Inspirationen für die Woche – KW 16

Beim Gang durch die Welt schnappe ich immer wieder Dinge auf, die mich inspirieren, die mich bewegen, die mich begeistern. Diese möchte ich mit uns teilen. Vielleicht findet ihr etwas für euch dabei.

Folgende Bücher kann ich ans Herz legen, sie haben mich begeistert beim Lesen:

Michael Schmidt-Salomon: Die Evolution des Denkens

«Tatsächlich hat ‘das Genie’ mit der realen Person, die im Zentrum des Verehrungskults steht, oft wenig gemein… Hinter dem Kult verbirgt sich jedoch ein tiefes menschliches Bedürfnis: Wir brauchen Vorbilder, um uns in unserem Leben zu orientieren. Sie sind Teil unserer Identität, sagen uns, wer wir sind oder sein könnten.»

10 grosse Denker, ihr Leben und Schaffen im Blick, um daraus Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Michael Schmidt-Salomon zeigt, dass all die klugen Geister ihr mutiges und neugieriges Denken und Forschen, ihre Unabhängigkeit, ihr Sinn für Vernetzung und ihr offener Blick sowie der Umstand, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, zu den Denkriesen machte, als die wir sie heute sehen. Was können sie uns also zeigen, was uns für unsere Zeit nützt? Ein sehr informatives, kurzweiliges, packendes Buch.

(Michael Schmidt-Salomon: Die Evolution des Denkens: Das moderne Weltbild – und wem wir es verdanken, Piper Verlag 2024)

Sarah Bakewell: Wie man Mensch wird

«Ich bin ein Mensch, und nichts Menschliches erachte ich als mir fremd.» Publius Terentius Afer

Sarah Bakewell rollt die Geschichte des Humanismus von Anfang an auf. Was heisst es, humanistisch zu denken und zu handeln? Worauf gründen Entscheidungen, was macht den Menschen aus? Ausgehend von der Idee, dass der Mensch im Kern gut sei, bildete sich vor über 700 Jahren eine Lebenshaltung aus, deren Ziel es ist, den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zum Menschen zu machen, der er ist: ein freies, glückliches, im Hier und Jetzt lebendes Wesen, dem das friedliche Miteinander am Herzen liegt, weswegen er auf Mitgefühl und Verantwortung setzt statt auf Gebote und Gesetze. Bakewell erzählt aus dem Leben verschiedener Literaten, Künstler, Denker und zeigt ihre Lebens- und Denkwege auf. Für mich etwas viel Geschichte und zu wenig Denken, was aber subjektiven Vorlieben geschuldet ist.

(Sarah Bakewell: Wie man Mensch wird: Auf den Spuren der Humanisten, C. H. Beck Verlag 2023)

Arthur Schnitzler: Die Traumnovelle

«So gewiss, als ich ahne, dass die Wirklichkeit einer Nacht, dass nicht einmal die eines ganzen Menschenlebens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.»

«Und kein Traum», seufzte er leise, «ist völlig Traum.»

Die Geschichte von Fridolin und Albertine, einem jungen Ehepaar mit einer kleinen Tochter, verbunden in einer innigen Beziehung, die Risse bekommt, als sie beschliessen, sich alles zu sagen. Die jeweiligen erotischen und Fantasien und Hoffnungen verwirren nicht nur jeden für sich, sondern führen auch zu emotionalen Abgründen miteinander. Was für eine Sprache, was für eine Welt, in die man da hineingerät: In die Tiefen des menschlichen Fühlens und Wünschen. Wo liegt die Wahrheit? Was ist wirklich gewollt, gelebt, was nur geträumt?

(Arthur Schnitzler: Traumnovelle – in verschiedenen Ausgaben, unter anderem SZ Bibliothek 2004)

Folgenden Podcast habe ich gehört:

Freiheit Deluxe mit Jagoda Marinić und Ilker Çatak

Hier geht’s zum Podcast

«Freiheit kommt mit Bewusstsein.» David Foster-Wallace (abgekürzt)

Ein Gespräch über Freiheit, über Ausgrenzung, darüber, ignoriert und ausgeschlossen zu werden. Es ist ein Gespräch über die blinden Flecken in der Gesellschaft, in welcher Exklusion schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, dass es nicht mehr auffällt – ausser, man ist betroffen. Es ist ein Gespräch darüber, wie wir mit mehr Bewusstsein unser Leben leben sollen, denn nur so sind wir frei. Und vieles mehr.

Das vollständige Zitat lautet:

„Die wirklich wichtige Art der Freiheit beinhaltet Aufmerksamkeit und Bewusstsein, Disziplin und Anstrengung, und die Fähigkeit, sich wirklich um andere Menschen zu sorgen, für Sie Opfer zu bringen, jeden Tag auf neue auf unzählige, kleine, unsittliche Arten und Weisen.“

Überhaupt möchte ich euch den Podcast von Jagoda Marinić ans Herz legen. Sie hat eine sehr warme, kompetente Art zu fragen und zuzuhören. Es sind Gespräche, die in die Tiefe gehen, die Persönliches ans Licht bringen und auch die Gesellschaft, wie sie ist, und unser Sein darin immer wieder hinterfragen.

In der ARD-Mediathek und bei SRF Play findet sich nun der von Daniel Kehlmann geschriebene Sechsteiler über Franz Kafka. Da kommt alles zur Sprache: Das Verhältnis zum Vater, die Beziehungen zu den verschiedenen Frauen, seine Freundschaft zu Max Brod – und vieles mehr. Ich bin sehr gespannt, ich habe die Serie noch nicht gesehen.

Hier geht’s zur Sendung

Zu Kafka werde ich in den nächsten Wochen sicher noch mehr schreiben.

Ich hoffe, ihr habt etwas gefunden, das euch anspricht. Wenn ihr Tipps für mich habt, immer nur her damit.

Habt eine gute Woche!

Simone de Beauvoir: In den besten Jahren

Inhalt

«Als ich im September 1929 wieder nach Paris kam, berauschte mich vor allem meine Freiheit. Seit meiner Kindheit hatte ich von ihr geträumt…»

Nach Memoiren eines Mädchens aus gutem Haus ist dies der zweite Teil von Simone de Beauvoirs autobiografischen Schriften. Sie schreibt darin über ihr Leben ab 20, das ihr endlich die ersehnte Freiheit gibt. Es ist die Erzählung ihrer Beziehung zu Sartre, zu ihren Beziehungen und Freundschaften, die sich über die Jahre bilden. Es ist ein Schreiben über ihr eigenes Schreiben und das Ringen um die ersten Romane sowie ein Blick in das Erstarken des Nationalsozialismus und den Ausbruch des Weltkrieges, wie die Kriegsjahre sich auf das Leben und die Gesinnung der Menschen auswirkten, sowie die Analyse der eigenen Verwandlung von einem apolitischen hin zu einem politisch engagierten Menschen.

Gedanken zum Buch

«Mit fünfzig Jahren hielt ich den Augenblick für gekommen; mein erinnerndes Bewusstsein hat für das Kind und das junge Mädchen – die beide auf dem Grunde der verlorenen Zeit ausgesetzt und mit ihr verloren sind – das Wort ergriffen. Ich habe ihnen eine Existenz in Schwarz und Weiss geschaffen.»

Es gibt Bücher, die eignen sich nicht fürs Lesen mit dem D-Zug, Bücher, die Satz für Satz gelesen werden wollen. Jeder Satz erschliesst dabei neue Gedankenwelten, die man ergründen, in die man sich hineindenken will. Solche Bücher weisen über sich hinaus, sie verleiten zu weiteren Lektüren, sie wecken neue Interessen. Wenn man sie dann gelesen hat, ist man nicht am Ende angelangt, sondern am Anfang, weil man am liebsten nach dem Umblättern der letzten Seite mit der ersten wieder beginnen möchte, es oft auch tut, und sei es nur, um nochmals einzelnen Sätzen nachzuspüren.

Ich habe Simone durch die Jahre nach dem Studium begleitet, habe mit ihr die Wandlung von einer politisch uninteressierten Frau hin zu einer, die sich engagieren will, erlebt. Ich habe sie ihr Schreiben bezweifeln und feiern sehen und die Kriegsjahre politisch wie lebenswirksam Revue passieren lassen. Ich habe sie auf ihre Wander- und Velotouren durch Frankreich begleitet und neue Freundschaften zu grossen Namen der damaligen Zeit kennengelernt.

