesemonat. 

Was waren eure Lesehighlights im April?

Hier die vollständige Liste:

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagtEine Geschichte vom Schreiben und vom Leben und von der Verwebung von beidem. Eine Geschichte, die zwischen Traum und Wirklichkeit pendelt, nie ganz klar offenbarend, was wozu gehört. Eine Geschichte, die eigentlich keine ist, sondern ein Schreibfluss der Erinnerungen und der versuchten Einordnung derselben. Wir hätten uns alles gesagt – und irgendwie doch alles verschwiegen. 4
Claire Keegan: Das dritte LichtEin kleines Mädchen wird bei Verwandten abgeladen, weil die Mutter wieder schwanger und so ein Maul weniger zu stopfen ist. Plötzlich findet sich das Kind in einer Umgebung voller Liebe und Leichtigkeit, kann sich kaum drauf einlassen, weil klar ist: Irgendwann muss sie zurück. Ein Buch voller Wärme und Poesie. 5
Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine BiografieEin sehr literarisches, informatives, persönliches Porträt eines Schriftstellers und Menschen mit kurzen Analysen der wichtigsten Werken.5
Daniel Glattauer: Die spürst du nichtEine Sozialstudie in Romanform, bei der ein Flüchtlingsmädchen im Ferienpool reicher Leute ertrinkt, was von den Medien und in den Kommentarspalten derselben ausgeschlachtet wird. Angereichert wird alles mit ein paar Klischees und einem Erzähler, der sich immer wieder quasi an den Leser wendet und sich mit diesem verbündet. Nicht uninteressant, aber teilweise zu gewollt. 4
Anneleen van Offel: Hier ist alles sicherAls Immanuel seine Mutter Lydia bittet, nach 10 Jahren Funkstille nach Israel zu kommen, zögert sie erst. Als sie dann da ist, ist er tot, er hat sich das Leben genommen. Lydia reist durch Israel und gleichzeitig auch durch ihre Vergangenheit, auf der Suche nach ihrem toten Sohn, nach sich, nach allem, was sie verloren hat. Nach einem fast körperlich schmerzhaften, niederdrückenden Anfang sprachlich und inhaltlich gut und einnehmend, doch dann liess es langsam los und hat mich verloren.  3
Joy Williams: Stories13 Kurzgeschichten aus dem amerikanischen Alltag des Kleinbürgertums. Sozialstudien, welche die Herausforderungen desselben offenlegen, ohne dabei zu psychologisieren oder zu plakativ darstellend zu werden. Mit viel Charme, Sprachkunst und einer guten Prise Humor gewürzt. Mich hat es doch nicht durchgehend gepackt, es wirkte oft zu beliebig und planlos. 3
Martin Suter: MelodyTom, ein junger Jurist, wird vom Altnationalrat Dr. Stotz, seine Lebenserwartung beträgt noch ein Jahr, beauftragt, seine noch vorhandenen Dokumente zu ordnen und durch gezielte Selektion nur das zu bewahren, das dem Bild entspricht, das Dr. Stotz hinterlassen möchte. In der gemeinsamen Zeit erzählt Dr. Stotz Tom von seiner grossen Liebe Melody, die eines Tages, kurz vor der Hochzeit, einfach verschwunden ist, ihn aber ein Leben lang nicht mehr losgelassen hat. Nach Stotz’ Tod macht sich Tom mit Laura, der Grossnichte von Dr. Stotz auf der Suche nach der Wahrheit um die Geschichte mit Melody. Was ist wirklich passiert damals?5
Urs Bircher: Zorn und Freundschaft. Max Frisch 1911 – 1981Eine sehr umfassende, objektive Biografie, die das Leben und Schreiben Max Frischs in die politische Zeit der Schweiz und die kulturellen Gegebenheiten einbettet. Ohne Verklärung aber mit der nötigen Zugewandtheit zeichnet Urs Bircher das Bild dieses streitbaren, tiefgründigen, selbstreflexiven, neugierigen, dem Schreiben mit Akribie und Sprachgenauigkeit verfallenen Menschen. Er stützt sich dabei auf das Werk und auf Gespräche mit noch lebenden Weggenossen Frischs. Vermutlich für Schweizer Leser interessanter als für andere. 4
Max Frisch: AndorraEin Lehrer rettet Andri, vorgeblich einen jüdischen Jungen, von den Schwarzen jenseits der Grenze und zieht ihn als seinen Sohn auf. Andri wird von den Andorranern diskriminiert und mit Klischeevorstellungen überhäuft, die er schliesslich selbst glaubt – obwohl er eigentlich kein Jude ist, sondern der leibliche Sohn des Lehrers und einer Frau aus dem Land der Schwarzen. Als diese zu Besuch kommt, will der Lehrer Andri die Wahrheit sagen, doch dieser glaubt ihm nicht, dass er sein Sohn ist, zu sehr haben die Zuschreibungen sein Selbstbild geprägt. Schliesslich dringen die Schwarzen in Andorra ein, nehmen Andri mit und töten ihn. Ein Stück über Macht, Rassismus, Vorurteile und Identität. 5
Max Frisch: Homo FaberEin Techniker lernt auf einer Schiffsreise eine junge Frau, Sabeth, kennen. Die beiden reisen zusammen nach Rom, später nach Athen zu ihrer Mutter, Hanna, die Fabers frühere Freundin war. Dass Sabeth seine Tochter sein könnte, will er nicht sehen. Doch dann geschieht ein Unglück. Ein grossartiger Roman über das Leben, über Lebensentwürfe, über Schuld und Liebe.5
Layla AlAmmar: Das Schweigen in mirTag für Tag beobachtet die junge Frau die Nachbarn hinter ihren Fenstern in ihren Wohnungen. Es ist die einzige Form, wie Beziehungen zu Menschen für sie möglich sind. Sie kriegt Einblicke in die ganzen Gewohnheiten der einzelnen Menschen, in Leben, die so fern von ihrem eigenen sind. Selbst ist sie aus dem Krieg geflüchtet, aus Syrien mit Schleppern und zu Fuss, unter traumatischen Bedingungen in England gelandet. Es hat ihr förmlich die Sprache verschlagen. Für eine Zeitung soll sie ihre Erinnerungen an den Krieg und die Flucht festhalten, damit mehr Verständnis für die Situation von Flüchtlingen geschaffen werden kann. Nur: Wie könnte man das je verstehen?   4

Hier noch der Link zum Youtube-Video:

https://www.youtube.com/watch?v=gxjjz1U7sgU

Claire Keegan: Das dritte Licht

Inhalt

«Jetzt, wo mein Vater mich abgeliefert und sich satt gegessen hat, ist er ganz wild auf seinen Tabak, sich eine Kippe anzuzünden und wegzukommen.»

Weil die Mutter wieder schwanger, das Geld und die Zeit knapp sind, liefert ein Vater seine kleine Tochter bei Verwandten ab, wo sie für eine Zeit bleiben soll. Plötzlich sieht sich das Kind mit Menschen konfrontiert, die sich um es kümmern, die Liebe zu geben haben.

«Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet… aber jeder Tag ist fast wie der vorhergehende.»

Sie kann sich kaum auf all das Schöne einlassen, verbietet anfänglich sogar, es zu geniessen und geht dann doch im neuen Leben auf, das nicht von Kälte, Schmutz und Angst geprägt ist – höchstens der Angst, wieder zurückzumüssen.

Gedanken zum Buch
Claire Keegan hat eine kleine, feine, zärtliche Geschichte voller Wärme geschrieben. «Das dritte Licht» erzählt von einem Mädchen, das lernt, was Familie, was Liebe bedeuten, wie leicht das Leben sein kann. Dies geschieht in einer klaren, präzisen Sprache voller Poesie, in der jedes Wort am richtigen Platz sitzt, keines zu viel scheint, die dadurch eine Intensität entwickelt und den Leser in die beschriebene Welt und in eigene Gefühlswelten eintauchen lässt.

