Wieso ich Hannah Arendt liebe?

„Nicht der Mensch bewohnt diesen Planeten, sondern Menschen. Die Mehrzahl ist das Gesetz der Erde.“

«Denken ohne Geländer» wollte sie und das erwartete sie auch von anderen. Sie hielt nichts von Gehorsam, da dieser das eigene Denken ausschalte und die Unterordnung unter von anderen definierte Systeme bedeute. Die Welt und die Gemeinschaft gibt es nicht einfach, wir sind es, die sie gestalten, indem wir uns miteinander austauschen. Dazu bedarf es des offenen Dialogs, der Bereitschaft, sich auf den anderen einzulassen. Nur dann sind wir frei, wenn wir diese Möglichkeiten der Mitgestaltung wahrnehmen. Freiheit des Denkens und Handelns waren Kernthemen bei Hannah Arendt, ebenso Macht, Gewalt, Wahrheit, Politik und wichtig: Pluralität. 

„Politik (…) ist etwas, was für menschliches Leben eine unabweisbare Notwendigkeit ist, und zwar sowohl für das Leben des Einzelnen wie das der Gesellschaft.“

Wir bewohnen diese Welt als Gleiche und doch Verschiedene. Im Wissen um das Verbindende gilt es, die Vielheit, die Verschiedenheit anzunehmen und zu versuchen, die Welt nicht nur nach eigenen Massstäben und mit eigenen Augen zu sehen, sondern auch durch die Sicht der anderen. Wir müssen unsere Erfahrungen in den Diskurs um eine künftige Welt einbringen und die Erfahrungen der anderen anhören, weil sie auch Möglichkeiten des Erfahrens in dieser Welt darstellen. Aus all diesen Erfahrungserkenntnissen können wir gemeinsam eine Welt schaffen, in der wir als die leben können, als die wir leben wollen, auf die Weise, wie wir es wollen. 

Wo die Möglichkeiten der Pluralität eingeschränkt werden, kommt es zu Ausgrenzungen, die zu einem Gefühl der Verlassenheit und schliesslich zur Entfremdung führen. Nur das «Mit-Sein» hilft, dem zu entgehen, weil dieses alle miteinbezieht. Wir haben jeden Tag die Chance, uns in diese Richtung zu entwickeln. Jede Geburt ist ein neuer Anfang in einer bestehenden Welt, sie bringt neue Impulse in diese, wenn neue Gedanken entstehen dürfen und gehört werden. 

„Man könnte wohl sagen, dass die lebendige Menschlichkeit eines Menschen in dem Maße abnimmt, in dem er auf das Denken verzichtet.“

Dies in Kürze, wieso ich diese Frau hochhalte, wieso ich denke, sie hat uns auch heute noch viel zu sagen und wir sollten mit ihr denken, für uns denken, miteinander denken. 

Keine Demokratie ohne Dialog

Unsere Gesellschaft ist gespalten. Das hört man in der heutigen Zeit häufig und meistens werden als Grund dafür Corona und die deswegen vom Staat verhängten Massnahmen ins Feld geführt. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses die Gründe für die Spaltung sind oder aber sie dieselbe, schon dagewesene, deutlich machten. Neu, davon bin ich überzeugt, ist diese Spaltung nicht, denn Spaltungen gab es immer, sowohl strukturell (arm-reich, das Patriarchat mit der Unterdrückung der Frau, etc.) wie auch in den Gesinnungen der Mitglieder der Gesellschaft. Sie teilen diese immer in zwei Lager: Dafür und dagegen.

Ich bin schon lange der Meinung, dass unser Verhalten einer Demokratie nicht würdig ist, dass wir mit unserer Art des Zusammenlebens die Demokratie gefährden und ad absurdum führen. Wenn man sich anschaut, was Demokratie bedeutet, ergibt sich folgende kurze Definition:

„Als demokratisch im weitesten Sinne bezeichnet man daher heute Machtverhältnisse, in denen Staatstätigkeiten (…) vom Volk durch die Wahl von Vertretern (Repräsentanten) und Vertreterkörperschaften ausgeübt wird, die auf mannigfache Weise (…) zustande kommen und verschieden zusammengesetzt sind. […] Demokratisch nennt man ferner innere Meinungsbildungsprozesse und Beschlussverfahren in Organisationen und Verbänden, zu welchen (analog zur demokratischen Staats- und Gemeindeverfassung) alle Mitglieder chancengleich Zugang haben und in denen sie gleichberechtigt mitwirken können.“ (Wörterbuch der philosophischen Begriffe)

Nun gibt es verschiedene Formen der Demokratie, welche ich hier nicht weiter behandeln möchte. Relevant für mein Thema hier ist nur noch, dass in einer Demokratie freie Menschen frei wählen können und bei solchen Wahlen das sogenannte Mehrheitsprinzip zum Tragen kommt. Das heisst: Bei demokratischen Entscheidungen gilt, was von der Mehrheit der Wählenden (verfassungskonform) bestimmt wird. Dass dies nicht immer befriedigend ist für die Minderheit, die den Entscheid mittragen muss, liegt auf der Hand. Was aber wäre die Alternative? In meinen Augen keine, welche die Vorzüge einer Demokratie behält und etwaige Problematiken beseitigen könnte.

«Die Majorität hat viele Herzen, aber ein Herz hat sie nicht.» Otto von Bismarck

Zentral für eine funktionierende Demokratie ist in meinen Augen ein funktionierender Austausch zwischen denen, welche die Entscheidungsgewalt haben. Nur so kann es gelingen, eine Lösung für Probleme zu erhalten, welche für die grösstmögliche Mehrheit stimmt und für die kleinstmögliche Minderheit trotz allem tragbar ist.

«Demokratie ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen.» Benjamin Franklin

Im Wissen darum, dass die überstimmte Minderheit die gefällten Entscheidungen mittragen muss, und in Anbetracht dessen, dass wir auch teilweise über Dinge entscheiden, die gerade die Minderheiten betreffen, ist es wichtig bei solchen Entscheidungen, dass die Minderheiten mit ihren Anliegen mitbedacht werden.