Ich bin in Simone und in Sartres Schreiben und Denken eingetaucht, habe mitgedacht, markiert und notiert. Ich bin tiefer in das Leben und Schaffen einer Frau eingedrungen, die mich mehr und mehr fasziniert, weil ich immer wieder Parallelen entdecke, weil mich ihr Denken und ihr Leben faszinieren. Ich bin gespannt, wohin mich die weitere Reise mit Simone bringen wird.

«Ich möchte vom Leben alles.»

Zu Simone de Beauvoir
Simone de Beauvoir wurde am 9.1.1908 in Paris in ein ursprünglich wohlhabendes, später mit den Finanzen kämpfendes Elternhaus geboren. Mit fünfeinhalb Jahren kam Simone an das katholische Mädcheninstitut, den Cours Désir, Rue Jacob; als Musterschülerin legte sie dort den Baccalauréat, das französische Abitur, ab. 1925/26 studierte sie französische Philologie am Institut Sainte-Marie in Neuilly und Mathematik am Institut Catholique, bevor sie 1926/27 die Sorbonne bezog, um Philosophie zu studieren. 1928 erhielt sie die Licence, schrieb eine Diplomarbeit über Leibnitz, legte gemeinsam mit Merleau-Ponty und Lévi-Strauss ihre Probezeit als Lehramtskandidatin am Lycée Janson-de-Sailly ab und bereitete sich an der Sorbonne und der École Normale Supérieure auf die Agrégation in Philosophie vor. In ihrem letzten Studienjahr lernte sie dort eine Reihe später berühmt gewordener Schriftsteller kennen, darunter Jean-Paul Sartre, ihren Lebensgefährten seit jener Zeit.

1932-1936 unterrichtete sie zunächst in Rouen und bis 1943 dann am Lycée Molière und Camille Sée in Paris. Danach zog sie sich aus dem Schulleben zurück, um sich ganz der schriftstellerischen Arbeit zu widmen. Zusammen mit Sartre hat Simone de Beauvoir am politischen und gesellschaftlichen Geschehen ihrer Zeit stets aktiv teilgenommen. Sie hat sich, insbesondere seit Gründung des MLF (Mouvement de Libération des Femmes) 1970, stark in der französischen Frauenbewegung engagiert. 1971 unterzeichnete sie das französische Manifest zur Abtreibung. 1974 wurde sie Präsidentin der Partei für Frauenrechte, schlug allerdings die «Légion d’Honneur» aus, die ihr Mitterrand angetragen hatte. Am 14.4.1986 ist sie, 78-jährig, im Hospital Cochin gestorben. Sie wurde neben Sartre auf dem Friedhof Montparnasse beigesetzt.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Rowohlt Taschenbuch; 32. Edition (1. Januar 1969)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Pocket Book ‏ : ‎ 744 Seiten
  • Übersetzung ‏ : ‎ Rolf Soellner
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3499111129

Gedankensplitter: Durch Vernunft in die Freiheit

«Das menschliche Unvermögen in Mässigung und Beschränkung der Affekte nenne ich Unfreiheit. Denn der den Affekten unterworfene Mensch ist nicht in seiner eigenen Gewalt, sondern in der des Schicksals, unter dessen Herrschaft er sich dermassen befindet, dass er oft, obschon er das Bessere sieht, dennoch dem Schlechteren nachzufolgen gezwungen wird.» Baruch de Spinoza

Aus dem Bauch heraus handeln. Es wird oft als ursprünglich, als authentisch, als intuitiv bewertet und hochgehalten. Mittlerweile ist bekannt, dass das unüberlegte, unreflektierte aus dem Bauch hinaus Handeln in keiner Weise einfach frei ist, sondern nur die eigenen Prägungen reflektiert. Hinzu kommt, dass dieses «aus dem Bauch heraus» oft auch schlicht einem Affekt folgt, dass hochkommende Impulse ungefiltert in Aktion übergehen. Das kann mitunter nicht nur zu unerwünschten Ergebnissen führen, es erweist sich manchmal auch als schlichtweg dumm, wie man mit einer Mässigung der Affekte und einer Hinzunahme des Denkens leicht eingesehen hätte. Nicht umsonst wohl halten viele Philosophie das Denken hoch, nennen gar die Vernunft eine Macht, auf die wir nicht unfreiwillig verzichten sollen.

Baruch de Spinoza sieht in den Affekten einen Weg in die Unfreiheit. Indem wir uns ihnen hingeben, geben wir das Steuer aus der Hand. Wir verzichten auf das wichtige Mittel, das uns selbst zum Herrn unseres Lebens macht: Die Vernunft.

«Ich werde also hier von der Macht der Vernunft handeln, indem ich zeige, was die Vernunft an sich über die Affekte vermag, und sodann was Freiheit des Geistes oder Glückseligkeit ist, woraus wir ersehen können, wieviel mächtiger der Weise ist als der Ungebildete.» Baruch de Spinoza

***

Am 21. Februar vor 347 Jahren ist Baruch de Spinoza (24.11.1632 – 21.2.1677) gestorben. Ich hebe mein Glas auf einen Denker, dessen Bücher uns auch heute noch viel zu sagen haben.

Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox

Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen

Inhalt
Hannah Arendt beschrieb die Menschenrechte einst als «das Recht, Rechte zu haben». Dieses Recht müsste jedem Menschen zustehen, würde aber genau da ausser Kraft gesetzt, wo es den grössten Bedarf gäbe: Bei den Flüchtlingen. Judith Kohlenberger hat einen ähnlichen Ansatz, wenn sie schreibt:

„Grundrechte kann man nicht einfach für die einen abstellen, während sie für die anderen weiter gelten. Sie sind, wie Maya Angelou, die amerikanische Schriftstellerin und Ikone der Bürgerrechtsbewegung, so treffend formulierte, wie Luft: Entweder alle haben sie – oder niemand.“

In ihrem Buch «Das Fluchtparadox» widmet sie sich der paradoxen Situation rund um das Thema Flucht. Sie beleuchtet die Widersprüche, die darin verborgen sind, macht die Not und das Leid der Flüchtenden sichtbar sowie die Hürden, mit denen sie zu kämpfen haben. Menschen, die aus ihrer Heimat müssen, setzen ihr Leben aufs Spiel, um an einen sicheren Ort zu kommen, wo sie nicht wirklich gewollt sind. Einerseits sollen sie sich integrieren, andererseits aber bitte unsichtbar bleiben. Dieses und weitere Paradoxe sind zentrale Themen, die an aktuellen Beispielen wie Syrien, der Ukraine und vielen anderen deutlich gemacht werden.

Kohlenberger gelingt eine differenzierte, sachliche, informative Analyse unseres Umgangs mit Flüchtlingen, sie legt den Finger in die Wunden der heutigen Regelungen und beleuchtet, wo wir versagen, weil wir unserer Verantwortung nicht gerecht werden.

Gedanken zum Buch

„Vertrieben zu sein verdeutlicht in seiner passiven Form nämlich, dass man keine Wahl hat, dass man den Umständen, die zum Aufbruch zwingen, unterworfen ist.“

Wie oft hört man, dass Flüchtlinge doch bitte dankbar sein sollen, dass sie aufgenommen werden, Forderungen und Ansprüche seien da fehl am Platz. Aber auch – oder gerade – Flüchtlinge haben Bedürfnisse. Sie sind die Vertriebenen, welche keine Heimat mehr haben, die oft ihre Familien und liebsten Menschen hinter sich lassen mussten. An den Umständen, dass es soweit kam, sind wir westlichen Länder oft nicht unschuldig. Wir haben mit unseren globalen, wirtschaftlichen Machenschaften dazu beigetragen, dass arme (und oft) korrupte Länder ausgebeutet werden. Wir haben ihnen ihre Ressourcen genommen und sie im Elend zurückgelassen. Aus diesem Elend sind nicht selten Unruhen entstanden oder die Lebensbedingungen wurden sonst unzumutbar.