«Mir fallen einfach keine Wörter ein, aber das hier ist ein neuer Ort, und ich brauche neue Wörter.»

Man könnte dem Buch den Vorwurf machen, dass die dem Mädchen zugeschriebenen Gedanken zu erwachsen sind für ein kleines Kind, dass die Art und Weise zu denken nicht zu dem ansonsten doch sehr kindlichen Wesen passen. Keegan nutzt dieses Mittel aber wohl bewusst, um ohne viele Erklärungen und Beschreibungen die (wohl eher unbewusste) Innenwelt des Mädchens zugänglich zu machen. Es sind zudem Gedanken, die zum eigenen Reflektieren anregen, Sätze, die man nach der Lektüre des Buches mitnimmt.

«Ich stecke in einer Zwickmühle, wo ich weder die sein kann, die ich immer bin, noch zu der werden kann, die ich sein könnte.»

Frei nach Nietzsches «Werde, der du bist» steckt hier die Frage nach dem eigenen Sein drin. Das bisherige Umfeld hat das Mädchen geprägt, hat sie zu etwas gemacht, das sie ist, weil sie sich an diese Umwelt angepasst hat, eine Umgebung, die ihr viele Möglichkeiten verwehrt hat. Im neuen Umfeld bieten sich neue Möglichkeiten des Seins. Die Frage, die sich stellt, ist nur: Kann sich das Mädchen darauf einlassen? Wäre dieses Einlassen nicht ein Verrat an den eigenen Eltern? Und: Was, wenn sie wieder zurückmuss? Wie wirkt die alte, beengte, freud- und lieblose Umgebung auf sie, nachdem sie gelernt hat, was Liebe und Familie bedeuten können?

Fazit
Die Geschichte eines Mädchens, das lernt, was Familie und Zugehörigkeit bedeuten, ein Buch voller Wärme und Poesie.

Zur Autorin und zum Übersetzer
Claire Keegan, geboren 1968, wuchs auf einer Farm in der irischen Grafschaft Wicklow auf. Sie hat in New Orleans, Cardiff und Dublin studiert. Bei Steidl sind von der vielfach ausgezeichneten Autorin bereits die Erzählungsbände Wo das Wasser am tiefsten ist und Durch die blauen Felder (in einem Band: Liebe im hohen Gras, 2022) erschienen. Ihre Erzählung Kleine Dinge wie diese (2022) stand auf der Shortlist des Booker Prize.

Hans-Christian Oeser, 1950 in Wiesbaden geboren, lebt in Dublin und Berlin und arbeitet als Literaturübersetzer, Herausgeber und Autor. Er hat u.a. John McGahern, Mark Twain, Ian McEwan, F. Scott Fitzgerald, Anne Enright, Maeve Brennan und Sebastian Barry übersetzt. Für sein Lebenswerk wurde er 2010 mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet. 2020 erhielt er den Straelener Übersetzerpreis der Kulturstiftung NRW.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Steidl Verlag (18. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 104 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3969991992

Daniel Glattauer: Die spürst du nicht

Inhalt

„Das Unglück hat sich in die Hinterköpfe gegraben und dreht dort Endlosschleifen. Es löst die Strukturen zweier Familien auf, versetzt deren Alltag in chronische Ausnahmezustände, kontrolliert die Nächte, dirigiert die Träume, und jedes Erwachen führt zum Ausgangspunkt zurück…“

Zwei begüterte Ehepaare, die Binders und die Strobl-Marineks, machen mit ihren Kindern Urlaub in einem Haus in der Toskana. Mit dabei ist ein somalisches Flüchtlingsmädchen, die Freundin von Sophie-Luise, der älteren Tochter der Strobl-Marineks. Schon am ersten Tag kommt es zu einem Unfall: Das Flüchtlingsmädchen ertrinkt, polizeiliche Ermittlungen folgen. Wen trifft eine Schuld? Welche Folgen hat das für die Betroffenen?

Gedanken zum Buch

„Man kann ein Unglück totschweigen, wie es die Binders versuchen. Man kann es aber auch zu Tode diskutieren.“

Jeder Mensch hat eine andere Form, mit schwierigen Situationen umzugehen. Treffen verschiedene Arten aufeinander, kann das zu Missverständnissen führen, die umso schwerer wiegen, wenn jeder seine Art als die angemessene empfindet. Während Oskar Strobl-Marinek versucht, alles hinter sich zu lassen und Optimismus zu verbreiten, sieht seine Frau Elisa ihre Karriere als Politikerin in Gefahr. Die Binders sind schnell aus der Schusslinie, doch das Gewissen lässt sie nicht los.  

„Beim Wendepunkt kann es danach in alle Richtungen weitergehen. Beim Tiefpunkt nur nach oben. Es sei denn, der wahre Tiefpunkt ist noch gar nicht erreicht.»

Das Leben der Beteiligten hat sich nach dem Unglück verändert. Einerseits müssen alle psychisch damit fertig werden, sie sehen sich auch mit dem steigenden Druck von aussen konfrontiert, der sich einerseits darin zeigt, dass die Medien den Fall ausschlachten, andererseits in Form von Schulmobbing bei Sophie-Luise auftritt. Dabei ist jeder allein mit seiner Bewältigung, da keiner neben dem eigenen Unglück das der anderen im Blick hat.

Bei all der Präsenz der Personen vor Ort, bleibt eine Stimme still: Die der Eltern des verstorbenen Mädchens. Erst als ein eher unscheinbarer Anwalt auf den Platz tritt, ändert sich das. Doch: Worum geht es ihnen wirklich?

„Die Wahrheit ist ein Chamäleon, sie wechselt ihre Farbe mit dem Blickwinkel des Betrachters.“

Wer ist Täter, wer ist Opfer? Gibt es diese überhaupt in diesem Fall? Wo liegt die Wahrheit und wie soll damit umgegangen werden? Hannah Arendt sagte einst, Wahrheit gäbe es nur zu zweien. Das heisst, dass Wahrheit nicht eindeutig ist, dass es, um sie zu finden, verschiedene Betrachtungsweisen braucht, um eine Situation von allen Seiten zu sehen. Einer allein sieht immer nur einen Teilaspekt, das, was von seiner Warte aus sichtbar ist. Erst die verschiedenen Perspektiven zeigen das ganze Bild. Dazu müssen alle Stimmen gehört werden.

Daniel Glattauer hat eine Sozialstudie in Romanform geschrieben, in welcher sowohl die Macht der Medien, die Kommentare der Leser derselben sowie die psychologischen Folgen für die Betroffenen des Unfalls thematisiert werden. Er hat dabei auch oft in die Klischee-Kiste gegriffen, indem die einzelnen Charaktere sehr offensiv Stereotypen abdecken. Der Erzähler, der sich mitunter an den Leser wendet, wirkt stellenweise zu jovial, und die Auflistungen der einzelnen Kommentare aus den Medien sind so realistisch, dass man sich die Frage stellen könnte, welchen Mehrwert man durch den Roman hat, weil dieser unkommentiert wiedergibt, was in heutigen Zeitungen passiert. Dass verschiedene Vorkommnisse vorhersehbar sind, nimmt dem Buch trotzdem nicht die Spannung, die für das Weiterlesen nötig ist.

Fazit
Eine Zeitstudie, ein Abbild der heutigen Gesellschaft, ein sozialkritischer Roman, der teilweise zu sehr mit Klischees arbeitet, aber dabei spannend aufgebaut und unterhaltsam zu lesen ist.