„Man ist gewöhnlich immer desto weniger republikanisch gesinnt, je höher der Rang ist, den man in der Welt bekleidet.» Georg Christoph Lichtenberg

Das Wissen um und das Ausnutzen der eigenen Übermacht ohne Rücksicht und Solidarität sind einer (als sozial verstandenen) Demokratie nicht angemessen. Da fangen die Probleme an, daran krankt in der heutigen Zeit die Demokratie:

Die Fronten sind verhärtet. Es scheint, als ob Menschen nicht mehr an einem Diskurs interessiert sind, als ob Dialektik ein vergessenes Gut und stures Beharren auf der je eigenen Sicht das einzige Anliegen ist. Andere Meinungen werden nicht mehr gehört, sie werden mit eigenen Argumenten in Grund und Boden gestampft. Nützt das nichts, wird der Anders-Denkende als Idiot bezeichnet und bevorzugt zum Schweigen gebracht – in den Sozialen Medien dadurch, dass man ihn ignoriert oder blockiert.

Ausgehend von meiner Hypothese, dass ohne Austausch keine (gelebte und gelingende) Demokratie möglich ist, bedeutet dies den Tod derselben. Wir müssen aber nicht mal in die Politik gehen, obwohl die Staatsform natürlich eine Sicherung der persönlichen Interessen einer Gesellschaft ausdrücken soll (im Idealfall) und damit natürlich relevant ist für den einzelnen Menschen. Schon die Gesellschaft ist eine grosse Gruppe, die oft zu abstrakt klingt. Wir leben darin, aber was ist sie konkret? Schauen wir uns also das Problem im kleineren Rahmen an: Wie gehen wir mit Menschen um, die anders denken? Hören wir uns an, was sie zu sagen haben, wie sie zu ihrer Meinung kommen? Können wir ihre Meinung auch einmal stehen lassen und akzeptieren, dass wir in gewissen Punkten nicht einer Meinung sind? Oder stimmt für uns ein Miteinander nur, wenn einer den anderen überzeugt hat (bevorzugt wir den Anderen)? Die Vehemenz, mit welcher heute Diskussionen ausgefochten (die Kriegsmetaphorik ist bewusst gewählt) werden, besorgt mich.

«Die Demokratie ist die edelste Form, in der eine Nation zugrundegehen kann.» Heimito von Doderer

Was mich ebenso besorgt, ist, dass in solchen Diskussionen nicht nur nicht genau hingehört wird, sondern die Gegenargumente oft auch aus dem Zusammenhang gerissen, falsch wiedergegeben werden und der sie Äussernde durch solche Fehlzuschreibungen verunglimpft wird. Es ist gut und wichtig, eine Meinung zu haben, und eine Meinung muss auch vertreten werden, schliesslich steckt eine Überzeugung dahinter. Was ich aber vermisse, ist die Einsicht, dass wohl keiner allein in jedem Fall immer die ganze Wahrheit sieht oder alles wissen kann. Wer glaubt, Wahrheit erkenne man nur von einem (dem eigenen) Standpunkt heraus, muss auch glauben, dass die Erde eine Scheibe ist – oder hat er die Krümmung gesehen von da, wo er steht? Hinzuhören, wie man etwas auch noch anders sehen kann, oder wie es von einer anderen Warte aus gesehen wird, kann helfen, den eigenen Blick zu weiten. Das kann dazu führen, dass man merkt, dass die eigene Sicht richtig war, weil man im Gedanken des Anderen einen Denkfehler findet, es kann dazu führen, die eigene Sicht zu revidieren oder anzupassen, weil man merkt, dass man etwas nicht bedacht hat, oder es kann zu einer gemeinsamen neuen Meinung führen, welche mehr ist als nur die Summe ihrer Teile, sondern ein ganzheitlicherer Blick auf eine Welt, die so komplex ist, dass einer allein sie kaum je wird erfassen können.

Wenn wir das nun auf die Demokratie anwenden und darauf, wie Menschen, die diese gestalten sollen, agieren müssten, komme ich zu dem Schluss: Es wird uns nur gemeinsam gelingen, die Welt so zu schaffen, dass sie für all die, welche sie bewohnen müssen, eine gute Welt ist, in welcher jeder sich nach seinen Fähigkeiten als Gleichberechtigter entwickeln kann und die Chance hat, zu partizipieren. Dazu bedarf es eines offenen Dialogs unter als gleichwertig Anerkannten, die man als mit sich verbunden sieht, weil sie wie man selber auch, in eine Welt geworfen wurden, die sie sich nicht ausgesucht haben, in welcher sie nun aber ein gelingendes Leben leben möchten.

Philosophie fürs Leben

„Was nutzt das ganze Philosophiestudium, wenn für Sie nichts dabei herauskommt als die Fähigkeit, halbwegs überzeugend über irgendeine abstruse Frage der Logik etc. zu reden, und wenn es Ihre Denkweise über die wichtigen Fragen des Alltags nicht verbessert […]» Ludwig Wittgenstein

Diese Frage habe ich mir auch oft gestellt, wenn ich Sätze las, die nach dreimaligem Lesen unverständlich blieben, sich nach fünfmaligem als Nichtssagend herausstellten, die aber dabei unglaublich gebildet klangen. Es kam mir oft so vor, als wollten sich da Menschen mit Gelehrtheit brillieren, indem sie sich so ausdrücken, dass keiner es versteht und alle denken, wie klug der doch sein müsse, sich so unverständlich auszudrücken, weil man davon ausging, dass er verstanden hat, was er sagte. 

Philosophie war ursprünglich als ein Weg gedacht, das Leben lebenswerter zu machen, dem Lebenden Mittel an die Hand zu geben, mit denen er sein Leben von unnötigem Leid befreien kann. Dieser Gedanke zieht sich in der Antike durch alle Philosophien und irgendwann scheinen wir ihn im Laufe der Zeit verloren zu haben. Gerade in schwierigen Zeiten finde ich es wichtig, sich wieder daran zu erinnern und die Philosophie zurück ins Leben zu holen. Denn: Was nützt alle Weisheit und alles Gebildetsein, wenn sie nicht dem Leben dient? Sonst werden wir zu blossen Gefässen für Inhalte, statt zu lebensklugen Akteuren in unserem eigenen Leben. 