Wenn nun diese Menschen fliehen und bei uns Zuflucht suchen, wäre es in unserer Verantwortung, dafür auch geradezustehen, im Wissen, was wir an Schuld auf uns geladen haben. Doch wir verschliessen die Augen. Wir wollen unseren Wohlstand schützen (der auch auf der Ausbeutung generiert wurde), und ihn nicht von den Flüchtlingen gefährdet sehen, weil wir teilen müssten.

Wir stellen Grenzen auf und Forderungen an die Menschen, die kommen, Forderungen, die in sich paradox und teilweise menschenverachtend sind.

„…worum es in der Asyl- und Migrationsfrage eigentlich gehen sollte: nicht um Almosen, um Akte der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, zu der wir uns durch Bilder von Leid, Elend und absoluter Verzweiflung bemüßigt fühlen, sondern um Rechte.“

Es muss sich etwas ändern, und zwar dringend. Wir müssen die strukturelle Ungerechtigkeit erkennen und unsere Verantwortung anerkennen. Menschen müssen Rechte haben. Alle Menschen. Sie müssen ein Recht auf diese Rechte haben, die ihnen niemand nehmen darf, weil sie Menschen sind.

Fazit
Ein sachliches, informatives, differenziertes Buch zu einem aktuellen und brennenden Thema.

Vom Suchen und Denken – Iris Murdochs Suche nach dem Guten

Iris Murdoch: Die Souveränität des Guten

Inhalt

«Was macht einen guten Menschen aus? Wie können wir uns moralische verbessern? Können wir uns moralisch verbessern? Das sind Fragen, die Philosoph:innen versuchen sollten, zu beantworten.»

Iris Murdoch geht der Frage nach, was das Gute wirklich ist. Sie beruft sich auf Kant, Platon, Kierkegaard, setzt sich von den Existenzialisten ab, indem sie deren Ansatz als zu wenig weit reichend darlegt. Das Gute ist in sich nicht fassbar, doch liegt es allem sonst zugrunde, ist es das, wonach alles strebt, allen voran die Liebe. Das Buch lässt einen roten Faden vermissen, es hat keine abschließende Antwort, es ist ein Suchen und sich Annähern, dessen letzter Schritt offenbleiben muss.

Gedanken zum Buch

«Das Gute ist ein leerer Raum, in den menschliche Entscheidungen einziehen können.» Iris Murdoch

Das Gute ist kein Wert an sich, es muss erst verwirklicht werden durch das, was man tut. Indem man sich auf eine Weise verhält, die frei von (negativen) Absichten ist, wenn wir mit einem Blick auf die Welt schauen, der von Liebe durchdrungen ist, kommen wir dem Guten auf die Spur.

«Nach dem Guten zu fragen, ist nicht das Gleiche, wie danach zu fragen, was Wahrheit oder was Mut ist, da die Idee des Guten in eine Erklärung der Letzteren einfliessen muss.»

Das Gute lässt sich nicht fassen, nicht definieren, es ist das, was allem zugrunde liegt, sofern dieses nach dem Guten, was immer auch das Schöne und Richtige ist, weil es von Liebe durchdrungen ist, strebt.

«Der gute Mensch ist demütig.» Iris Murdoch

Nach Iris Murdoch ist der Mensch von Natur selbstsüchtig, indem er immer sich im Blick hat und alles, was er sieht, durch dieses Ich passiert. Nun ist der Blick dieses Ichs nie ungetrübt, er kommt aus einem Geist, der ständig in Bewegung ist, oft mit Sorgen beschäftigt, die sich wie ein Schleier über die Welt legen.

Hier setzt nach Iris Murdoch die Demut an, indem sie den Menschen erkennen lässt, dass das eigene Selbst nichtig ist, so dass er die Dinge sehen kann, wie sie sind – und nicht, wie Anais Nin es ausdrückte, so wie er ist. Er liest keinen Zweck oder Sinn in die Welt hinein, sondern sieht sie als Wert an sich. Als solcher Mensch ist es ihm möglich, ein guter zu werden.

«Als moralische Akteure müssen wir versuchen, gerecht zu sehen, Vorurteile anzulegen, Versuchungen aus dem Weg zu gehen, Einbildungen zu kontrollieren und zu zügeln, unsere Gedankengänge zu lenken… Güte und Schönheit sollten einander nicht gegenübergestellt werden, sondern gehören weitgehend zur selben Struktur.»

Fazit
Ein Buch, das sich mit eigenständigen Gedanken auf die Suche nach dem Guten macht, das den Leser mitnimmt auf diese Suche und ihn zum Mitdenken anregt.

Gedankensplitter: Neugier auf den anderen

«Der Sinn für Ungerechtigkeit, die Schwierigkeiten, die Opfer der Ungerechtigkeit zu identifizieren, und die vielen Weisen, in denen jeder lernt, mit den eigenen Ungerechtigkeiten und denen anderer zu leben, werden ebenso leicht übergangen wie die Beziehung privater Ungerechtigkeit zu öffentlicher Ordnung.» Judith Shklar

Wir sehen einen Menschen und schon ist es da: Das Bild in uns, wie er ist. Ein spontaner Impuls, eine quasi natürliche Eingebung, die durchaus ihre Berechtigung hat, hilft sie doch, Dinge schneller einzuordnen und damit eine gefühlt gesicherte Basis herzustellen. Das Problem ist, dass diese Eingebungen nicht aus dem Nichts kommt, sondern sozial, historisch und kulturell gewachsen ist. Vorurteile vererben sich förmlich weiter, so dass sie auch dann noch in den Köpfen im Versteckten ihr Unwesen treiben, wenn man rational neue Erkenntnisse gewonnen hätte. Auch wenn wir heute wissen, dass Frauen nicht dümmer sind, dass sie durchaus ohne gesundheitliche Gefährdung höhere Schulen besuchen können (ein Argument, mit dem es ihnen früher verwehrt war), dass sie gleich viel leisten können in bestimmten Berufen, und gleich viel wissen können wie die Männer, zeigt sich im sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Bereich oft ein anderes Bild.

Zum Beispiel: Argumente von Frauen (hier könnte auch Behinderte, POC, LGBTQIA, etc. stehen) werden weniger gehört, werden weniger ernst genommen. Das führt zu einer epistemischen Ungerechtigkeit, wie Miranda Fricker sich ausdrückt. Man verwehrt ihnen das Vertrauen in ihre Aussagen einzig aufgrund eines Vorurteils. Dadurch können sie sich nicht im gleichen Masse einbringen wie Männer das können, sie werden an ihrer aktiven Teilhabe gehindert.

Das Bild in den Köpfen ist gemacht, die Reaktion folgt. Das hat aber noch weitere (negative) Konsequenzen: Die so gering Geschätzten werden nicht gehört. Sie werden in ihrem Sein als Wissende, Fähige nicht tatsächlich wahrgenommen, sondern abgewertet. Das führt oft dazu, dass sich dieses mangelnde Vertrauen auch verinnerlicht, sich diese Menschen selbst weniger zutrauen – und noch schlimmer: Sie bilden Fähigkeiten erst gar nicht aus oder verlieren sie sogar.

Menschen haben eine tiefe Sehnsucht danach, gehört, gesehen, wahrgenommen zu werden. Tut man das nicht, nimmt man ihnen einen Teil ihrer Würde, man marginalisiert sie. Dem können wir nur beikommen, wenn wir (individuell und in Systemen) ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass in uns Vorurteile am Wirken sind, und aktiv versuchen, gegenzusteuern. Wir müssen lernen, mit Neugier auf andere Menschen zuzugehen, mit der Absicht, wirklich hören zu wollen, was sie sagen. Wir müssen unsere Vorurteile ablegen und offen zuhören, hinsehen. Das heisst nicht, dass wir allen blind vertrauen müssen, aber die Prüfung der Aussagen darf nicht aufgrund von vorgefassten Vorurteilen, sondern aufgrund sachlicher Kriterien geschehen.

***

Ein Buch zu diesem Thema:
Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens, C. H. Beck Verlag, 2023.