Zum Autor
Daniel Glattauer wurde 1960 in Wien geboren und ist seit 1985 als Journalist und Autor tätig. Bekannt wurde er zunächst durch seine Kolumnen, die im so genannten „Einserkastl“ auf dem Titelblatt des Standard erscheinen und in Auszügen in seinen Büchern „Die Ameisenzählung“, „Die Vögel brüllen“ und „Mama, jetzt nicht“ zusammengefasst sind. Seine beiden Romane „Der Weihnachtshund“ und „Darum“ wurden mit großem Erfolg verfilmt. Der Durchbruch zum Bestsellerautor gelang Glattauer mit dem Roman „Gut gegen Nordwind“, der für den Deutschen Buchpreis nominiert, in zahlreiche Sprachen übersetzt und auch als Hörspiel, Theaterstück und Hörbuch adaptiert wurde.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Paul Zsolnay Verlag; 1. Edition (20. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 304 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3552073333

Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt

Inhalt

«…das ist, was ich schreibe: Ich schreibe über mich. Ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht.»

Judith Hermann schreibt in den vorliegenden Frankfurter Poetikvorlesungen über ihr Schreiben. Und sie schreibt vom Verschweigen im Schreiben. Sie schreibt davon, wie sie eine Geschichte beginnt und weiterspinnt. Sie schreibt von ihrem Leben und ihren Erinnerungen und wie diese mit dem Schreiben zusammenhängen. Sie schreibt sich in diesem Buch ihrem Leben entlang und nimmt den Leser mit in eine Geschichte des Lebens und Schreibens, die anmutet, als entdecke sie Judith Hermann beim Schreiben erst selbst.

Entstanden ist ein Buch, das Einblicke in Judith Hermanns Kindheit und Aufwachsen gibt, das Freundschaften und Familie thematisiert, und mehr noch als Geschichten Gefühle transportiert – und auslöst.

Gedanken zum Buch

«Jede Geschichte hat ihren ersten Satz. Nicht der Satz, mit dem die Erzählung im Buch beginnt, sondern der Satz, mit dem sie in meinem Kopf beginnt.»

Der Blick hinter die Kulissen von Schreibenden ist immer wieder spannend. Während die einen ihre Geschichten feinsäuberlich planen und sich dann an feste Tagesabläufe halten, lassen sich andere inspirieren und schreiben sich dann in die Geschichte hinein, wie sie sich ihnen zeigt.

«Jede Entscheidung für einen Satz ist eine Entscheidung gegen unzählige andere Sätze. Jede Entscheidung für eine Geschichte schlägt unzählige andere Geschichten aus. Ein Wort vernichtet ein anderes Wort. Schreiben heisst auslöschen.»

Dabei bleibt es nicht aus, dass vieles im Kopf auftaucht, wovon nur ein Bruchteil schliesslich Eingang in die Geschichte findet. Oft weiss der Schreibende mehr über seine Figuren, als er dem Leser explizit zeigt, er kennt Hintergründe und Eigenheiten, die für das Schreiben wichtig sind, die der Geschichte aber nicht dienen.

«Keine Geschichte ist die, die ich erzählen wollte oder müsste. Aber ich kann davon erzählen, dass ich das Eigentliche nicht erzählen kann, das Verschweigen des Eigentlichen zieht sich durch alle Texte…»

Melancholie tropft aus den Zeilen und sitzt in den Zwischenräumen des Geschriebenen. All das, was Verschwiegen wird, findet sich in Andeutungen des Schweigens, nicht aber in seiner wahren Präsenz. Es ist ein Schreiben über Erinnerungen, von denen nicht sicher ist, dass sie wirklich sind oder nur gedacht. Es ist ein Schreiben über das Schreiben, welches das Nicht-Geschriebene in und mit sich trägt. Es ist ein Schreiben dem Leben entlang, von dem nie ganz klar ist, ob es Traum oder Wirklichkeit ist. Entstanden ist ein Buch, das alles offenlässt und dessen Ende man als Leser selbst finden muss. Auch den Sinn von allem muss man selbst ergründen, er zeigt sich nicht offensichtlich.

Fazit
Ein poetisches, ein rätselhaftes, ein melancholisches Buch über das Schreiben und das Leben. Ein Buch, das einen nachdenklich zurücklässt und dessen Sinn sich vielleicht erst später auftut.

Zur Autorin
Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt »Sommerhaus, später« (1998) wurde eine außerordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband »Nichts als Gespenster«. Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien »Alice«, fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, »Aller Liebe Anfang«. 2016 folgten die Erzählungen »Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Im Frühjahr 2021 erschien der Roman »Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, und für den Judith Hermann mit dem Bremer Literaturpreis 2022 ausgezeichnet wurde. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Literaturpreise: Preis der LiteraTour Nord 2022Bremer Literaturpreis 2022Rheingau Literatur Preis 2021Blixenprisen 2018 für »Lettipark«Erich-Fried-Preis 2014Friedrich-Hölderlin-Preis 2009Kleist-Preis 2001Hugo-Ball-Förderpreis 1999Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 1999

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ S. FISCHER; 3. Edition (15. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3103975109

Bonnie Garmus: Eine Frage der Chemie

Inhalt

«Elisabeth Zott war ebenfalls nachtragend. Doch sie war das hauptsächlich in Bezug auf eine patriarchalische Gesellschaft, die auf der Idee fusste, Frauen seien weniger. Weniger fähig. Weniger intelligent. Weniger schöpferisch.»

Elisabeth Zott lebt in einer Zeit, in der Frauen hinter dem Herd stehen und die Männer das Leben aktiv gestalten. Sie will sich dem nicht fügen, sie will als Chemikerin ihren eigenen Weg gehen, beweisen, dass sie genauso viel kann wie ein Mann – und teilweise kann sie sogar mehr. Auch wenn sie mit schwierigen Startbedingungen in dieses Leben ging und dieses ihr immer wieder Knüppel zwischen die Beine wirft, gibt sie nicht auf. Dass sie als alleinerziehende Frau schlussendlich beim Fernsehen in einer Kochsendung landet, war so nicht vorgesehen, doch auch das hindert sie nicht daran, an ihre eigenen Ziele zu glauben. Im Gegenteil, sie nutzt das als Chance, auch anderen Frauen Mut zu machen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen.

«Aber sie hatte nun mal Ziele, und verdammt, wieso sollte sie den anderen bloss zuschauen? Zuschauen brachte niemanden weiter.»

Gedanken zum Buch

«Wenn Selbstzweifel Sie beschleichen… wenn die Angst sie packt, denken Sie immer daran, dass Mut der Grundstein für Veränderung ist. Und wir sind chemisch dazu angelegt, uns zu verändern. Fassen Sie also morgen beim Aufwachen folgenden Vorsatz: Keine falsche Zurückhaltung mehr. Kein Unterordnen mehr unter die Meinungen anderer, die Ihnen sagen wollen, was sie leisten können und was nicht. Und nie wieder zulassen, dass andere Sie in Schubladen stecken, in sinnlose Kategorien wie Geschlecht, Rasse, wirtschaftlicher Status und Religion. Lassen Sie ihre Talente nicht schlummern, Ladys. Gestalten Sie Ihre eigene Zukunft.»

Die Geschichte spielt in den 60er Jahren, in einer Zeit, in der Männer das Sagen haben, Frauen aber langsam aufwachen. Es wird eine Gesellschaft dargestellt, die in ihren Strukturen patriarchalisch ist, in der es nicht vorgesehen ist, dass Frauen sich in der Wissenschaft oder sonst öffentlich durchsetzen. Auf eine feinfühlige, witzige, teilweise ein wenig dozierende Weise legt die Geschichte den Finger in die Wunden, zeigt die Missstände auf, die auch heute noch teilweise spürbar sind, und ruft dazu auf, sich für eine Veränderung einzusetzen. Entstanden ist ein Buch, das als Aufforderung gelesen werden kann, sich als Frau nicht unterwerfen zu lassen, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, die eigenen. Ziele zu verfolgen, sich nicht selbst unterzuordnen. «Eine Frage der Chemie» ist ein Lebensratgeber in Romanform, eine Geschichte, die wichtige Themen des Seins als Mensch, als Frau, als Gesellschaft aufgreift und auf eine zutiefst menschliche, berührende, warmherzige Art behandelt.