Tagesgedanken: Umgang mit Kränkungen

Wie reagierst du, wenn dich jemand beleidigt? Was fühlst du, wenn du dich gekränkt fühlst? Was sind deine Reaktionsmuster auf Kränkungen? Oft neigen wir dazu, beleidigt zu reagieren, wenn und jemand ungerecht behandelt, beleidigt oder sonst kränkt. Wir nehmen dem anderen sein Verhalten übel und fühlen uns zurückgesetzt. In uns werden Sätze laut wie «mit mir nicht» und «was bildet der sich eigentlich ein?». Zorn breitet sich aus, Wut brodelt, der Gedanke, sich zu wehren, kommt auf – schliesslich kann man ja nicht alles auf sich sitzen lassen.

„Wenn du deinen Hass und deinen Zorn schürst, verbrennst du dich selbst.“ Thich Nhat Hanh

Was mache ich damit eigentlich? Dem anderen ist unter Umständen nicht mal bewusst, dass er mich gekränkt hat. Er hat seine Ziele verfolgt, etwas gesagt, das bei anderen nichts ausgelöst hätte, bei mir aber eine ganze Wellte ausgelöst hat. Indem ich nun hadere und zürne, meinen Zorn entfache, stosse ich den Stachel der Beleidigung immer tiefer in mich selbst, während der andere unter Umständen nichts davon weiss und friedlich weiterlebt.

«Sei dir dessen bewusst, dass nicht derjenige dich verletzt, der dich beschimpft oder schlägt; es ist vielmehr deine Meinung, dass diese Leute dich verletzten.» (Epiktet)

Das Unrecht ist passiert, ich kann es nicht ändern. Ich kann aber meine Haltung dazu ändern und akzeptieren, dass es passiert ist, wie so vieles anderes auch passiert. Ich kann mich darin üben, es auch wieder aus den Gedanken loszulassen, statt es ständig weiter zu tragen und damit meine Wut zu schüren.

Und: Wenn ich doch etwas daran ändern kann, sollte ich es besser sachlich und in angemessenem Stil tun, nicht im Affekt aus einer Wut heraus. Wut ist nicht nur schlecht, sie kann auch Positives bewirken, indem sie Energien freisetzt. Allerdings sollte sie nicht immer tiefer gehen, sondern erkannt und dann auch wieder losgelassen. Dadurch stellt sich die eigene Seelenruhe wieder ein, das höchste Ziel der Stoiker.

«Wer das Elend bereits erwartet, beraubt es seiner gegenwärtigen Macht.» (Seneca)

Man kann aber schon vor der effektiven Kränkung etwas tun, um im Umgang mit negativen Gefühlen gelassener zu werden: Im Buddhismus gibt es die Sicht auf das Leben, die besagt, dass Leben immer auch Leiden bedeutet. Diese Sicht vertreten auch die Stoiker. Seneca ging so weit zu sagen, dass man sich jeden Morgen, bevor man das Haus verlässt, sagen soll, dass man bestimmt drei üble Menschen treffen wird heute, aber auch 15, mit denen sich ein schöner Austausch einstellt. Diese Form von negativer Visualisierung kann helfen, den Tag gelassener anzugehen, weil man nicht mit Idealvorstellungen loszieht, sondern den Dingen gelassen ihren Lauf lässt.

«Verlange nicht, dass alles so geschieht, wie du es wünschest, sondern wolle, dass alles so geschieht, wie es geschieht, und es wird dir gut gehen.» (Epiktet)

Lebenskunst: Nicht anhaften

Früher hatte ich immer mal wieder den Wunsch, auszuwandern. Ich bin generell oft umgezogen, zwar aus Gründen, und doch auch mit einer Neugier auf etwas Neues, die mich beflügelte. Ein Leben in einem neuen Land stellte ich mir spannend vor. Dass ich es nie machte (zweimal kurz davor war), schob ich auf meine Ängstlichkeit ich schimpfte fast ein wenig mit mir.

Mein Leben hat sich so entwickelt, dass ich oft und lange in Spanien lebe und arbeite. Ein grossartiges Land, wunderschön, das Wetter angenehm für eine Frostbeule wie mich. Schon bald dachte ich: Ich möchte immer hier sein. Das war leider nicht möglich. Über die Jahre merkte ich, dass das Sehnen nach Hause immer grösser wurde, wenn ich in Spanien war. Was ist aus meinem Traum geworden?

«Einsicht verschafft das Gute, erhält es, mehrt es und macht rechten Gebrauch davon.» Plutarch

Manchmal sind Träume ausgeträumt. Ziele, die man vor sich sah und unbedingt erreichen wollte, fühlen sich nicht mehr stimmig an. Oft rennen wir trotzdem weiter in die Richtung, ignorieren das kleine Bauchrumpeln und die unguten Gefühle. Nur: Irgendwann werden die Stimmen lauter, sie lassen sich nicht mehr zur Seite schieben. Und man fragt sich: Was mache ich da eigentlich? In diesem Fall hilft nur eines: Hinschauen. Mit sich in den Dialog treten und ergründen: Will ich das wirklich so haben? Stimmt das noch für mich?

Es ist nicht leicht, einen Traum loszulassen. Wann ist der richtige Zeitpunkt, der Kairos, wie die Griechen sagten? Loslassen ist ein schwieriges Thema, ist es doch ein Abschied von etwas, das man im Leben hatte, das wichtig und lieb war. Dabei entsteht eine Lücke. Womit werde ich sie füllen?

«Ein angenehmes und heiteres Leben kommt nicht von äusseren Dingen: Der Mensch bringt aus seinem Inneren wie aus einer Quelle Lust und Freude in sein Leben.» Plutarch

Die alten Philosophen rieten, sich nicht an äussere Dinge zu heften, sondern das Glück im Innern zu suchen. Frieden und Glück stellen sich nur ein, wenn ich in meiner Seele Ordnung schaffe – und dazu gehört auch, ab und an loszulassen, was nicht mehr ins Leben passt. Wie sagte schon Plutarch:

«Die besten Dinge sind die schwersten.»