Miranda Fricker ist der Überzeugung, dass wir uns zu sehr auf die Gerechtigkeit ausrichten und damit vergessen, die tatsächlichen Ungerechtigkeiten genau zu beleuchten, die es zu beheben gilt. Oft denkt man bei Gerechtigkeit (und Ungerechtigkeit) an die Verteilung von Gütern, aber es gibt auch andere Formen. Bei Ungerechtigkeit, so Fricker, dürfe man nicht nur materielle Kriterien gelten lassen, sondern auch die Glaubwürdigkeit von Menschen sei ungerecht verteilt, weil soziale Vorurteile zu einer Marginalisierung bestimmter Gruppen und der Zugehörigen (Frauen, Arme, POC, etc.) führen. Nur indem wir uns dessen bewusst werden, und je einzeln und auch in Institutionen und Systemen die eigenen Vorurteile erkennen und diese für die Beurteilung von Zeugnissen ausschalten, können wir identitätsstiftende Machtsysteme ausschalten. Alles in allem nichts Neues, doch es wird in eine hochkomplexe Sprache verpackt und (zu) ausführlich mit Argumenten und Verweisen abgestützt. Das macht das Lesen mitunter etwas beschwerlich.

Thomas Piketty: Eine kurze Geschichte der Gleichheit

Inhalt

«Ungleichheit ist zunächst und vor allem eine soziale, historische und politische Konstruktion.»

Wir leben in einer Welt voller Ungleichheiten. Die Schere zwischen reich und arm klafft weit auseinander, Menschen mit vielen Rechten und Macht stehen anderen gegenüber. Wie ist es dazu gekommen? Ist es ein Problem? Müssen wir es lösen? Können wir es lösen?

Thomas Pickety zeichnet das historische Bild über die Entstehung der Ungleichheiten in unserer Gesellschaft und verweist darauf, dass diese nicht als Naturgewalt über uns kamen, sondern mehrheitlich von uns Menschen selbst konstruiert wurde durch unser Naturell und die Art und Weise unseres Zusammenlebens in Gesellschaften und Staaten. Er bleibt dabei nicht bei der Beschreibung stehen, sondern hat auch einen Lösungsansatz zur Hand, von dem er aber selbst sagt, dass ein solcher nie für immer in Stein gemeisselt ist, sondern einen andauernden Prozess darstellt.

«Der Sozialstaat und die Steuerprogression sind wirkungsvolle Instrumente einer Transformation des Kapitalismus.»

Gedanken zum Buch

«Menschliche Gesellschaften erfinden unablässig Regeln und Institutionen, um sich zu organisieren, um Reichtum und Macht zu verteilen. Aber stets treffen sie dabei politische und reversible Entscheidungen.»

Was vom Menschen gemacht ist, kann der Mensch auch ändern. Der Satz klingt einfach, man könnte hinterherschieben, dass er es nur wollen müsse. Das Hauptproblem dabei ist aber wohl, dass es «den Menschen» nicht gibt, nur «die Menschen», und die wollen selten alle dasselbe. Es wollen die umso weniger eine Änderung, die von der aktuellen Situation profitieren, und mehrheitlich sind die auch in Positionen, dies zu bestimmen.

«So leicht es ist, den inegalitären oder repressiven Charakter bestehender Institutionen und Regierungen anzuprangern, so schwierig ist es, sich auf alternative Institutionen zu verständigen, die wirklich mehr soziale, wirtschaftliche und politische Gleichheit schaffen und zugleich individuelle Rechte und das Recht jeder und jedes Einzelnen auf Andersartigkeit zu respektieren.»

Zentral für eine Änderung der vorhandenen Ungleichheiten in unserer Gesellschaft ist einerseits der klare Blick auf dieselben, das Aufdecken der Missstände. Andererseits bedarf es eines Dialogs, um mögliche Lösungsansätze gegeneinander abzuwägen und eine möglichst grosse Einigung auf die geeignetsten Massnahmen zu gewinnen.

«Dazu braucht es eine ehrgeizige, konsequente und überprüfbare Antidiskriminierungspolitik, ohne darum die Identitäten, die stets vielfältig und vielschichtig sind, zu verhärten.»

Was sich auf dem Papier leicht schreibt, stellt sich in Tat und Wahrheit schwierig an, sind es doch festgefahrene, da über Jahrzehnte, Jahrhunderte gar, gewachsene Strukturen, an denen wir rütteln wollen. Wir müssen wegkommen von einer Politik, welche die bevorteilt, die sowieso schon viel haben, auf Kosten derer, die am anderen Ende der Messlatte sitzen. Wir müssen hinkommen zu einer Form des Zusammenlebens, die Menschen als Menschen sieht, ohne sie nach äusseren Kriterien zu unterscheiden und zu diskriminieren. Wir müssen hinkommen zu einem System, das sozialer ist und auf eine Umverteilung setzt, die es allen ermöglicht, ein menschenwürdiges Leben zu führen.

Thomas Piketty gelingt in diesem für ihn verhältnismässig schmalen Buch eine konzise historische Analyse der gewachsenen Ungleichheiten in unseren Gesellschaften, und liefert einen gezielten Lösungsansatz, den er zur Diskussion stellt. Es ist zu wünschen, dass dieser aufgegriffen wird und zur Umsetzung gelangt. Ich bin überzeugt, dass sich viele andere Probleme auch lösen würden, wären gravierende Ungleichheiten nicht mehr ausschlaggebend, wenn es darum geht, ein würdiges Leben zu führen.

Fazit
Tiefgründig, kompetent, analytisch und konkret – ein gut lesbares, zum Nachdenken anregendes Buch über die Ungleichheiten dieser Welt und wie wir sie beheben können.

Zum Autor
Thomas Piketty lehrt an der École d’Économie de Paris und an der renommierten École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ (2020), „Ökonomie der Ungleichheit“ (2020), „Kapital und Ideologie“ (2020), „Der Sozialismus der Zukunft“ (2021) und zuletzt „Rassismus messen, Diskriminierung bekämpfen“ (2022).

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ C.H.Beck; 2. Edition (29. September 2022)
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 264 Seiten
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Übersetzung‏ : ‎ Stefan Lorenzer
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3406790980

Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse

Inhalt

«Denn wer in einer Gesellschaft lebt, grenzt andere aus; wer Regeln versteht, will diese überwachen: wer Vertrauen schenkt, macht sich abhängig; wer Wohlstand erzeugt, schafft Ungleichheit und Ausbeutung; wer Frieden will, muss manchmal kämpfen.»

Unsere Gesellschaft hat sich über die Jahrhunderte hinweg verändert, neue Institutionen, Technologien, Wissensgebiete und -bestände sind entstanden und mit ihnen haben sich auch unsere Werte und Normen verändert. All diese Veränderungen haben das Verhalten der Menschen als Einzelne und als Gesellschaft verändert. Wir stehen vor der Aufgabe, mit diesen Veränderungen umzugehen und immer wieder Wege zu finden, die ein Miteinander möglich machen.

Hanno Sauer macht sich auf die Reise durch die Jahrtausende, er zeichnet die Geschichte der Gesellschaft und ihrer kulturellen und moralischen Entwicklung nach, um die aktuelle Krise zu erklären und aus dieser Erklärung heraus Hoffnung für die Zukunft abzuleiten.

Gedanken zum Buch

Moral ist immer eine konventionelle Entscheidung darüber, was zu einer Zeit an einem Ort von der entscheidenden Mehrheit als gut oder böse, als richtig oder falsch gesehen wird. Daraus ergeben sich dann die entsprechenden moralischen Normen, die für das Zusammenleben verbindlich sind. Diese Normen entstehen also nicht im luftleeren Raum, sondern sie fussen auf dem menschlichen Naturell und dessen Handlungmotivationen, auf Werten und Interessen.

«Als kooperativ wird ein Verhalten genau dann bezeichnet, wenn es das unmittelbare Selbstinteresse zugunsten eines grösseren gemeinsamen Vorteils zurückstellt.»

Menschen sind soziale Wesen, die allein und ohne Zugehörigkeit zu einer Gruppe kaum überleben können, zumal sie von Natur ziemlich verletzlich und damit auf Schutz angewiesen sind. Das Zusammenleben in einer und das Überleben einer Gruppe ist auf Kooperation angewiesen. Der Einzelne muss seine eigenen Interessen zugunsten des grossen Ganzen zurückstellen.

«Strafen halfen dabei, uns zu domestizieren, weil wir durch sie wichtige Fähigkeiten wie Selbstkontrolle, Fügsamkeit, Weitsicht und Friedfertigkeit erlernten, die ein Leben in wachsenden Gruppen möglich machten.»