«Menschen werden sich immer nach einer einfachen Lösung für ihre komplizierten Probleme sehnen. Es ist sehr viel leichter, an etwas zu glauben, das du nicht sehen, nicht berühren, nicht erklären und nicht verändern kannst, als an etwas zu glauben, bei dem das alles möglich ist… An sich selbst, meine ich.»

Mit Elisabeth Zott ist Bonnie Garmus eine Protagonistin gelungen, die kämpferisch, ehrlich, mutig und authentisch ist. Eine Frau, die ihr Leben in die Hand nimmt, die Probleme, die sich stellen angeht. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, spricht die Dinge an, nennt sie beim Namen. Und doch hat auch sie Bereiche, die sich in Schweigen hüllen, die sie in sich verschliesst, weil sie zu nah gehen, weil sie zu schmerzhaft sind, und auch weil sie weiss, dass die Zeit dafür noch nicht reif ist. Elisabeth Zott ist eine Frau, die man ins Herz schliesst, der man sich verbunden fühlt, mit der man leidet, hofft und fühlt. Nie lässt sie einen einfach kalt, sie berührt auf eine unprätentiöse Art durch ihr ehrliches, pragmatisches, souveränes Auftreten. Dass ihr ein zweiter Protagonist an die Seite gestellt wird, ein zotteliger grosser Hund, der als gute Seele alles zusammenhält, aufpasst, dass nichts passiert, der mit feinem Gespür für Menschen weiss, wie es ihnen geht, wonach sie sich sehnen, und was sie von ihm brauchen, macht das Buch noch menschlicher.

«Die beste Methode, das Schlechte im Leben zu bewältigen, ist oft, es umzukehren, es als Stärke zu benutzen, nicht zuzulassen, dass das Schlechte dich bestimmt.»

«Eine Frage der Chemie» ist ein Buch, das Mut macht. Es ist ein Buch, das dazu aufruft, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und auch bei schwierigen Situationen nicht aufzugeben. Es ist ein Buch darüber, Missstände zu bekämpfen und sich ihnen nicht einfach zu ergeben. Es ist vor allem aber ein Buch, das berührt, das den Leser in den Bann zieht, das Resonanz erzeugt, indem es zum Lächeln und zum Weinen bringt.

Es gibt teilweise Längen im Buch, die den Erzählfluss zugunsten von halbtheoretischen Abhandlungen und zu langwierigen Situationsbeschreibungen unterbrechen. Es hätte der Geschichte gutgetan, diese zu kürzen. Trotzdem lohnt es sich, durchzuhalten, denn danach nimmt das Buch wieder Fahrt auf.

Fazit
Ein herzergreifendes Buch über eine Frau, die ihren Weg geht in einer Zeit, die das so nicht vorgesehen hat – berührend, unterhaltsam, klug.

Zur Autorin
Bonnie Garmus war als Kreativdirektorin international vor allem in den Bereichen Medizin, Erziehung und Technologie tätig. Privat bevorzugt sie das Schwimmen im offenen Meer, wobei sie sich darauf konzentrieren muss, nicht darüber nachzudenken, was alles sonst noch unter ihr schwimmt. Gebürtig aus Kalifornien lebte sie lange in Seattle, wo sie sich ausgiebig dem Wettkampfrudern widmete. Sie ist außerdem Mutter zweier erwachsener Töchter und lebt aktuell mit ihrem Mann in London. Dies ist ihr erster Roman.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 15. Edition (31. März 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 464 Seiten
  • Originaltitel ‏ : ‎ Lessons in Chemistry
  • Übersetzung ‏ : ‎ Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492071093

Lesemonat März – ein Rückblick

Es sind viele Bücher zusammen gekommen im März, es war ein wilder Ritt durch die Welt der Literatur, einer mit den wundervollsten Highlights und doch einigen Abbrüchen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich habe Long/Schwebbe, Natalie Goldberg, Olga Tokarczuk und Jesse Falzoi das Schreiben erkundet, mit Julia Schoch das Leben und die Liebe erforscht, bin mit Annie Ernaux in Erinnerungen gewatet und habe eine junge Frau auf ihrer Suche nach sich begleitet. Ich habe mich in lichtenden Nebeln ein wenig verloren, und mich mit King Kong und den Nachmittagen ein wenig schwergetan. Ich habe bei Tillie Olsen gelesen, was nie geschrieben wurde und weshalb, und mich in Sachen Chemie weitergebildet. Und ich habe mir ein Liebespingpong von abgrundtraurigen Briefen zugemutet, von dem ich nicht wusste, ob ich bei dem Spiel nicht eigentlich ein unerwünschter Zuschauer war. Und schliesslich und endlich habe ich vier Frauen begleitet, die nach Umbrüchen den Mut hatten, das Leben neu in die Hand zu nehmen.

Es war ein schöner Lesemonat, der April hat schon begonnen ich hoffe, er wird ebenso gut. Was waren eure Lesehighlights im März?

Hier die komplette Liste meiner Bücher:

Aljoscha Long/Ronald Schweppe: Schreib dein Ding! Authentisch – achtsam – kreativ. Dein eigenes Buch – der Weg zu dir selbstEin Schreibratgeber, der mehr auf den werdenden Schriftsteller als auf konkrete Schreibtipps ausgerichtet ist. Die innere Haltung, das Drumrum des Schreibens stehen im Zentrum, doch auch der eine oder andere Tipp, wie aus dem Wunsch Realität werden kann, angefangen vom Schreibritual über Etappen des Prozesses bis hin zur Verlagssuche finden sich in diesem kleinen, gut lesbaren, informativen Buch.5
Julia Schoch: Das Liebespaar des JahrhundertsDie Geschichte einer Liebe über Jahrzehnte, deren einziger Wert im Bestehen scheint, so dass das Ende als notwendig gedacht wird. Wie trennt man sich nach all den Jahren? Was hat man alles gemeinsam erlebt? Wo ging das Verbindende verloren? Was bleibt? Eine unglaublich schöne, tiefe, unsentimental gefühlvolle Geschichte. 5
Annie Ernaux: Der junge MannDie Geschichte einer älteren Frau mit einem jungen Mann, das Leben zwischen den Zeiten und Orten, das Leben als Wiederholung der jungen Jahre, gelebt im Heute, im Wissen um das Ende, dass auch dieses Heute schon zum Gestern macht. Das wohl kürzeste Buch meines Lebens, von dem ich weit mehr erwartet hätte. 3
Clare Pollard: Delphi – abgebrochenKurze Kapitel mit Titeln, die Weissagungen tragen. Das Leben einer kleinen Familie, die Ich-Erzählerin, Jason und ihr. beider Sohn, der Anfang der Covid-Pandemie und die alltäglichen Ängste und Vorkommnisse plus Gedankengänge. Alles zerhackt, nirgends ein Fluss. Ich musste aussteigen, nachdem ich zweimal begonnen hatte, weil ich nicht reinkam und sofort wieder vergessen hatte, was ich schon gelesen habe. 
Matthias Göritz: Die Sprache der Sonne – abgebrochenEine junge Frau reist auf den Spuren ihrer Grossmutter nach Istanbul und hofft, auch Antworten zu ihrer eigenen Vergangenheit zu finden. Das Thema wäre nicht uninteressant, doch ich kam in keinen Lesefluss, es war alles zu zerhackt, es hat mich weder mit den Figuren, noch mit der Erzählweise, noch mit der Geschichte soweit gepackt. 
Julia Schoch: Das VorkommnisJulia Schoch lässt uns durch die Protagonistin, die namenlose Ich-Erzählerin eintauchen in die Welt und vor allem die Gedanken einer Frau, die durch ein Vorkommnis, das unerwartete Auftauchen einer bislang unbekannten Schwester, aus der Bahn geworfen wird und plötzlich nicht mehr weiss, ob sie bisher überhaupt in einer drin war. Als Leser findet man sich unweigerlich in einem Dialog zwischen den Gedanken der Protagonistin und den eigenen. 5
Caroline Schmitt: LiebewesenDie Geschichte einer jungen Frau, die mit sich, ihrer Vergangenheit, und mit der Liebe in all ihren Formen kämpft. Es ist die Geschichte einer Suche zu sich selbst, die ihre Opfer fordert. 4
Manuel Niedermeier: Das ist einer, der lebt! – abgebrochenIch kam in dieses Buch nicht rein. Zuerst verstand ich nicht, was der Anfang mit dem zu tun haben soll, was als Beschreibung stand, dann fand ich es über den Klappentext raus, machte mit dem zweiten Kapitel weiter, da das erste so wenig einnehmend war, doch auch das verlor mich nach wenigen Zeilen. 
Jesse Falzoi: Creative Writing. Texte und Bücher schreiben16 Lektionen hin zum Schreiben eines Textes oder gar eines Buches. Es geht über die Entwicklung eines Plots über die des Protagonisten bis hin zum stimmigen Aufbau, alles mit Übungen zur praktischen Umsetzung sowie Ideen, wie man ins Schreiben kommt. 5
Christian Haller: Sich lichtende NebelEin junger Wissenschaftler beobachtet eines Nachts einen Mann, der im Licht auftaucht und wieder in der Dunkelheit verschwindet, er kommt dadurch zu neuen Erkenntnissen, die in seinen Kreisen auf Skepsis stossen. Der Beobachtete merkt davon nichts, er versucht, über den Tod seiner Frau hinwegzukommen, indem er sich neuen Gebieten zuwendet, die allerdings kein anderer verstehen kann. Zwei unabhängige Leben, die sich zufällig kreuzen, ohne es zu merken, nur der Leser kennt das verbindende Element, welches aber ein wenig dürftig ist für ein ganzes Buch mit zwei parallel laufenden Strängen.3
Toni Morrison: Sehr blaue Augen – abgebrochenEine Geschichte über das Aufwachsen von schwarzen Kindern in einer von Weissen dominierten Welt. Ich kam in keinen Lesefluss, die Geschichte hat mich nirgends abgeholt. 
Natalie Goldberg: Schreiben in Cafés. Kreatives SchreibtrainingEin Buch für alle, die schreiben wollen. Es geht mehr darum, ins Schreiben zu kommen, als eine technische Anleitung. Es ist ein motivierendes, persönliches, inspirierendes Buch mit vielen kleinen Tipps, die dazu führen, loszuschreiben, denn: Das wichtigste, um schreiben zu lernen, ist schreiben. 5
Jochen Schmidt: Ich weiss noch, wie King Kong starbEin humoristischer Blick auf das alltägliche Leben, begleitet von kleinen Comics des Autors. Die Kindheitsträume eines DDR-Jungen sind ebenso Thema wie die Natur, Kunstwerke, Bananen und Bommelmützen. Vielleicht wäre es lustiger, wenn man selbst in der DDR aufgewachsen wäre, auf alle Fälle nimmt das scharfsinnig Witzige mit der Zeit eher ab und die Längen nehmen zu. 3
Ferdinand von Schirach: NachmittageIn seinem ruhigen sachlichen Ton schreibt sich Ferdinand Schirach durch die Gegebenheiten seiner Geschichten, langsam plätschern die Texte dahin, so dass die Gedanken beim Lesen zu oft abschweifen zu früheren Büchern des Autors, die so grossartig waren, dass man dieses Buch blind gekauft hat und nun doch etwas enttäuscht ist.3
Ingeborg Bachmann, Max Frisch: «Wir haben es nicht gut gemachtDer Briefwechsel zwischen dem Liebespaar, dessen Beziehung von Anfang an mit dem drohenden Absturz kämpfte, das so gerne wollte, was erst schwierig erschien, dann war, schlussendlich untragbar wurde, und zwei zurückliess, die trotz allem wohl eine Liebe füreinander bewahrten, die jedoch nicht nährte, sondern eher auszehrte. Ein sehr bedrückendes Buch, ein (vielleicht zu) intimer Blick tief in die Seelen und Herzen zweier Menschen.4
Olga Tokarczuk: Übungen im FremdseinEssays und Reden zum Schreiben und zur Welt, in der wir leben. Wie schaffen wir durch Sprache neue Welten, wohin läuft die Welt und wie gehen die Geschichten mit? Wie entstehen Figuren, woher kommen Ideen, was haben sie mit der Welt draussen zu tun und wie viel von der inneren Welt steckt drin? Ein Blick hinter die Kulissen der Literaturnobelpreisträgerin. 4
Bonnie Garmus: Eine Frage der ChemieDie Geschichte einer Frau, die dafür kämpft, auch als Frau ernst genommen zu werden, zu einer Zeit, als das kein Thema war. Als alleinerziehende Mutter, eigentlich Chemikerin von Beruf, findet sie sich in einer Fernsehsendung zum Kochen wieder, doch sie hat mehr im Sinn, als nur Essen auf den Tisch zu bringen. Und: Die Geschichte einer grossen Liebe, die zwar endet, aber doch das Leben weiter prägt. 4
Stephan Porombka: Kritiken schreiben. Ein TrainingsbuchMan könnte es genauso gut als Schreibratgeber generell ansehen: Eine Anleitung, was eine Erzählung ausmacht, wie man sie angeht, woraus sie besteht. Kritik beinhaltet all das, aber immer in Bezug auf etwas, auf ein Werk. Eine gelungene Einführung und Übungsanleitung.5
Thorsten Pilz: Weite SichtNach dem Tod von Friedrich erfährt Charlotte bei der Testamenteröffnung, dass dieser eine lange Zeit eine Affaire mit ihrer Schwester hatte. Doch das ist nicht die einzige Lebenslüge, die ans Licht kommt. Die Gelegenheit ist da, die eigenen Beziehungen zu überdenken und das Leben neu auszurichten. 5
Tillie Olsen: Was fehltEssays über das Schweigen in der Literatur, darüber, was dem Schreiben im Weg steht und was nötig wäre, um schreiben zu können. Mit vielen Beispielen aus Tagebüchern und Briefen schreibender Menschen lässt Tillie Olsen den Blick hinter die Kulissen von Schreibenden (und nicht mehr Schreibenden) zu und beleuchtet die Schwierigkeiten, mit denen schreibende Menschen (vor allem Frauen) zu kämpfen haben. 4
Simone Atangana Bekono: Salomés Zorn – abgebrochenEs soll die Geschichte eines Mädchens sein, das durch erlebtes Unrecht wütend und dann gewalttätig wird. Ich fand nicht rein. Der Erzählfluss stoppt alle paar Seiten, um an einem anderen Punkt wieder anzusetzen. Die Protagonistin wird nicht deutlich, wir haben nur Erinnerungsfetzen und ein paar aktuelle Erfahrungen. Es gab nichts, woran ich mich hätte halten können, um weiterlesen zu wollen. 
Nicolas Mathieu: Rose Royal – abgebrochenDiese typisch männliche Frauenbeschreibung war schon fast Grund zum Abbruch, doch die folgenden Klischees von Bars, Männern in Bars, alleinstehenden Frauen um die 50 und die Klischee-Geschlechterrollen haben den Rest gegeben. 
Nick Hornby: Mein Leben als Leser – abgebrochenEine Auflistung der gekauften und gelesenen Bücher sowie ein dem Lesen entlang Schreiben und Kommentieren der Leseerfahrungen und des eigenen Lebens rund ums Lesen. Mich sprach die zu joviale Sprache nicht an, ich wurde mit dem Stil nicht warm.