Das Prinzip des Nicht-Anhaftens findet sich auch in der Yoga-Philosophie unter dem Sanskritnamen «Vairagya». Dahinter steckt der Gedanke, dass ein an äusseren Dingen orientiertes Leben nicht glücklich macht auf Dauer. Auch hier geht es um ein Loslassen, um die Unterscheidung, was einem glücklichen Leben dienlich und was ihm abträglich ist. So heisst es in Patanjalis Yoga-Sutras:

„Vairagya ist der Bewusstseinszustand, in dem das Verlangen nach sichtbaren und unsichtbaren Objekten aufgehört hat.“ ( I. 15)

Indem der Mensch sich nicht an den äusseren Dingen orientiert, so heisst es in 1.16 weiter, kehre er zu seinem ursprünglichen Menschsein zurück, was die höchste Form der Lösung sei. Diese Sicht wird auch im Buddhismus geteilt, sprich, in der Antike finden sich über den ganzen Erdball verteilt gleiche Ansichten und Lehren, die darauf zielen, ein gutes Leben zu führen.

Was bringt uns das für unser Leben? Was können wir daraus ziehen? Sicher die Sicht, dass alles, was wir für unser wirkliches Glück brauchen, in uns steckt. Wir müssen es nicht zuerst suchen oder finden, es ist da und will entdeckt werden. Nun gibt es auch schöne freudbringende Dinge im Aussen. Die zu geniessen ist wunderbar, dagegen sagen auch die weisen Philosophen nicht. Gefährlich wird es erst, wenn wir sie mit aller Kraft und Macht festhalten wollen, denn: Wir haben das selten in der Hand. Es hilft, sich immer wieder eines vor Augen zu halten: Das Leben ist immer ein Entstehen und Vergehen, im Grossen bei Geburt und Tod (mementum mori), im Kleinen bei Alltäglichkeiten, äusseren Dingen, Wünschen und auch Beziehungen. Das mag manchmal schmerzlich sein, doch nur so kann auch Neues entstehen.

Tagesgedanken: Selbstsorge

«Man kommt unbescholten in eine Welt, die man sich nicht ausgesucht hat, und wird oft in frühen Jahren mit Ballast bestückt, den man dann als Rucksack durchs Leben trägt. Bis man genau hinschaut, ihn bemerkt. Das tut erst mal weh, ist aber wichtig, um ihn abziehen zu können.»

Vieles in unserem Verhalten läuft unbewusst ab. Wir reagieren auf Situationen oft nicht aus der Situation heraus, sondern durch unsere Prägungen, die unser Verhalten steuern. Das führt dazu, dass wir uns in immer wieder ähnlichen Mustern verfangen, dass wir gewisse Konflikte immer wieder austragen, weil wir auf eine Art reagieren auf Situationen, die uns im Nachhinein selbst fragwürdig erscheint, die derselben nicht angemessen ist. Dadurch entsteht viel Leid, Leid, das vermeidbar wäre, wenn wir genau hinschauen würden, um herauszufinden, auf welchem Boden dieses Verhalten gedeiht.

Oft stecken Prägungen aus der Kindheit dahinter. Glaubenssätze, die sich in uns festgesetzt haben, steuern unser Selbstverständnis, welches oft mit einem mangelnden Selbstwertgefühl einhergeht. Weil wir uns dadurch verwundbar fühlen, versuchen wir, uns zu schützen, schiessen dabei aber übers Ziel hinaus. Das ist schwierig für uns selbst und für unser Umfeld. Da wir als soziale Wesen dieses Umfeld dringend brauchen und auch wollen, ist das für uns doppelt leidvoll.

Am einfachsten wäre, die anderen würden uns einfach so akzeptieren, wie wir sind und alles wäre in Ordnung – denken wir. Doch, stimmt das? Täten wir uns damit wirklich einen Gefallen? Wäre das nicht ein Verharren in einer Unmündigkeit, in welcher wir die Augen verschliessen vor der Wirklichkeit? Sokrates nannte als oberstes Gebot für ein gutes Leben:

«Erkenne dich selbst.»

Was sind meine Werte? Welche Werte sind mir wichtig, welche möchte ich durch mein Tun und Sein verkörpern? Nur wenn wir eine Ausrichtung haben im Leben, können wir uns auch auf den Weg machen. Ansonsten bedeutet Leben ein sich Treibenlassen, ohne selbst Steuermann zu sein.

Weiter rief Sokrates dazu auf, authentisch zu sein, wahrhaftig gegen sich und andere, sich und andere nicht zu betrügen. Nur wer mit sich im Reinen ist, kann auch friedlich in einer Gemeinschaft leben. Als Drittes nannte Sokrates die Neugier:

«Echtes Wissen besteht im Wissen, nicht zu wissen.»

Darin steckt der Wunsch, Neues zu lernen, weiterzugehen, offen zu sein für das, was die Welt zu bieten hat, statt sich auf vermeintlichem Wissen auszuruhen. Es steckt auch eine Haltung der Demut dahinter, nämlich die Erkenntnis, wie unendlich klein wir sind im grossen Ganzen. Wie viel Wissen da draussen ist und wie wenig davon wir wissen.

«Die Selbsterkenntnis gibt dem Menschen das meiste Gute, die Selbsttäuschung aber das meiste Übel.»

Das oberste Ziel für ein gutes Leben ist, mit anderen in Frieden und Harmonie zusammenleben zu können. Um das zu erreichen, muss man bei sich selbst anfangen. Das gute Leben fängt mit einer Selbstsorge an, die zu einer Seelenruhe führt. Aus dieser inneren Harmonie heraus kann auch eine äussere gelingen. Und dann reagieren wir nicht mehr getrieben von fremden Prägungen im Affekt, sondern gelenkt von unseren eigenen Werten und Vorstellungen.