Bei aller Einsicht in die Vorteile von gemeinsamen Normen und kooperativem Verhalten sind nicht immer alle bereit, sich auch daran zu halten, weil sie sich aus von diesen abweichenden Handlungen Profit versprechen. Um den Rest der Gruppe und damit auch das Zusammenleben zu schützen, hat man Sanktionen erfunden, welche das gemeinschaftsgefährdende Verhalten sanktionieren.

«Imperativ der Integration: Moderne Gesellschaften haben sich gefälligst zu bemühen, ererbte Formen sozialer Segregation und Benachteiligung durch aktive Inklusionsmassnahmen endlich zu überwinden.»

Man hört oft von der Krise der Gesellschaft und davon, dass diese gespalten sei. Rassismus, Sexismus und andere -ismen gefährden ein gerechtes Miteinander von verschiedenen und doch gleichwertigen Menschen. Unsere Anstrengung muss dahin gehen, diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen zu überwinden. Die Hoffnung, dass das gelingen kann, besteht.

Fazit
Ein fundiertes, tiefgründiges, kompetentes und dabei doch gut lesbares Buch darüber, wie die Moral in die Gesellschaft kam, wozu sie gut ist, und wohin wir mit ihr gelangen wollen als Gesellschaft. Eine absolute Leseempfehlung für dieses grossartige Buch!

Zum Autor
Hanno Sauer, Jahrgang 1983, ist Philosoph und lehrt Ethik an der Universität Utrecht. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze und mehrerer wissenschaftlicher Werke. Zahlreiche Vorträge in Europa und Nordamerika. Hanno Sauer lebt in Düsseldorf.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 2. Edition (30. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 400 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492071406

Judith Shklar: Liberalismus der Furcht

Inhalt

«Der Liberalismus muss sich auf die Politik beschränken und darauf, Vorschläge zur Verhinderung von Machtmissbrauch zu unterbreiten, um erwachsene Frauen und Männer von Furcht und Vorurteil zu befreien, damit sie ihr Leben ihren eigenen Überzeugungen und Neigungen gemäss führen können, solange sie andere nicht davon abhalten, dasselbe zu tun.»

Wird unter Liberalismus landläufig die Sicherung von Freiheit verstanden, zeichnet Judith Nisse Shklar ein neues Bild, indem sie als Ziel des Liberalismus die Vermeidung von Furcht definiert. Damit strebt er nicht nach dem höchsten Gut, sondern versucht das grösste Übel zu vermeiden.

Über Jahrhunderte lebten Menschen in Angst vor Gräueltaten, Machtmissbrauch, Ausbeutung und Unterwerfung. Diesem Umstand soll der Liberalismus entgegenwirken, indem er ein politisches System sein soll, dass jeden Menschen ungeachtet seiner Anlagen und Fähigkeiten als gleichwertiges Mitglied der Gesellschaft definiert und ihm ein Leben in Freiheit und frei von Furcht ermöglicht. Darüber hinaus kommt dem Staat im Liberalismus keine Aufgabe zu, er beschränkt sich auf die rein politische öffentliche Ebene.

Gedanken zum Buch

«Der Liberalismus hat nur ein einziges übergeordnetes Ziel – diejenigen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung persönlicher Freiheit notwendig sind.

Jeder erwachsene Mensch sollte in der Lage sein, ohne Furcht und Vorurteil so viele Entscheidungen über so viele Aspekte seines Lebens zu fällen, wie es mit der gleichen Freiheit eines jeden anderen erwachsenen Menschen vereinbar ist.»

Furcht lähmt, sie ist ein apolitisches Gefühl, das den Menschen in eine Handlungsunfähigkeit führt. So ist sich Shklar sicher, dass systematische Furcht Freiheit unmöglich macht, weswegen es dem Liberalismus darum gehen muss, diese zu beseitigen. Dabei sind alle Menschen gleich. Damit betont Shklar wie schon Hannah Arendt den Pluralismus der Gesellschaft, welchem Rechnung getragen werden muss: Eine Gesellschaft besteht aus vielen Verschiedenen, die als solche respektiert werden und am öffentlichen Geschehen teilhaben sollen.

«Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt» (Immanuel Kant)

Zentral für Shklars Gedanken des Liberalismus ist zudem, dass er die Freiheit sichern soll für jeden. Allerdings hat die jeweilige Freiheit ihre Grenzen, die sich schon bei Kant finden lassen: Sie endet da, wo sie die Freiheit des anderen beeinträchtigt.

«Wir würden viel weniger Schaden anrichten, wenn wir einander als empfindungsfähige Wesen anzuerkennen lernten, unabhängig davon, was wir sonst noch sind, und wenn wir verständen, dass körperliche Unversehrtheit und Tolerierung keineswegs weniger wert sind als all die Ziele, die wir sonst noch verfolgen.»

Wir müssen lernen, dass wir als Menschen vieles gemeinsam haben, allem voran unsere Verwundbarkeit. Als fühlende Wesen leiden wir, wenn man uns Leid zufügt. Wenn wir fürchten müssen, durch unser Sein und Tun Opfer von Unrecht zu werden, bringt uns das dazu, untätig zu werden, uns zurückziehen, unserer Aufgabe als Mensch in einer Gesellschaft, die in der (politischen) Teilhabe besteht, nicht mehr wahrzunehmen. Davor soll der Liberalismus schützen.

Fazit
Ein schmales Buch mit grossem Inhalt, eine Theorie des Liberalismus, die zu mehr Menschlichkeit durch Wahrung der Pluralität und der Leidvermeidung aufruft.

Zur Autorin und weiteren Mitwirkenden
Judith N. Shklar, 1928 in Riga geboren, lehrte Politikwissenschaften an der Harvard University und starb 1992 in Cambridge, Massachusetts. Die Relevanz ihres Werks findet erst in den letzten Jahren Anerkennung. Ihr Essay Der Liberalismus der Furcht gilt inzwischen als Klassiker der jüngeren politischen Philosophie und als Schlüsseltext der Liberalismustheorie.

Axel Honneth, 1949 in Essen geboren, ist ein deutscher Sozialphilosoph. Seit 2001 ist er Direktor des Instituts für Sozialforschung (IfS) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Er lehrt und forscht seit 2011 als Lehrstuhlinhaber der Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York.

Hannes Bajohr, 1984 in Berlin geboren, ist Übersetzer und Herausgeber der Werke Judith N. Shklars. Er wohnt in New York und Berlin und gehört zum literarischen Experimentalkollektiv oxoa.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Matthes & Seitz Berlin; 3. Edition (1. August 2013)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 174 Seiten
  • Übersetzung‏ : ‎ Hannes Bajohr
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3882219791

Habbo Knoch: Im Namen der Würde. Eine deutsche Geschichte

Inhalt

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Dass sie schutzbedürftig ist, hat der Lauf der Geschichte immer wieder gezeigt, gerade in den grausamsten Kapiteln derselben. Aus denen speist sich auch der Wert der Würde und der Wunsch, sie zu sichern und zu schützen.

«Denn es lässt sich, und das soll dieses Buch zeigen, eigentlich nur sagen, was unter der Würde des Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und Bedingungen verstanden wurde, und damit auch, ob und wie dies mit Kontinuitäten und Diskontinuitäten in Politik, Recht und Gesellschaft einherging.»

Habbo Knoch erzählt die Geschichte der Würde, ihrer Einbettung in die historischen Gegebenheiten der einzelnen Jahrhunderte. Er beleuchtet die gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Veränderungen, welche einen Wandel des Würde-Begriffs mit sich brachten. Was ist Würde, wem steht sie weswegen zu und wie können wir sie schützen?

Gedanken zum Buch

«Kontingent ist Würde dann, wenn sie als moralische oder soziale Auszeichnung und Bewertung zugeschrieben, erworben und verloren werden kann… Anders die inhärente Würde: Sie ist eine unsichtbare Idee, ein Konzept oder eine Eigenschaft.»