Thorsten Pilz: Weite Sicht

Zum Inhalt

«Charlottes Gedanken drehten sich weiter. Friedrichs Tod, sein Testament, sein Doppelleben…, ihre Freundschaft mit Sabine, die gemeinsame Zeit in ihrem Haus in Hamburg. All das wollte sich in dieser Nacht nicht zusammenführen lassen.»

Als Friedrich stirbt, kommen sie ans Licht – all die kleinen Lebenslügen. Charlotte, Friedrichs Witwe, blickt auf ihr Leben bislang, auf die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden, und merkt, dass es nun, mit über 70, an der Zeit ist, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, um das Leben zu leben, das sie zu leben nicht gewagt hatte. Sie ist damit nicht allein.

Gedanken zum Buch
Sartre sagte, wir würden in die Welt geworfen und es sei an uns, uns darin einzurichten als die, die wir sind. Das nannte er unsere Freiheit, zu welcher wir verdammt seien. Es scheint, dass wir dieser Verdammnis oft leicht entkommen, indem wir uns gesellschaftlichen und familiären Zwängen und Geboten unterwerfen. Wir nehmen ein Lebensmodell auf, von dem wir denken, es würde von uns erwartet – und oft ist dem auch so. Wir fügen uns in eine Lebenssituation ein, weil dies allein unsere Zugehörigkeit in der Gemeinschaft, zu der wir gehören wollen, sichert. Nicht selten befinden wir uns dann bei näherem Betrachten in einem Leben, das uns nicht entspricht. Dies widerfährt den Figuren in Thorsten Pilz’ Roman «Weite Sicht». Alle hatten sich vordergründig eingerichtet in ihren bürgerlichen Existenzen, hatten dafür (was oft verdrängt wurde) Träume und Lieben aufgegeben. Als Friedrich stirbt, kommt alles ans Licht.

Wieso dann, könnte man fragen? Vielleicht weil er mit einer offenen Aussprache (in Form eines durch den Nachlassverwalter vorgelesenen Briefs) den Stein ins Rollen brachte. Was sich vorher schon in kleinen Brüchen in der Fassade zeigte, brach nun durch. Jeder für sich war gefordert, hinzuschauen. Die Frage, wessen Leben man gelebt hatte und welchen Preis man dafür zahlte, lag nun offen da. Und sie suchte nach Antworten, die jeder für sich finden musste.

«No regrets in life! Just lessons learned.”

Thorsten Pilz hat ein wunderbares Buch über die menschliche Fähigkeit zur Anpassung geschrieben. Er thematisiert, wie über Jahre Lebenslügen aufrecht erhalten werden, um den Schein zu wahren. Er legt die Folgen für den jeweils Einzelnen offen, und er macht deutlich, wie daraus ein Beziehungsgefüge von eigentlich beziehungslosen Menschen entsteht. Dies alles gelingt Pilz ohne moralischen Zeigefinger oder psychologisierende Sozialkritik, sondern durch eine stille, sachliche, trotzdem menschliche und wohlwollende Erzählweise. Wir Leser begleiten Charlotte durch die Tage nach Friedrichs Tod, sehen Lügengebilde platzen, Trauer aufsteigen und neue Lebenspläne entstehen. Wir sind Teil eines Umbruchs, fühlen uns beim Lesen mittendrin und würden am liebsten das Glas hinhalten, wenn Rotwein eingeschenkt und das Leben besprochen wird.

Fazit
Ein warmherziges, einnehmendes, berührendes Buch über Liebe und Tod, Schein und Sein, Beziehungen und Eigenverantwortung. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Thorsten Pilz (Jahrgang 1969) ist Redakteur beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Seine Liebe zu Dänemark begann in Sommerurlauben an der jütländischen Westküste mit Softeis, Pølser und scheinbar endlosen Sandstränden. WEITE SICHT ist sein erster Roman. Thorsten Pilz lebt in Hamburg.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Lübbe; 1. Aufl. 2023 Edition (31. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 288 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3785728376

Brigitte Reimann: Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955 – 1963

Eine junge Frau schreibt Tagebücher. Das ist an sich nichts Ungewöhnliches, viele jungen Mädchen und Frauen tun es, auch einige Jungs und Männer. Es gibt Veröffentlichungen vieler Tagebücher von Schriftstellern, die Bandbreite des Inhalts reicht von Tagesbeobachtungen und Notizen zu Befindlichkeiten (man denke an Thomas Mann) über Schaffensprotokolle (derselbe),  bis hin zu hochphilosophischen Gedankengängen (Georg Lichtenberg, Hannah Arendt, Ayn Rand und viele mehr). Die Frage, ob solche Tagebücher, die eigentlich privat verfasst wurden, veröffentlicht werden sollten, kann sich moralisch stellen, wenn der Schreiber der Veröffentlichung nicht explizit zugestimmt hat, sie stellt sich aber auch im Hinblick auf den zu erwartenden Wert und Sinn für den Leser.

Beides ist für mich bei den vorliegenden Tagebüchern sehr in Frage gestellt. Als Leser wird man über Seiten mit spätpubertär anmutenden Liebesphantasien und -eskapaden einer jungen Frau überflutet. Jeder Mann ist ein potenzieller Liebhaber, entpuppt sich mehrheitlich als sehr angetaner Verehrer, und das schwache Weib kann nicht widerstehen, gibt sich hin, prahlt im Tagebuch einerseits mit ihrer Wirkung und kokettiert mit gespielter (für wen eigentlich) Selbstkritik. Dass dann und wann ein paar tiefgründige Gedanken einfliessen, wiegt die Sache leider bei Weitem nicht auf.

Diese endlosen Liebeleien und Schwankereien zwischen Männern waren schlicht ermüdend. Es geht mir nicht um Sitte und Moral, jeder kann, wie er mag. Aber: Ich möchte das nicht lesen. Nun kann man sagen: «Kein Problem, kauf das Buch nicht.» Aber ich frage mich dann, was für eine Motivation gibt es, das zu drucken? Worauf zielt man ab? Literarischen Mehrwert wohl kaum. Auf den Voyeurismus der Menschen? Sex sells? Der neugierige Blick hinter die Schlafzimmergardinen anderer als Verkaufsmagnet, im Wissen, dass das zieht? Tut es das wirklich?

«Ich habe längst keine rechte Lust mehr, mich mit meinem Tagebuch zu beschäftigen – ist ja doch alles Schwindel. Die ganze Welt ist ein Gewebe von Lügen, man sollte sich aufhängen. Aber dazu hat man ja doch keinen Mut, so treibt es einen weiter, und manchmal bildet man sich ein, glücklich zu sein.»

Bei mir zog es nicht. Im Gegenteil. Es war das erste Buch, was ich von Brigitte Reimann las, und irgendwie habe ich gar keine grosse Lust mehr, nun eines ihrer Werke zu lesen. Brigitte Reimanns eigene fehlende Lust auf diese Tagebücher kann ich nachvollziehen, so ging es mir auch. An den Satz angehängt findet sich zwar eine der sehr seltenen tieferen Betrachtung, die den Menschen hinter all der oberflächlichen Liebelei durchscheinen lässt – leider sind diese Einsichten zu dünn gesät.

