Ich bin in meinem Leben oft umgezogen. Wenn ich sagen müsste, woher ich komme, was meine Heimat ist, wäre es schwer. Klar kann ich aufzählen, wo ich geboren wurde, wo ich aufwuchs – aber ist das heute noch zu Hause, nachdem ich über die Hälfte meines Lebens weg bin und auch damals keinen wirklichen Bezug zu der Stadt hatte? Oder ist Zuhause der Ort, den ich mir selber aussuchte, um da zu leben, und den ich am besten kenne von allen Städten, in denen ich mal gelebt habe? Oder ist Zuhause der Ort, an dem ich nun lebe und wo ich mich wohl fühle?
Ich beneide manchmal Menschen, die an einem Ort aufwuchsen, Freunde fanden, blieben. Mit festen Wurzeln im Boden und im Leben. Sie scheinen in einer Welt zuhause zu sein, die sie antrafen und in die sie hineinwuchsen. Das hatte ich nie. Was bei mir immer das gleiche blieb, war das Land. Und: Alle meine Ortswechsel waren freiwillig, sie waren meine eigene Wahl. Wie muss es Menschen gehen, die nicht mehr bleiben können, weil Bleiben den Tod bedeuten könnte? Wie muss es Menschen gehen, die ein Zuhause haben, es aber nicht behalten dürfen? Nicht nur sind sie zur Flucht gezwungen, am neuen Ort kann es ihnen passieren, dass sie verachtet werden, dass man sie nicht haben will, dass man sie als Schmarotzer sieht, gar hasst.
In dem Zusammenhang fällt mir immer Mascha Kalekos Gedicht ein:
Der Eremit
Sie warfen nach ihm mit Steinen.
Er lächelte mitten im Schmerz.
Er wollte nur sein, nicht scheinen.
Es sah ihm keiner ins Herz.Es hörte ihn keiner weinen,
Er zog in die Wüste hinaus.
Sie warfen nach ihm mit Steinen.
Er baute aus ihnen sein Haus.*
Der Eremit traf auf eine Welt, die ihn nicht haben wollte. Er wählte das Exil in der Wüste und machte da das Beste aus seiner Situation. Das klingt positiv und nach einer guten Lösung, nur: Ist es das, was wir uns wünschen? Wäre eine Welt, in der wir uns zuhause fühlen dürften, weil wir angenommen werden, nicht schöner? Für alle schlussendlich? Es ist Zeit, uns damit auseinanderzusetzen…
*Zit. nach „In meinen Träumen läutet es Sturm“ © 1977 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München (https://www.dtv.de/search/result?search=kaleko)
Vielen Dank für diesen schönen Denkanstoss.
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Sie, meine Mutter
eine wunderschöne Frau
– in meinem ersten –
dem Bewusstsein
der Erinnerung
nach
dem Erwachen
erdrosselte
meine Mutter
im Keller
einer nahen Schule
meinen Bruder
im – Traum –
ich bin Zeit
in meiner kurzen Zeit
alt geworden
nicht besser
als alle anderen
in mir
in der Welt
nicht sesshaft geworden
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Danke!
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nicht „uns auseinandersetzen“, sondern „uns zusammensetzen“
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