Bevor wir über Würde sprechen, müssen wir erst wissen, was Würde überhaupt bedeutet. Da fängt das Problem an, da man vergeblich nach einer eindeutigen, allgemeingültigen Definition sucht. Die verschiedenen Disziplinen des Rechts, der Politik, der Soziologie, Philosophie und mehr haben sich mit ihr befasst und sind zu unterschiedlichen Schlüssen gekommen, je nachdem, woran sie den Begriff festmachten. Grundsätzlich lassen sich zwei Sichtweisen unterscheiden: Der kontingente und der inhärente Würdebegriff. Beim ersten ist die Würde eine konventionell vorgenommene, der Zeit und Kultur angepasste Grösse, beim zweiten ist sie dem Menschen qua seines Menschseins zugeschrieben. Beiden gemein ist, dass sie schutzbedürftig ist, da Machtansprüche sie in Gefahr bringen können.

«Um der Menschenwürde eine fundamentale politische und gesellschaftliche Bedeutung einzuräumen, musste sie sich die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft erst als etwas bewusst machen, das dem Menschen durch systematische Massenverbrechen an Körper und Geist genommen werden kann.»

Der Wert der Würde zeigt sich dann am besten, wenn sie in Gefahr ist oder schon mit Füssen getreten wurde. In Unrechtsregimen wurde oft mit Methoden gearbeitet, welche den Opfern ihre Menschenwürde durch entsprechende Behandlung nahmen, sie so als Personen noch vor dem wirklichen Tod sterben liessen.

«[Im Prinzip der wechselseitigen Anerkennung] spiegelt sich der wachsende Bedarf einer hochgradig diversen Gesellschaft wider, für deren konfliktintensive Verflechtungen gemeinschaftsorientierte Praktiken entworfen werden, um individuelle Spielräume im Zeichen von Respekt und Toleranz auszuhandeln. Die Menschenwürde dient hierbei als eine diskursive Schutznorm, um die Verletzlichkeit des anderen jederzeit bewusst zu machen und die Grenzen der eigenen Selbstentfaltung wie von anderen Machtinstanzen aufzuzeigen.»

Gesellschaften, die nach Gleichheit streben, die sich als gerechte Verbände von Menschen verstehen, die jedem Einzelnen seine Rechte zugesteht, basieren auf dem Konzept der gegenseitigen Anerkennung. Diese ist umso wichtiger, je grösser die Diversität in der entsprechenden Gesellschaft ist. Diese auszuhalten bedarf des gegenseitigen Einfühlungsvermögens, der Bereitschaft, den anderen so zu nehmen, wie er ist, im Wissen, dass sein Wert und seine Würde gleich der eigenen ist. Diese Bereitschaft ist ungleich grösser, wenn man erlebt hat, was es heisst, wenn diese fehlt und die menschliche Grausamkeit sich in ihrer ganzen Schwärze zeigt.

Habbo Knoch reist durch die Jahrhunderte, zeichnet die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Veränderungen nach und zeigt, wie diese auf den Begriff der Würde wirkten aufgrund eines sich verändernden Menschen- und Gesellschaftsbilds. Er tut dies auf eine gut lesbare, kompetente, umfassende Weise, so dass man ihm gerne durch die Jahrhunderte folgt, um dem Konzept der Menschenwürde auf die Spur zu kommen. Ob sie allerdings nach der Lektüre wirklich fassbarer ist als vorher, ist fraglich, aber man hat doch so weit hinter die Kulissen gesehen, um sich ein Bild zu machen und selbst weiterzudenken.

Fazit
Ein fundiertes, kompetentes, umfassendes Buch zum Begriff der Würde, wie er in verschiedenen Zeiten entwickelt und verstanden wurde. Ein mehr zeithistorischer als ideengeschichtlicher Ansatz.

Zum Autor
Habbo Knoch, geboren 1969, studierte Geschichte, Philosophie, Politikwissenschaft und Soziologie in Göttingen, Bielefeld, Jerusalem und Oxford und war ab 2008 Geschäftsführer der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten. Seit 2014 lehrt er Neuere und Neueste Geschichte an der Universität zu Köln. Er interessiert sich besonders für deutsche und europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts und für Fragen der kollektiven Erinnerung.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG; 1. Edition (15. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 480 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3446274167

Grenzen einreissen

«In den Zwischenräumen finden die interessantesten Gespräche statt.» James Bridle

So lange wir in Gegensätzen denken, wird es nie ein Miteinander geben. So lange wir Fronten bauen, gibt es keine Beziehungen. So lange jeder denkt, seine Meinung sei dir richtige, seine Sicht entspräche der einzig möglichen Wahrheit, werden wir nie ein umfassendes Bild erhalten, denn dazu bedürfte es einer Öffnung hin zum anderen. 

Wir müssen die Demut wiederentdecken, mit der wir sehen, dass wir alle verwundbare Wesen sind, welche weit davon entfernt sind, über allem zu stehen. Wir müssen aufhören, die Macht an uns reissen zu wollen, auch die Deutungsmacht ist kein Privatbesitz. Im Wissen, dass wir alle Organismen in einem grösseren Organismus sind, die alle miteinander in Beziehung stehen und dabei jeder den anderen auch stückweise in sich trägt, weil die Grenzen diffus sind, zeigt sich, dass unsere krampfhafte Suche nach Abgrenzung und Ausstossung zu nichts Gutem führen kann, weil sie uns von der Welt, zu der wir gehören und ohne die wir selbst nicht leben können, trennt. 

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Vom Verfasser des Zitats oben, James Bridle, ist ein spannendes Buch erschienen, das ich nur empfehlen kann:

James Bridle: Die unfassbare Vielfalt des Seins.
James Bridle löst darin die Grenzen zwischen Natur und Technik auf und zeigt auf, wie wir alles zusammen denken können und müssen.


Bruno Heidlberger: Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken

Inhalt

«Es geht mir um eine konstruktive Neubewertung einer der einflussreichsten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts und um die Sichtbarmachung der ungebrochenen Aktualität ihrer Themen.»

Was hat uns Hannah Arendt heute noch zu sagen? Wie aktuell sind ihre politischen Theorien, gerade auch im Hinblick auf die Kriegssituation zwischen Russland und der Ukraine?

Bruno Heidlberger liefert eine fundierte Darlegung der Hintergründe der Kriegssituation sowie deren Entstehung, und beleuchtet anhand dieses Beispiels Hannah Arendts Theorien zum Totalitarismus sowie der Freiheit, welche Ziel des gemeinschaftlichen politischen Handelns in einer Demokratie sein soll.

Gedanken zum Buch

«Eine Welt, die Platz für Öffentlichkeit haben soll.»

Politik nach Arendt bedeutet die gemeinsame Gestaltung der Welt, welche nur möglich ist durch Beziehungen und Begegnungen. Damit sich Menschen in ihrer Vielfalt begegnen können, bedarf es öffentlicher Plätze, in denen das gemeinsame Handeln, das politsche Handeln seinen Anfang hat.

«Während für Kant der Wille und der Gebrauch der Vernunft vonnöten sind, um Böses zu verhindern, das Böse eine Option der menschlichen Freiheit ist, betont Arendt die Notwendigkeit des autonomen Denkens, des ‘Denkens ohne Geländert’.»

Sich auf die Vernunft zu berufen ist mitunter eine gute Ausrede, nicht selbst denken zu müssen, sondern sich der gängigen Meinung als aktuell verbindliche Vernunft anzuschliessen. Die Sicht, was vernünftig, gut und richtig ist, wandelt aber mit Zeit und Ort, je nach Kulturkreis und Epoche gelten andere moralische Massstäbe, denen es zu folgen gilt. Erst das eigene Denken, das Denken ohne vorgeschriebene Geländer, bringt den Einzelnen dazu, sich und sein Handeln zu hinterfragen und dafür auch Verantwortung zu übernehmen. Dies ist die wirkliche Freiheit, derer es bedarf, will man dem Guten Vorschub leisten und das Böse nicht selbst befeuern.

«Freiheit als Handeln bleibt für Arendt immer ein riskantes Ereignis, das allein auf der Anerkennung der Pluralität und dem Versprechen und Verzeihen beruht.»

Menschen sind unterschiedlich, aus dieser Pluralität setzt sich die Gesellschaft zusammen, die als Gemeinschaft aufgefasst werden sollte, will man zusammenleben. Dies gelingt nur, wenn diese Pluralität, jeder in seinem Sein, akzeptiert ist und das gegenseitige Versprechen im Raum steht, seinen Teil dazu beizutragen, diese Gemeinschaft zu schützen und zu stützen.