Tagesgedanken: Gestalte deine Welt

«Nach der Beschaffenheit der Gegenstände, die du dir am häufigsten vorstellst, wird sich auch deine Gesinnung richten; denn von den Gedanken nimmt die Seele ihre Farbe an.» (Marc Aurel)

Wenn wir durch den Tag gehen, merken oft nicht, was alles in unserem Kopf los ist. Der Alltag hält so viele Ablenkungen bereit, dass wir das uns am nächsten Liegende übersehen: Unsere eigenen Gedanken. Erst wenn es mal still wird, wird es im Kopf laut: Gedanken überschlagen sich, einer folgt dem anderen, die Themen wechseln sprunghaft und in wildem Durcheinander. Wirkliche Ruhe kehrt kaum ein. Vor allem als Anfänger der Meditation wird einem das bewusst: Es gibt nichts Schwierigeres als die eigenen Gedanken zur Ruhe zu bringen.

Das ist auch gar nicht nötig, viel wichtiger ist es, hinzuschauen, was los ist im eigenen Gedankentreiben: Welche Gedanken kehren immer wieder, womit bin ich innerlich beschäftigt. Dieses Hinschauen kann zur Erkenntnis führen, was uns umtreibt, was in uns los ist, ohne dass wir uns mehrheitlich bewusst sind. Aus diesem inneren Treiben speist sich nämlich unser Verhalten. Diese Gedanken färben unsere Sicht auf die Welt, sie steuern unsere Wahrnehmung und Interpretation dessen, was ist. So sagte auch Anais Nin folgerichtig:

«Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie, wie wir sind.»

Was könnte es also Wichtigeres geben, als immer mal wieder innezuhalten, hinzuschauen, zu erkennen, was wir denken, worauf unsere Gefühle gründen, die unser Verhalten, unser Sein ausmachen?

«Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt.» (Buddha)

Durch die Bewusstwerdung derselben können wir daran arbeiten. Wir können unsere Gedanken lenken, können denen, die wir nicht in uns haben und aus uns sprechen lassen wollen, durch neue ersetzen, bessere, solche, die uns dahin führen, der zu sein, der wir sein wollen.

Philosophisches: Faden im Gewebe

«Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und Gefühlsweise ein Resultat der Gesellschaft, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozess […] nicht abzulösen.» Max Horkheimer

In der heutigen Zeit ist es das höchste Ziel, möglichst selbstbestimmt, authentisch, autonom zu sein. Die eigene Identität steht im Zentrum des eigenen Universums, sie will gelebt werden, sie darf nicht unterdrückt werden, sondern ihre Freiheit im Sinne einer freien Entfaltung ist das höchste Gut. Einschränkungen werden mit Argwohn betrachtet, schnell abgelehnt und verurteilt. Dabei vergessen wir, dass wir als die, die wir sind, eigentlich ein Produkt der Gesellschaft sind, in die wir geboren wurden. Erst durch unseren Austausch mit anderen bildet sich unsere Persönlichkeit heraus, erst durch unser Handeln und Sprechen mit ihnen, können wir werden, wer wir sind.

Hannah Arendt hat das schöne Bild der Gesellschaft als Gewebe gezeichnet: Durch unser Sprechen miteinander schaffen wir ein Gewebe, das wir als Gesellschaft bezeichnen. Sie ist das, was zwischen uns entsteht, wenn wir sprechen und handeln. Wird nun ein neuer Mensch geboren, webt er sich durch sein Dazukommen und Mitreden als Faden in dieses Gewebe ein. Der gegenseitige Austausch prägt den Einzelnen in seinem Sein und gibt der Gesellschaft etwas Neues hinzu.

Webt man dieses Bild nun weiter, würde jeder Faden, der aus dem Gewebe herausgerissen wird, ein Loch entstehen lassen. Indem wir also Menschen, die zum Gewebe der Gesellschaft gehören, unterdrücken, diskriminieren, ausgrenzen, schädigen wir das Gewebe, in das unser Faden eingewebt ist, von innen heraus. Wir machen ein schadhaftes Gewebe daraus. Insofern schaden wir nicht nur denen, die wir schlecht behandeln, sondern fügen auch uns selbst Schaden zu, indem wir den Ort, der uns zu dem macht, die wir sind, auf eine Weise prägen, die auch das eigene Leben irgendwann beeinträchtigen kann, denn: Wer sagt, dass eine Gesellschaft, die sich gegen Pluralität stellt, nicht plötzlich auch etwas an uns selbst findet, das nicht in ihre Vorstellungen passt?

Ein Grund mehr, darauf zu achten und sich dessen bewusst zu sein: Jeder Mensch ist anders und er soll das sein dürfen. Er gehört in diesem So-Sein zum Gewebe, das unser Miteinander darstellt. Nur so kann ein strapazierfähiges, buntes Gewebe entstehen.

Philosophisches: Gleiche Rechte für alle?

«Die Rechte, die man anderen zugesteht, kann man auch von anderen fordern; doch können wir von anderen nicht fordern, was wir selbst nicht respektieren.» (George H. Mead)

Ein einfacher Satz, dem die meisten wohl zustimmen würden auf den ersten Blick. Auf den zweiten wirft er doch Fragen auf: Kann ich wirklich von anderen fordern, dass sie mir sie gleichen Rechte zugestehen wie ich ihnen? Ich kann es hoffen, vielleicht sogar erwarten (mit einer möglichen Enttäuschung), aber fordern? Zudem: Von was für Rechten sprechen wir? Und hat jeder wirklich dieselben? Sollte jeder dieselben haben? Gibt es nicht auch bei Menschen unterschiedliche Voraussetzungen, die unterschiedliche Rechte (und auch Pflichten) zur Folge haben? Ein Kind hat andere Rechte als ein Erwachsener, ein Polizist hat andere Rechte im Umgang mit Straftätern als eine Privatperson.

Die nächste Frage ist, ob es überhaupt sinnvoll wäre, Rechte einzufordern. Das würde Rechte zu einem Tauschgeschäft machen. Ich habe dir einen Gefallen getan, nun musst du mir auch einen tun. Was, wenn nicht? Bereue ich meinen dann? Mache ich dem anderen nie mehr einen? Sinkt er nun in meiner Anerkennung, meiner Zuneigung?