Persönliche Betrachtung
Beim Lesen der vorliegenden Tagebücher merkte ich eines: Grundsätzlich trenne ich Werk und Autor. Ich lese meist ein Buch und will dann mehr über den Autoren erfahren, wenn mich dieses begeistert hat. Wenn im Nachhinein Details über einen Autor bekannt werden, die diesen diskreditieren, tangiert das sein Bild als Mensch, nicht aber meine Begeisterung für ein Buch. Wenn sich aber eine Antipathie für einen Künstler entwickelt hat, fehlt mir die Motivation, seinen Werken Zeit zu widmen.

Wie geht euch das?

Zur Autorin und weiteren Mitwirkenden
Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin. Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).

Angela Drescher, geboren 1952, ist Lektorin und gab Werner Bräunigs Roman „Rummelplatz“ heraus, außerdem die Tagebücher Brigitte Reimanns und die ungekürzte Neuausgabe des Romans „Franziska Linkerhand“.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Aufbau; 1. Edition (14. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 592 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3351041861

Bücherliebe

Meine Mutter will umziehen und sortiert aus. Die Bücher werden keinen Platz haben, so dass ich holte, was ich haben möchte. Es hat nicht viele Bücher. Sie standen immer bei uns, gelesen hat wohl nie jemand drin, zumindest habe ich weder meine Mutter noch meinen Vater je Bücher lesend gesehen. Mein Vater las Zeitungen, viele verschiedene von vorne bis hinten. Er arbeitete auch für eine. Meine Mutter las gar nicht. Doch: Sie las mir vor, als ich ein Kind war. Märchen. Als ich ein wenig älter war, ging sie mit mir in die Bibliothek. Woche für Woche lieh ich fünf Bücher aus und las sie alle. Mehr durfte man nicht. Einmal lieh ich – noch klein – ein Buch mit Tierfabeln aus und liebte es, so dass ich es immer wieder ausgeliehen habe. Bis die Frau da meinte, ich dürfe nicht mehr. 

In den folgenden Nächten hörte ich meine Mutter jede Nacht auf ihrer Schreibmaschine tippen – immer wieder klingelte der Hebel beim Umschalten auf die neue Seite. Irgendwann kam sie zu mir und übergab mir einen dicken Stapel mit Seiten, die sie mit einem Faden zu einem Buch gebunden und dessen Titelblatt sie mit aus Zeitschriften ausgeschnittenen Tieren dekoriert hatte. Sie hatte das ganze Fabelbuch für mich abgeschrieben. Ich habe es leider nicht mehr. So wie ich bald auch meine Mutter nicht mehr in der Nähe haben werde. Wenigstens bleibt die Erinnerung.  Damit ist nichts ganz verloren. 

Immer, wenn ich diese Bücher nun im Regal sehe, werde ich mich an den Moment erinnert sein, wie sie bei mir einzogen. Das geht mir mit vielen Büchern so: Ich weiss, wann und wo ich sie gekauft oder geschenkt gekriegt habe. Geht euch das auch so? Habt ihr auch solche Büchergeschichten?


Caroline Schmitt: Liebewesen

Inhalt

«Wer sein Herz an Lebewesen hängt, kann nur verlieren, dachte ich.»

Lio lernt Max kennen, zwei Menschen kommen zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Was sie verbindet: Sie sind beide auf ihre Weise verletzte Seelen. Während Max aber offen durch die Welt geht, so auch versucht, in Lios Welt einzudringen, ist Lio verschlossen und versucht krampfhaft, ihn draussen zu halten. Zu gross sind ihre Ängste, zu tief die Verletzungen ihres vergangenen Lebens. Die Bestrebungen, näher zusammenzuwachsen, zeigen langsam Früchte, doch dann wird Lio schwanger und alles verändert sich erneut.

Gedanken zum Buch

«Zuerst war ich meiner Mutter der Dorn im Auge, der ihre Zweisamkeit zerstörte, dann der Dorn, der ihre Nippel wund biss, anstatt daran zu saugen, und dann der Dorn, der ihr das Geld aus der Tasche zog.»

Lio wächst mit dem Gefühl auf, ungewollt zu sein. Die Botschaft, fehl am Platz zu sein, eine Last und überflüssig, hat sich tief in ihre Seele eingegraben. Die Schläge und Übergriffe in der Kindheit und Jugend haben tiefe Narben hinterlassen, sie haben dazu geführt, dass Lio eine dicke Mauer aus Ironie, Zynismus und Distanz um sich aufgebaut hat, hinter der sie sich versteckt und mit der sie sich schützen will. Nun verletzt nur noch sie selbst sich immer wieder – auf allen Ebenen.

«Ich war der unentspannteste und hässlichste Mensch, der je unter ihm gelegen hatte. Ich wollte raus aus dieser Situation und raus aus diesem Körper, nicht nur für den Moment, sondern für immer, ich wollte sterben, aber den Gefallen tat mein Körper mir nicht.»

Lio leidet an sich selbst und an den Erfahrungen, die sich so tief in ihren Körper und ihre Seele eingebrannt haben, dass sie sie von innen heraus zu verbrennen scheinen. Das Gefühl, nichts wert zu sein, lässt sie daran zweifeln, dass jemand sie lieben könnte. Ihr Körper ist ihr so fremd, dass sie ihn lieber zerstören würde, als dass sie ihn geniessen kann. Max will ihr helfen, er will ihr einen Weg zu sich selbst zurück zeigen. Er will mit ihr über das sprechen, was sie an den Punkt gebracht hat, wo sie heute ist. Doch auch Max hat seine Verletzungen und Abgründe, die regelmässig die Beziehung erneut auf eine grosse Probe stellen.

«Vielleicht krachen nicht wir gegeneinander, sondern die Welten, aus denen wir kommen.»

Wir sind, wer wir wurden, weil wir erlebten, was uns begegnete im Leben. Was wir in der Kindheit erfahren, zieht seine Fäden ins Erwachsenenleben und wirkt durch uns hindurch. Es ist schwer, das abzulegen. Und so prallen mitunter Welten aufeinander, die aus einer anderen Zeit stammen und in der heutigen nicht zusammenpassen. Das müssen auch Lio und Max mit der Zeit anerkennen.

«…mir ist im Laufe der Zeit immer klarer geworden, was mit mir alles nicht stimmt. Wenn ich dich anschaue, sehe ich mein Versagen.»

Es sind Beziehungen, die uns zeigen, wer wir sind. Erst durch ein Du erfahren wir das Ich in all seinem Sein und Tun wirklich. Der Partner wirkt gleichsam als Spiegel, der einem vorgehalten wird. Das macht das Zusammensein mitunter schwer. Das müssen auch Lio und Max erkennen und einen Weg suchen, wie sie damit umgehen wollen und können.

«Liebewesen» ist ein tiefgründiges Buch, das grundlegende Themen des Lebens aufgreift. Es geht um das eigene Werden und Sein, um Vertrauen, Verrat, Verletzungen und (Selbst-)Zerstörung. Es geht um Liebe und Tod, um Neuanfänge und Enden. Es ist ein Buch über das Schweigen und die Sprachlosigkeit in Bezug auf das, was schmerzt. Es ist die Geschichte zweier Menschen, die tief verletzt und doch tapfer einen gemeinsamen Weg suchen und gehen wollen. Es ist dadurch auch ein Buch voller Hoffnung. Caroline Schmitt nähert sich all diesen Themen auf eine leichte und oft auch humorvolle Weise, ohne dabei den Ernst zu verdecken. Es gelingt ihr, die eigentlich schweren Themen in eine flüssig lesbare Form zu bringen, so dass sie nicht erschlagen beim Lesen, sondern einen in den Bann ziehen, weil immer wieder die Hoffnung da ist, dass es einen Weg gibt, all das Schwere hinter sich zu lassen, so dass doch noch alles gut kommt. Was auch immer gut bedeuten mag.