«Freiheit ist jedoch keine Willkür, sondern vielmehr eine kollektive Verantwortung, die wir alle für die Dinge tragen, die in unserem Namen geschehen.»

Dazu ist es wichtig, sich nicht nur als einzelnes Individuum zu sehen, sondern als Kollektiv, als Zusammenschluss verschiedener Einzelner, die gemeinsam entscheiden in demokratischer Absicht, um dann die Verantwortung dafür zu übernehmen, was durch dieses und in diesem Kollektiv geschieht.

«Die dunkelste Zeit ist für Hannah Arendt die des Totalitarismus. In ihm ist der Raum für politisches Handeln zerstört.»

Das ist in totalitären Systemen nicht mehr möglich, weil es da um die Gleichschaltung der Einzelnen geht, bei welcher eigenes Denken und Vielfalt nicht mehr gefragt, sondern im Gegenteil verurteilt, ausgegrenzt und oft mit harten Mitteln bestraft wird.

Fazit
Ein fundiertes und aufschlussreiches Buch über die aktuelle Situation zwischen Russland und der Ukraine (wie auch die Vorgeschichte des Krieges) sowie die Anwendbarkeit von Hannah Arendts Gedanken zu einer funktionierenden Politik verstanden als gemeinsames Handeln zwischen Verschiedenen und doch Gleichen als Kollektiv zur Schaffung einer gemeinsamen Welt.

Angaben zum Autor
Bruno Heidlberger (Dr. phil.), geb. 1951, ist Studienrat für Politik und Philosophie. Er ist Lehrbeauftragter an der Humboldt-Universität zu Berlin, an der Medizinischen Hochschule Brandenburg und an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Politische Philosophie, Philosophie der Aufklärung, Kulturphilosophie, kritischer Rationalismus, Wissenschaftstheorie und kritische Theorie der Gesellschaft.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ transcript; 1. Edition (28. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 282 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3837666588

Claire Marin: An seinem Platz sein. Wie wir unser Leben und unseren Körper bewohnen

Inhalt

«Bei der Suche nach dem richtigen Platz geht es um die Frage nach unserer Einzigartigkeit, aber auch darum, wie wir uns in eine Gesellschaft, eine Familie oder Gruppe einfügen, der wir angehören oder gern angehören würden.»

Wer bin ich und wo gehöre ich hin? Diese Frage stellt sich dem Individuum und sie lässt sich nicht so leicht beantworten. Es ist eine Frage nach dem Ort und der Zugehörigkeit im Leben und im Sein, es ist die Frage, welches der Platz ist, den man in diesem Leben, in dieser Gesellschaft innehat. Was prägt den Platz und wie prägt er den Einzelnen? Was passiert, wenn der Platz nicht mehr verfügbar ist und was, wenn er uns in eine Rolle zwängt, die uns nicht entspricht? Diesen und weiteren Fragen nach dem Platz des Einzelnen in der Welt, in der Gesellschaft, in der Familie und im eigenen Sein geht Claire Marin in diesem Buch nach.

Gedanken zum Buch

«Man stellt sich seinen Platz wie eine sichere Bank vor, und er entspricht ja zweifelsohne einem gewissen Bedürfnis nach Ordnung, nach genauer Bestimmung und Abgrenzung.»

Wir werden an einen Ort geboren, wachsen in einem Milieu auf und nehmen die da herrschenden Strukturen. Innerhalb dieser äusseren Welt leben wir in Familien mit eigenen Gepflogenheiten, die in Räumen stattfinden, die wir als Zuhause empfinden.

«Unsere Zugehörigkeit zu einem Ort, einem Milieu, prägt und schreibt sich bekanntlich körperlich wie emotional in uns ein. Sie strukturiert auch grundlegend unsere affektiven Schemata.»

All das prägt uns in unserem Sein und Werden. Wir haben es nicht ausgesucht, doch wir werden es kaum mehr los. Selbst wenn wir einen bewussten Bruch provozieren, wenn wir das Umfeld, gar die Klasse wechseln, hängen die Anteile der Herkunft in uns fest (Pierre Bourdieu stützte darauf seine Theorie des Habitus ab), sie wirken in uns weiter und suchen oft unbewusst ihren Weg durch die Oberfläche in neue Umgebungen hinein, wo sie nicht mehr passen. Misstöne kommen auf, das Gefühl, zwischen den Welten zu sitzen, nirgends dazuzugehören, macht sich breit.

«Manchmal haben wir das Gefühl, dass wir in unserem Alltag wie in einer Falle festsitzen, aus der wir nicht mehr herauskommen, ohne einen Teil von uns zu opfern, ohne Schaden und Verlust in Kauf zu nehmen.»

Manchmal flüchten wir auch in neue Welten, die sich nach und nach als nicht passend erweisen. Und doch haben wir uns in ihnen eingerichtet, die darin uns entsprechenden Rollen übernommen, die fortan unser Leben ausmachen. Was, wenn das Leiden am Unpassenden überhandnimmt? Was, wenn die Sehnsucht nach der Herkunft grösser wird, bis sie kaum ertragbar scheint? Was ist der Preis dafür, erneut auszubrechen, zurückzugehen? Und gibt es ein Zurück überhaupt? Günther Anders schrieb in seinen Tagebüchern, es gäbe keine Rückkehr, denn dies sei nur eine erneute Erfahrung des Verlustes, weil das, was verlassen wurde, nicht mehr existiert – wie auch der Zurückkehrende nicht mehr der ist, der ging.

«Er [der Emigrant] ist jeglicher Orientierung und Verankerung beraubt. Er befindet sich ausserhalb von Boden, Sprache, Zeit.»

Nicht immer ist das Gehen freiwillig, manchmal werden Menschen aus dem, was sie Heimat nannten, vertrieben. Man nimmt ihnen damit nicht nur die vertraute Umgebung, man nimmt ihnen auch alles, was den Boden ihrer Identität ausmacht. Was erschwerend dazukommt, ist, dass mit der Vergangenheit und der Gegenwart auch die Zukunft gestohlen wird, die man sich in dieser Heimat erhofft hatte. Man steht vor der Leere des Seins ohne Grund und Boden, ohne Rückhalt und Zugehörigkeit.

Claire Marin schafft es, in immer wieder neuen Denkräumen den Platz des Menschen in der Welt zu umkreisen, zu entdecken, zu verorten und wieder zu öffnen, um neue denkbare Plätze zu entdecken. Sie beleuchtet dabei all die verschiedenen Facetten, die das Konstrukt «Platz» ausmachen, nimmt die soziale, lokale und zeitliche Dimension ins Visier und leuchtet sie aus.

Fazit
Ein grossartiges Buch, das dazu anregt, das eigene Sein in Raum und Zeit zu bedenken und weiterzudenken.

Zur Autorin
Claire Marin, geb. 1974, lehrt Philosophie in Frankreich und feiert seit einigen Jahren mit ihren philosophischen Essays große Erfolge. Ihre Bücher »Hors de moi« (2008) und »Rupture(s)« (2019) wurden mehrfach ausgezeichnet.

Übersetzung: Ute Kruse-Ebeling

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag; Deutsche Erstausgabe Edition (19. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Broschiert ‏ : ‎ 197 Seiten
  • Übersetzung‏ : ‎ Ute Kruse-Ebeling
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3150114384

Eva von Redecker: Bleibefreiheit

Inhalt

«Unser gängiger Freiheitsbegriff ist untauglich für das Anthropozän.»

Was, wenn Freiheit nicht mehr als Bewegungsfreiheit räumlich, sondern als örtliches Bleiben zeitlich gedacht würde? Wie muss diese Zeit gefasst und gefüllt, wie erfüllt sein, damit sie die Freiheit erlebbar macht, sie überhaupt gewährt? Was, wenn wir das Leben nicht mehr vom Tod her denken, sondern von der Geburt? Wenn in jeder Geburt ein neuer Anfang und damit eine Freiheit des sich neu Erschaffens läge? Wenn wir immer wieder neu geboren und damit frei in der eigenen Gestaltung wären? Das sind die Fragen, denen Eva von Redecker in diesem Buch nachgeht.

Gedanken zum Buch

«So wie Bleibefreiheit das Abzugsrecht voraussetzt, ist Bewegungsfreiheit auch nur Freiheit, wo das Bleiben möglich wäre.»