Beim letzten Teil wird es leichter. Was wir nicht bereit sind, zu tun, können wir auch nicht einfordern. Es ist unfair, selbst hohe moralische Werte zu haben, selbst aber nicht danach zu leben, dies aber von anderen zu erwarten. Das ist eine Doppelmoral, die sich leider oft zeigt: Der ausgestreckte Zeigefinger auf andere, wenn die gegen die eigenen Lebensmaximen verstossen. Dass dabei immer drei Finger auf einen selbst zeigen, ignoriert man, weil man da nicht genau hinschaut. Darauf angesprochen finden sich immer Gründe, wieso man selbst grad nicht konnte, wieso man selbst gerade eine Ausnahme machen musste. Das kann man tun, nur sollte man dies dann auch dem anderen zugestehen. Und wenn man das nicht will, bleibt Gandhis Spruch, an dem viel Wahres ist:

«Sei du die Veränderung, die du in der Welt gerne sähest.»

Philosophisches: Haben oder Sein

«Die Aufgabe ist, dass der Mensch so lebt, dass der Zweck, das Ziel seines Lebens die volle Entfaltung aller seiner Kräfte ist als ein Selbstzweck und nicht als Mittel zur Erreichung anderer Zwecke.» (Erich Fromm, Marx zitierend)

Das sagte Erich Fromm in einem Interview und meinte es als Kritik an einer Welt, die Menschen immer mehr als Ressourcen sieht, und immer weniger als Personen, als Individuen. Was zählt, ist das Haben, der Profit, dabei geht das Sein, das Leben als ganzer Mensch, unter. Sinnbildlich wird das in Firmen, in denen die Personalbüros «Human Ressources» heissen: Menschliches Kapital quasi, ein Gut, auf das man für den Profit strategisch zurückgreift. Kein schönes Bild, wie ich finde. Kein Wunder, fühlen sich Menschen immer unwohler in der Arbeitswelt, brennen sie aus, werden sie krank. Für die ressourcenorientierte Gesellschaft ist das kein Problem, jeder ist ersetzbar, fällt einer aus, kommt der nächste.

Das fängt aber schon früher an: Auch in der Schule zeigt sich diese Haltung. Es geht nicht um Bildung, sondern um Wissensanhäufung unter Zwang und Leistungsdruck. «Und bist du nicht willig, dann kriegst du ne eins (in der Schweiz die schlechteste Note).» Wer es nicht aufs Gymnasium schafft, hat je länger je mehr ein Problem, die Berufsauswahl schrumpft. Es zählt nur noch, was einer (an Papieren) hat, nicht was er an wirklichen Fähigkeiten mitbringt. Eine Kindergartenlehrerin muss in Mathe gut sein, die Sozialkompetenz, der liebevolle Umgang mit Kindern sind keine ausschlaggebenden Kriterien.

Was so mehr und mehr wegfällt, ist eine wirkliche Beziehung zwischen Menschen, eine wirkliche Beziehung zur Welt. Der Mensch sieht sich als Rad im Getriebe und fühlt sich nicht gesehen. Das Interesse liegt mehrheitlich darauf, was einer hat, nicht wer er ist. Dadurch entstehen keine wirklichen Beziehungen, doch die wären wichtig für den Menschen, denn ohne sie kann er nicht als Mensch wirklich existieren, sicher kann er kein Leben führen, das ihn befriedigt, das er als gutes Leben bezeichnen würde. Es kommt zu einer immer grösseren Entfremdung – von der Welt, von anderen Menschen, oft auch von sich selbst.

Vielleicht wäre es langsam an der Zeit, umzudenken, Leben neu zu denken – weg von

«Sag mir, was du hast, und ich sage dir, wer du bist.»

Hin zu

«Sag mir, was du fühlst, denkst, tust und willst, und ich sehe, wer du bist.»

Das könnte ein Weg sein weg von profitorientierter Existenz hin zu einem sinnerfüllten Leben.

Philosophisches: Wer bin ich?

«Sage mir, mit wem du umgehst, so sage ich dir, wer du bist; weiss ich, womit du dich beschäftigst, so weiss ich, was aus dir werden kann.»

Goethe greift hier in seinem Wilhelm Meister eine tiefe Wahrheit über unser Sein auf: Wir sind geprägt durch unsere Umwelt – und dies mehr, als uns wohl oft bewusst ist. Menschen brauchen andere Menschen, um eine Identität auszubilden. Erst im Umgang mit anderen erfahren wir, wer wir sind, weil wir anhand ihrer Reaktionen auf unser Verhalten merken, wie sie uns sehen. Das alles fängt gleich nach der Geburt an und hört das ganze Leben nicht mehr auf.

Schon Babys reagieren auf das Verhalten ihrer Umgebung. Wenn jemand lächelt, lächeln sie zurück. Wenn sie etwas tun und eine entsprechende Reaktion erhalten, verinnerlichen sie diese und lernen, wie sie sich künftig zu verhalten haben. Das Verinnerlichen von Verhaltensmustern, von Wertmassstäben, die Reaktionen aus dem Umfeld zugrunde liegen, bilden ein inneres Diagnoseprogramm aus. Die Gesellschaft mitsamt ihren Erwartungen und Werten tritt quasi in mich ein und wirkt nun von innen heraus, indem ich selbst mein eigenes Verhalten bewerten kann anhand der erlernten Massstäbe. Indem ich einerseits handle als Ich, andererseits dieses Handeln selbst beurteilen kann, bildet sich ein Selbst-Bewusstsein, und damit meine Identität.

