Tagesgedanken: „Erkenne dich selbst“

Ich bin teilweise zu impulsiv. Etwas passiert, fällt auf einen Boden, der durch Muster und Prägungen vorbereitet, mit Ängsten und (Selbst-)Zweifeln gepflastert ist, und schon explodiert von tief innen etwas und bricht aus mir heraus. Kurze Zeit später kommt die Einsicht, dass dies erstens unnötig, zweitens unangemessen und drittens beschämend war. Das innere Hadern um das eigene Fehlverhalten, das neben der Erkenntnis, eine Zumutung für die Welt und mich selber zu sein, setzt sich auf den Boden der Prägungen und verstärkt die eigenen Ängste und (Selbst-)Zweifel und schon haben wir das Perpetuum Mobile des eigenen Unglücks beisammen. 

„Erkenne dich selbst“ steht am Apollotempel in Delphi geschrieben. Heraklit hat den Gedanken auch geäussert:

«Allen Menschen ist es zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.»

 In dieser Selbsterkenntnis liegt die Chance, Möglichkeiten von Wandlungen zu erkennen. 

„Denn nur was Innen erkannt und integriert ist, verhindert, dass es sich aus dem Unbewussten nach Aussen wendet und uns dort schicksalshaft gegenüber tritt. Es lässt sich dauerhaft keine Versöhnung und kein Frieden mit anderen Menschen, anderen Kulturen, anderen Lebensformen herstellen, wenn ich im Innen nicht von mir selbst erkannt bin und den grossen Schritt zur Versöhnung mit mir selbst gewagt habe.“

Versöhnung ist wohl ein zentraler Punkt. Wenn ich nicht mit mir versöhnt bin, wird das innere Hadern, Zweifeln, Nagen immer wieder neuen Boden für Verhaltensweisen legen, die nicht der Situation, sondern eigenen Wunden geschuldet sind. Diese Wunden zu erkennen, hilft, mit mir selber und mit anderen in eine wirkliche Beziehung zu treten, die aus dem Moment heraus gelebt ist und nicht aus blinden Tiefen heraus immer wieder torpediert wird. Das Gute daran: Wir können es aus uns heraus schaffen, denn nur in uns liegt der Hund begraben:

„Aus der Kraft des Geistigen geben wir uns selbst die Freiheit, das zu werden, was an Möglichkeiten in uns ruht…. Der Gedanke allein schon führt zur Wandlung und Verwandlung. Gedanken schaffen Wirklichkeit.“

Wir leben in einer Welt der Machbarkeit, des Strebens nach mehr, das auch vor einem selbst nicht halt macht. Selbstoptimierung ist das Ziel, dazu stellen wir uns täglich auf die Waage, um ja die Kontrolle zu bewahren, zählen unsere Schritte und den Puls kontinuierlich durch Uhren am Arm, die gleichzeitig auch noch das Geschehen der Welt ständig bereit halten und die eigene Erreichbarkeit rund um die Uhr garantieren. Kein Wunder, gehen wir hart ins Gericht mit uns, wenn wir nicht so funktionieren, wie es unserem idealen Selbstbild und den gefühlten Erwartungen von aussen entspricht.

Was dabei verloren gegangen ist, ist die Demut, das Wissen um die eigenen Grenzen, die Einsicht, dass Idealvorstellungen genau das sind: Vorstellungen. Albert Schweizer sagte einst:

«Alles Leben ist heilig.»

Dazu muss es nicht perfekt oder ideal sein, es reicht sich auf die eigenen Möglichkeiten zu besinnen und diese nach besten Kräften zu verwirklichen – immer im Wissen, dass man dabei auch scheitern kann, was aber kein Weltuntergang ist, sondern nur der Ansporn, es weiter zu versuchen. Das bedarf der immer wiederkehrenden Innenschau, des Nachdenkens über sich und sein Sein.

«Das Denken führt in die Bewältigung des Gegebenen und Gewordenen.»

Und aus der Erkenntnis können wir wachsen. Nicht zu einem Ideal, aber zum besten Ich, das wir sein können und wollen. Das mag nicht allen anderen gut genug sein, weil es deren Idealvorstellungen von Menschen nicht entspricht, nur ist es nicht unsere Aufgabe, diesen zu entsprechen.

_________

Buchempfehlung: Claus Eurich: Endlichkeit und Versöhnung, Claudius Verlag, München 2011. (Alle Zitate ausser dem von Heraklit stammen aus dem Buch)

6 Kommentare zu „Tagesgedanken: „Erkenne dich selbst“

  1. Deinen Worten und inneren Zweifeln kann ich an dieser Stelle nur zustimmen. Ich bin im Moment selbst auf diesem Prozess der Selbsterkenntnis und -akzeptanz, nicht nur von meinem Selbst, sondern auch von meinen Möglichkeiten. Ich denke auch, dass ein wichtiger Schritt ebenso ist, die Gefühle, die in einem liegen ebenfalls zu akzeptieren. Sie haben einen Grund, auch wenn der nur alten Wunden entspricht. Sie zuzulassen und sich zu fragen, was macht das mit mir, woher kommt das und wie kann ich damit umgehen? Sind wichtige Fragen, um mit sich selbst ins Reine zu kommen.

    Danke für deine aufschlussreichen Gedanken!

    Gefällt 1 Person

    1. Freut mich, wenn meine Zeilen dich angesprochen haben. Ich denke, das Zulassen der Gedanken ist wichtig, denn wo sonst sollte die Erkenntnisse dessen, was man selbst wirklich will, sonst herkommen? Ich sähe es als Gefahr, dann nur das zu tun, was fremden Erwartungen entspricht.

      Gefällt 1 Person

  2. Heraklit: «Allen Menschen ist es zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken.»

    Das ist einerseits zutreffend –
    andererseits aber auch nicht.

    Es ist zutreffend, weil es so ist.

    Nicht zutreffend ist es, weil die Fähigkeit, sich selbst zu erkennen und
    verständig zu denken von einer gewissen Geistigen Reife abhängt und:

    Die Menschen bewegen sich auf
    unterschiedlichen Höhen der Reife.

    Bei uns kursiert das Mißverständnis, die Erwachsenen-Reife korreliere mit einem
    bestimmten körperlichen Alter, nämlich dem Erwachsenen-Alter. Dem ist nicht so.

    Das Erwachsenen-Alter ist KEIN
    Beleg für die Erwachsenen-Reife (4).

    Heimito von Doderer hat zum Thema mal gesagt:

    „Reif ist, wer auf sich selbst nicht mehr hereinfällt.“

    Das sogenannte Reifezeugnis bescheinigt gewisse kognitive Fähigkeiten, die
    haben aber keinerlei Bezug zur Geistigen Reife und sagen über sie nichts aus.

    Ebenfalls von Heimito von Doderer:

    „Als erwachsen darf gelten, wer auf sich selber nicht mehr hereinfällt.“

    🌿

    Heraklit spricht im Zitat vom POTENZIAL
    der Menschen und nicht vom Status quo.

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