In einer Zeit, in der die Menschen dazu aufgerufen sind, das von ihnen verursachte Übel auf der Welt wieder in den Griff zu kriegen, in einer Zeit, in welcher die Natur an ihre Grenzen stösst und der Mensch die massgebliche Ursache dafür ist, muss Freiheit umgedacht werden. Freiheit kann nicht mehr bedeuten, alles tun und wohin man will gehen zu können, sondern dafür zu sorgen, dass ein Bleiben möglich bleibt.

«Bleiben-Können ist weitaus voraussetzungsreicher. Es erfordert die Wahrung der bewohnbaren Welt.»

Was, wenn langsam die Arten sterben, das Klima sich in einer Weise entwickelt, die dem menschlichen Leben nicht mehr entspricht? Was passiert, wenn die Schwalben nicht mehr kommen und die Gezeiten sich langsam verabschieden, die doch das Leben ausmachen? Diese und andere Fragen nimmt Eva von Redecker zum Ausgangspunkt ihrers Essays über die Bleibefreiheit, die eine Freiheit ist, die sich in der Zeit zeigt, nicht im Ort. Sie beleuchtet, wieso wir nicht den Mars bewohnen wollen sondern die Erde bewahren sollen. Sie zeigt auf, was das ökologisch bedeutet, indem sie auf die Lebenskreisläufe des Ökosystems verweist.

«Wir können unsere Zeit mit anderem Lebendigem teilen, ohne sie zu verlieren… Bleibefreiheit wächst mit der Fülle der Gezeiten. In einer Zeit der Fülle haben wir grössere Freiheit.»

Aus der Fülle können wir schöpfen, quasi aus dem Vollen. Virginia Woolf sagte, sie wolle das Leben immer voller machen. Voll ist das Leben, wenn es erfüllt ist, voll mit dem, in was wir aufgehen, uns vergessen, uns leicht fühlen. Indem wir in diesem Erfüllt-Sein sind, haben wir nicht das Gefühl, etwas zu verpassen, wir vermissen nichts und damit keine Freiheit, etwas anderes tun oder woanders sein zu wollen. In dem Moment an dem Ort sind wir frei. Doch können wir nur dableiben, wenn wir die Erde so behandeln, dass sie uns diese Bleibefreiheit gewährt. Das ist die Aufgabe des Menschen im Anthropozän, er ist der Schöpfer seiner Freiheit in der Zeit, seiner Bleibefreiheit.

Das Buch weist keine stringente Argumentationskette auf. Es ist mehr eine Aneinanderreihung von Gedanken, die sich oft aus persönlichen Begegnungen und Erfahrungen speisen. Es ist ein Sammelsurium an Gedankengängen und Ausflügen, denen keine klare Handlungsanleitung oder konkrete praktische Relevanz folgt, auch eine klare Antwort sucht man vergebens. Es ist mehr ein Mitnehmen auf eine Gedankenreise, ein Eintauchen in eine neue Form des Denkens von Freiheit, und damit ist es sehr inspirierend.

Fazit
Ein Buch, das dazu anregt, die ausgetretenen Pfade unseres Freiheitsdenkens zu verlassen und mit Blick auf die aktuelle Wirklichkeit unserer Zeit eine neue Art der Freiheit zu denken – eine in der Zeit.

Zur Autorin
Eva von Redecker, geboren 1982, ist Philosophin und freie Autorin. Von 2009 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität und als Gastwissenschaftlerin an der Cambridge University sowie der New School for Social Research in New York tätig. 2020/2021 hatte sie ein Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiatium an der Universität von Verona inne, wo sie zur Geschichte des Eigentums forschte. Eva von Redecker beschäftigt sich mit Kritischer Theorie, Feminismus und Kapitalismuskritik, schreibt Beiträge für u.a. »Die ZEIT« und ist regelmäßig in Rundfunk- und TV-Interviews zu hören. Seit Herbst 2022 richtet sie am Schauspiel Köln die philosophische Gesprächsreihe »Eva and the Apple« aus. Bei S. FISCHER erschien zuletzt ihr Buch »Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen« (2020) sowie ein Vorwort zur Jubiläumsausgabe der »Dialektik der Aufklärung«. Aufgewachsen auf einem Biohof, lebt sie heute im ländlichen Brandenburg.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ S. FISCHER; 1. Edition (24. Mai 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 160 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3103974997

Sophie Schönberger: Zumutung Demokratie

Ein Essay

Inhalt

«Die ‘Herrschaft des Volkes’ setzt voraus, dass sich so etwas wie ein ‘Volk’ im Sinne einer demokratischen Gemeinschaft erst einmal konstituiert und als Kollektiv begreift.»

Eine Demokratie braucht, um wirklich gelebt zu sein, Gemeinschaft. Diese bedarf der Bereitschaft des Einzelnen, sich mit anderen zu verbinden und diese zu bilden. Es geht darum, den anderen als Verschiedenen und doch Gleichen zu akzeptieren und durch eine offene Kommunikation einen Gemeinsinn herauszubilden, der für alle verbindlich ist, auch wenn nicht alle derselben Meinung sind.

Diese Bereitschaft fehlt in der letzten Zeit, die Konfliktfähigkeit hat abgenommen und die Akzeptanz für andere Meinungen schwindet. Wie kam es dazu, dass das Vertrauen in den Staat mehr und mehr schwindet, und was können wir dagegen tun? Wie stark darf der Staat eingreifen in die Kommunikationsmöglichkeiten und -inhalte der Bürger, wo ist die Grenze der Freiheit des Einzelnen im Hinblick auf ein funktionierendes Miteinander?

Diesen und anderen Fragen geht der vorliegende Essay nach.  

Gedanken zum Buch

«Die Hölle sind die Anderen.»

Das wusste schon Sartre und es hat sich bis heute nicht geändert, im Gegenteil. Die anderen, die man nicht versteht, führen dazu, dass es eine Zumutung darstellt, mit ihnen zusammen zu leben. Dieses Nicht-Verständnis führt zu Abgrenzungen, zu Ausgrenzungen, zu Blasenbildungen und Meinungspolaritäten. Dies wird umso mehr verstärkt durch die aktuelle Zeit, in welcher persönliche Begegnungen immer mehr den digitalen weichen.

„Demokratie braucht Gemeinschaft.“

Um da Abhilfe zu schaffen, bedarf es der persönlichen Begegnung. In sozialen (Kommunikations-)Räumen, die den Anderen erfahrbar und dadurch vertrauter machen, entsteht ein besseres Gefühl für die Pluralität und doch Gleichheit der verschiedenen Mitglieder der Demokratie. Aus diesem Verständnis heraus kann sich die Gemeinschaft bilden und entwickelt einen Sinn für gemeinsame Interessen und Ziele für das Zusammenleben.

„Denn die elementaren Mindeststandards des Miteinanderredens, die das Strafrecht vorgibt, müssen auch in Zeiten des Medienwandels effektiv durchgesetzt werden, damit die Kommunikation in der demokratischen Gemeinschaft funktionieren kann. Diese Aufgabe muss der Staat auch als Mittel der Demokratiesicherung selbst wahrnehmen.“

Der Staat hat sich zu lange zurückgehalten bei der Einmischung in die kommunikativen Möglichkeiten und Auswüchse der digitalen Medien. Dadurch ist eine Kommunikationskultur entstanden, in welcher Blasenbildung, Meinungsmanipulation und Aggression sich ausbreiten konnte. Die notwendige Verantwortung für Eingriffe in diese den demokratischen Prozess gefährdenden Auswüchse überliess der Staat bislang zu stark privaten Akteuren. Die Sicherung der Demokratie verlangt aber eine staatliche Regulierung durch klare und rechtlich verbindliche Vorschriften, denn sie sind auch das demokratische Mittel und damit die Sicherung der Demokratiesicherung.

Fazit
Ein wichtiges Buch darüber, was Demokratie bedeutet, woran es heute mangelt und was man dagegen unternehmen kann. Ein Aufruf für mehr Akzeptanz, demokratieförderliche Kommunikation und wirkliche Begegnung.

Angaben zur Autorin
Sophie Schönberger ist Professorin für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Ko-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ C.H.Beck; 1. Edition (16. Februar 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 189 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3406800085