George H. Mead hat sich intensiv mit dem Thema Identität und Gesellschaft befasst. Er kam zum Schluss, dass sich Identität nur dann ausbildet, wenn wir uns in andere hineinfühlen können, wenn wir in der Lage sind, fremde Perspektiven einzunehmen. Dazu ist es wichtig, ein gemeinsames Symbolsystem zu schaffen, das der Verständigung dient: Die Sprache, welche sich in drei Stufen entwickelt: körperliche Gesten, vokale Gesten (einzelne Wörter), signifikante Gesten (Symbolsystem der Sprache). Dieses System ermöglicht uns, uns gegenseitig zu verstehen. Durch sie können wir das Verhalten anderer deuten und damit auch ihre Reaktion auf uns. Die Umwelt hält uns einen Spiegel unseres Verhaltens vor, den wir in der Folge verinnerlichen und der unser Bewusstsein ausbildet.

Mead spricht damit an, was im Buddhismus als Mitgefühl bekannt ist: Mit-Fühlen, was der andere fühlt. In Verbindung treten durch mein empfundenes Verständnis für sein Sein und Fühlen. Damit ist Mitgefühl eine wichtige Eigenschaft im Umgang mit anderen, und es ist auch für unsere eigene Selbsterkenntnis fundamental. Nur wenn ich mich dem anderen öffne, ihn wahrnehme, mich in ihn hineinfühle, kann ich zu einem Verständnis meiner selbst kommen. Und so kommen wir uns alle etwas näher, gegenseitig und für uns selbst. 

Wer bin ich also? Ich bin die Summe meiner Erfahrungen und der daraus verinnerlichten sozialen Erwartungshaltungen, die sich in meinem Verhalten ausdrücken. Ich werde zu dem, der ich bin, durch das, was ich im Aussen erfahre und verinnerliche. Im Wissen darum ist es umso wichtiger, denke ich, das für einen passende, einem entsprechende Umfeld zu finden, denn nur damit wird es gelingen, zu dem Ich zu werden, das man sein will.   

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Buchtipp: George H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1973.

Tagesgedanken: Begegnen statt beharren

«Das mit der Wahrheit muss verschwinden. Solange die Wahrheit in den Köpfen der Menschen ist, ist da immer der andere, den ich umbringen muss, denn er hat sie nicht, ich habe sie ja.»

Dies sagte sinngemäss Heinz von Foerster. Es klingt auf den ersten Blick witzig: Die Wahrheit muss verschwinden. Doch denkt man weiter, fängt ein leises Nicken an. Blickt man auf die Welt und wie Menschen miteinander umgehen, nimmt das Nicken zu. Jeder denkt, er hätte die Wahrheit gefunden und propagiert sie nun nicht nur als seine, sondern als absolut gültige. Jeder, der widerspricht, muss natürlich im Unrecht sein, denn zwei Wahrheiten, die sich unter Umständen sogar widersprechen, kann es nicht geben. Wo die Gewissheit herkommt, dass die eigene Wahrheit wirklich die richtige ist, dass sie der Weisheit letzter Schluss ist, das muss nicht weiter begründet werden. Das ist einfach so. 

Was ist eigentlich Wahrheit? Wie findet man sie? Wie weiss man, dass sie es ist? Diese Frage stellt man sich seit Jahrtausenden. Aesop kam zu folgendem Schluss: 

«Jede Wahrheit hat zwei Seiten. Wir sollten uns beide Seiten anschauen, bevor wir uns für eine entscheiden.»

Wahrheit wird oft als Machtmittel benutzt (Wissen ist Macht): Wenn ich weiss, wie der Hase läuft, stehe ich über dir. Nur: Woher nimmt man diese Überzeugung? Was ist überhaupt zuerst: Unsere Wahrheit oder unser Machtdenken? Kehren wir nicht oft die ganze Sache um und propagieren um der Macht Willen eine Wahrheit, die wir als die richtige hinstellen, um die eigene Position zu stärken? Statt unsere Vernunft zu nutzen, um im Diskurs mit Anderen gemeinsame Wege zu finden, setzen wir sie ein, um eigene Zwecke zu erreichen. Adorno resignierte ob dem Umstand, schrieb seine negative Dialektik und pflegte fortan eine pessimistische Weltsicht. Habermas versuchte später, neuen Wind in die Frankfurter Schule zu bringen und teilte die Vernunft in zwei Teile: Die zweckrationale und die kommunikative. Aber auch er ist noch nicht sicher, welche gewinnen wird.

Nun, wir haben es in den Händen: Indem wir uns bewusst werden, wie wir im Umgang mit anderen Menschen agieren, ob wir sie mit Argumenten totschlagen wollen oder aber ob wir mit ihnen in einem quasi kommunikativen Tanz die verschiedenen Wahrheiten umgarnen und eine gemeinsame Melodie finden. Mir ist bewusst, dass dies einfacher klingt, als es ist, sind wir doch alle sozial geprägt und haben damit die zweckrationalen Muster in uns drin, nach denen wir dann, ganz dem Leistungsstreben unserer Gesellschaft verpflichtet, agieren. Aber wir sind ihnen nicht blind ausgeliefert, wir haben es in der Hand, die Veränderung zu suchen und uns neu zu besinnen, wie wir mit anderen umgehen wollen. Hannah Arendt sagte dazu:

«Wahrheit gibt es nur zu zweien.»

Wir haben auf diese Weise nicht mehr die Wahrheit für uns gepachtet, aber wir gewinnen die Möglichkeit, neue Wahrheiten kennenzulernen. Und wir haben mehr noch die Chance, anderen Menschen wirklich zu begegnen, was nur passiert, wenn wir in einen Dialog treten, in welchem beide einander zuhören und offen bleiben, um den anderen und seine Sicht der Welt kennenzulernen. Ein würdiger Ersatz für eine eigentlich nutzlose (da nur propagierte, selten aber wirklich gesicherte) Wahrheit, die nur als Totschlagargument taugt.

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Literatur zur weiteren Lektüre:

Philosophisches: Schule machen

Kürzlich las ich ein Interview in „Die Zeit“ mit Wigald Boning, in welchem er folgenden Satz äusserte:

„Ich glaube, wenn man geliebt wird als Kind – dann öffnet das viele Türen.“

Und ich dachte: „Wie wahr!“ Das Gefühl, nicht geliebt zu werden, hängt ein Leben lang nach. Das Gefühl, nicht lieben zu dürfen, weil jede Umarmung von dir zu viel ist, du aber keine kriegst, prägt. Und dann sitzt du irgendwann in deinem Erwachsenenleben und merkst: Ich trau mich nicht. Ich trau mich nicht, darauf zu vertrauen, dass mich jemand lieben kann. Ich trau mich nicht, jemanden zu umarmen, denn meine Umarmungen kommen immer ungelegen. 