Fazit
Ein tiefgründiges, nachdenkliches, aber auch humorvolles Buch über die Beziehung zweier verletzter Seelen, die mit den eigenen Abgründen kämpfen und auf eine bessere Zukunft hoffen.

Zur Autorin
Caroline Schmitt, Jahrgang 1992, studierte Journalismus an der University of the Arts London. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freie Journalistin für Deutsche Welle, ZDF und funk. LIEBEWESEN ist ihr erster Roman.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Eichborn; 2. Aufl. 2023 Edition (27. Januar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 224 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3847901303

Julia Schoch: Das Vorkommnis

Zum Inhalt

«Wir haben übrigens denselben Vater.
In meiner Erinnerung bricht mir bei diesem Satz der Füller aus. Die Feder entgleist, und es entsteht eine lange, tiefe Linie auf dem Papier. Eine Linie des Schocks. Als wäre ich mitten in der Unterschrift von einer Kugel getroffen worden.»

Bei einer Lesung steht eine fremde Frau vor dem Lesepult der Autorin und sagt, sie hätten beide denselben Vater. Danach verschwindet sie wieder, lässt die Autorin mit all ihren Gedanken, die sie mit nach Amerika und wieder zurück nach Deutschland nimmt, allein.

Gedanken zum Buch

«Nie weiss an genau, in welcher Gegenwart man lebt. Manchmal sind wir lange Zeit in Gedanken woanders, bei Menschen und Geschehnissen aus einer anderen Zeit, anderen Räumen.»

Wir folgen der Ich-Erzählerin, einer Autorin, von Deutschland nach Amerika und zurück. Noch viel mehr aber folgen wir ihren Gedankengängen, dem Reisen durch viele Orte und noch mehr Zeiten. Es ist ein Pendeln innerhalb einer Geschichte, in welcher die Vergangenheit sich in die Gegenwart eingräbt und diese prägt. Es ist das verfolgen von Erinnerungen, die sich doch nie als wirklich verlässlich zeigen, die immer auch wieder in Zweifel gezogen werden.

«Trotzdem oder gerade deshalb habe ich dem Vergessen immer grosse Sympathien entgegengebracht. Ich glaube, ich hatte viel übrig für das Schweigen.»

Und manchmal sind da keine Erinnerungen. Oder sie tauchen auf, während sie lange verschollen waren. Es ist ein Hinterfragen dessen, was präsent ist, ein Infragestellen der eigenen Sicht auf sich und das Leben mit all seinen gelebten und ungelebten Beziehungen und Bezugnahmen.

«Es ist leicht, über etwas nicht zu reden. Zu glauben, dass die Dinge ihre bedrohliche Kraft verlieren, wenn man nicht darüber spricht. Zu hoffen, dass alles schwächer und blasser wird, je mehr Zeit vergeht.»

Manchmal ist es vielleicht nicht mal ein Vergessen, sondern ein (aktives?) Verdrängen. Die Dinge, die nicht fassbar scheinen, die überfordern wollen, die nicht in das eigene gemachte Leben passen, werden ausgeblendet. In diesem Ausblenden erhofft man sich Ruhe, erhofft man sich, dass das, was nicht passt, verschwindet durch das Nicht-Erinnern, dadurch, dass nicht zur Sprache kommt, keine Sprache hat.

«Damals dachte ich unentwegt daran, was noch im Verborgenen liegen könnte oder jemals im Verborgenen gelegen hatte. Auch die Beziehung zu meinem Mann, die mir bis dahin als die grösste Liebesgeschichte des späten 20. Jahrhunderts erschienen war, bekam Risse – allein dadurch, dass ich über sie nachdachte.»

Wir richten uns in unserem Leben ein, welches wir zu kennen glauben. Wenn wir merken, dass wir nicht alles erfasst haben, dass sich unter der Decke des Bekannten Unbekanntes verbirgt, welches plötzlich hervorbrechen kann, bringt das eine Unsicherheit in die vormalige (Schein-)Sicherheit. Das bislang Bekannte erscheint als Illusion, als Ausschnitt von etwas Grösserem oder Anderem, das wir vielleicht nur noch nicht kennen, das aber ebenso über uns hereinbrechen und alles durcheinander bringen könnte.

«Aber selbst wenn man es schafft, wenn man die passenden Worte findet, ist das Schreiben eine Art Verdrängung, immer. Da es die Dinge in einem neuen Licht erscheinen lässt. Man lebt fortan mit einer neuen Version seiner selbst.»

«Das Vorkommnis» ist ein nachdenkliches, ein tiefgründiges Buch, ein Buch, welches das Leben hinterfragt. Es ist ein Buch über Herkunft, über Beziehungen, über Familie und den Wert von Erinnerungen. Es ist aber auch immer wieder ein Buch über die Verarbeitung all dessen, was man im Leben antrifft, was in dieser Geschichte vielfach über das Schreiben und die Reflexion dieses Schreibens passiert.  Julia Schoch lässt uns durch die Protagonistin, die namenlose Ich-Erzählerin eintauchen in die Welt und vor allem die Gedanken einer Frau, die durch ein Vorkommnis, das unerwartete Auftauchen einer bislang unbekannten Schwester, aus der Bahn geworfen wird und plötzlich nicht mehr weiss, ob sie bisher überhaupt in einer drin war. Als Leser findet man sich unweigerlich in einem Dialog zwischen den Gedanken der Protagonistin und den eigenen.

Fazit
Ein grossartiges Buch darüber, wie ein einzelner Augenblick das ganze Leben verändern kann – zum Nachdenken anregend, tiefgründig, ein Buch, das einen von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann zieht.

Zur Autorin
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman ›Das Vorkommnis. Biographie einer Frau‹. Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

Ebenfalls von ihr erschienen: «Das Liebespaar des Jahrhunderts»

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG; 1. Edition (16. Februar 2022)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 192 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3423290210

Gedankensplitter: Sprache als Heimat

«Ohne Sprache, ohne Schreiben, fühle ich mich wie ein Obdachloser ohne Heimat.» Carolin Emcke

Ich weiss nicht, wann sie anfing, die Liebe zur Sprache, zum Wort. Zuerst war sie beim Lesen da, ich liebte Geschichten, ich hörte sie vorgelesen und von Tonbändern. Ich lernte früh lesen, und von da an war kein irgendwo geschriebenes Wort mehr sicher vor mir. Jedes Plakat, jede Inschrift wollte gelesen sein. Die wöchentlichen Gänge in die Ortsbibliothek waren mein Highlight, ich deckte mich jedes Mal mit Stapeln ein, die ich zu Hause feinsäuberlich lesend abtrug (damals waren die Stapel offensichtlich überschaubarer als heute). Bald kam zur Liebe zu beschriebenen Büchern die zu schönen leeren dazu, die ich selbst schreibend füllen wollte. Manchmal holte ich auch die Schreibmaschine meiner Mutter aus dem Schrank und fühlte mich wie ein Schriftsteller, wenn ich davorsass und tippte.

Diese zwei Lieben sind geblieben, mein Leben lang bis heute. Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht lese, es gibt keinen Tag, an dem ich nicht schreibe. Ich höre oft, ich solle mal Urlaub machen, mal ausspannen, mal einen Tag einfach nur frei sein. Ich verstehe diese Gedanken, allein sie verkennen, dass für mich Schreiben und Lesen Freiheit sind, nämlich die Freiheit, ganz ich zu sein, an genau dem Ort zu sein, wo ich mich zuhause fühle. Ich habe mich in meinem Leben immer wieder gefragt, was Heimat bedeutet, wo ich zuhause bin. Ich glaube, das ist die Antwort: In der Sprache. 

Was bedeutet Heimat für euch?