Und dann denke ich: Mein Gott, ich hatte das, was man eine behütete Kindheit in einer heilen Welt nennt. Und ich frage mich, wie geht es Kindern, die nicht eine solche Basis haben? Kinder, die Gewalt erleben müssen. Kinder, die aus Familien genommen werden, weil sie misshandelt werden. Kinder, die an einen Ort, in eine Klasse geboren werden, wo sie schon von Anfang an schlechtere Chancen haben – in unserem System. Kindern aus unteren Klassen traut man weniger zu. Experimente haben gezeigt, sie wären zu Gleichem fähig, würde man ihnen das Vertrauen signalisieren, dass sie es schaffen können. Woher sollen sie es nehmen, wenn es ihnen keiner gibt?

Es gibt zum Glück Institutionen, die das auffangen. Und manchmal sind diese richtig gut. Sie schaffen es, dem Kind etwas zu vermitteln, was Liebe heisst. Obwohl es „nur“ Institutionen sind. Sie vermitteln eine Form von Vertrauen:

„Ich glaube an dich!“

Und das Kind kann es glauben, weil eine Beziehung da ist. Und so sollte es in Schulen sein: Jeder kann vieles erreichen. Man muss an ihn glauben, Es ihm mal zutrauen. Keine Schere machen, nicht die Zuwendung nach Klassenzugehörigkeit austeilen. Leider passiert das oft zu wenig. Es gibt private Schulen, doch die können sich viele nicht leisten. Und wenn man landläufig das Modell erklärt, bei Ämtern und staatlichen Schulen vorspricht, kommt als Erstes: 

„Das geht eh nicht.“

Doch, es geht. Es ist sogar finanzierbar. Man müsste es nur wollen. Aber es wäre gefährlich. Plötzlich würden wir Menschen aus allen Schichten bilden, die nachher mündige und fähige Mitbürger wären, die mitsprechen wollen. Plötzlich wäre der eigene Kuchen gefährdet, weil zu viele gelernt haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen können, und wissen, dass sie dafür ihre Stimme in einer Demokratie erheben müssen. Das muss man sich erst mal trauen. 

Nur: Wollen wir weiter eine Demokratie haben, die gelebt wird, müssen wir den Weg gehen. Er fängt im Elternhaus an, aber unsere Institutionen sind in der Pflicht. Auf die könnten wir bauen, wenn sie sich dazu entschliessen könnten. Stellt euch vor: Wir bilden plötzlich Kinder aus, die durch diese Ausbildung erfahren, dass sie selber etwas bewirken können, dass sie dadurch eine Verantwortung tragen, das auch zu tun, und die partizipieren wollen an einem gelingenden Miteinander. 

Eine Utopie? Möglich. Aber nur, wenn wir es nicht wagen. Es wäre machbar! Ich glaube dran!

Tagesgedanken: Autonomie

«Autonom ist (…), wer für seine Überzeugungen einsteht, obwohl diese gerade verpönt oder gar verboten sind, (…) wer ganz einfach seinen eigenen Kopf hat.» (Plauen, Welzer)

Ich mochte es noch nie, wenn man mir sagt, was ich zu tun habe. Ich wollte immer selbst entscheiden, wie ich mich verhalte, was ich tun oder lassen will, wie mein Leben aussehen soll. Dass man damit auch oft aneckt oder nicht jedermanns Liebling ist, liegt auf der Hand. Das war mir zwar (leider) nie gleichgültig (im Gegenteil, ich haderte damit recht oft), doch konnte ich es nicht ändern. Versuchte ich zu sehr, mich fremden Wünschen und Ansprüchen unterzuordnen, wurde ich nicht nur unzufrieden, sondern auch wirklich unleidlich. Das mich Verbiegen nagte so sehr an mir, dass meine Nerven blank und blanker lagen, bis ich förmlich explodierte. 

Ich habe mich oft gefragt, wieso es nicht möglich ist, dass jeder so angenommen wird, wie er ist, wieso so viele Erwartungen in einen gesetzt werden, wie man sein sollte (nämlich am besten so, wie der andere einen gerne hätte), dass vom eigenen Ich wenig übrigbleibt. Nun leben wir in unserer westlichen, demokratischen Welt durchaus in einer Gesellschaft, die Autonomie hochhält, was ein grosses Privileg ist gegenüber totalitären Staaten, und doch bildet gerade diese Gesellschaft immer noch Menschen aus, die Konformität leben – weil in dieser der grösste Schutz für die Gesellschaft mit ihren Werten und ihrem Wachstumsstreben gesehen wird. Ein Paradox in sich. 

Es ist mitunter einfacher, sich einfach in gegebene Systeme einzufügen, denn diese nehmen uns die eigenen Entscheidungen ab, es besteht die Gewissheit, sicher das Geforderte zu tun und damit „dazuzugehören“. Dass wir damit aber unsere Autonomie und so auch unsere Freiheit aufgeben, ist uns oft nicht bewusst. Vieles davon läuft unbewusst ab, es sind einstudierte Abläufe, eingeprägte Muster, erlernte Verhaltensweisen. Und ja, manchmal ist Konformität richtig und wichtig, leben wir doch in einer Gesellschaft, die ein Miteinander sein will und soll, wozu gewisse Sicherheiten gewahrt werden müssen. Wichtig ist aber, genau hinzusehen, wo Konformität richtig ist und wo wir die eigene Autonomie verteidigen und leben müssen, um unser eigener Herr zu sein, Steuermann im eigenen Leben zu bleiben. 

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Buchtipp: Michael Pauen, Harald Welzer: Autonomie. Eine Verteidigung

Tagesgedanken: Visionen

Kürzlich sagte ich, dass ich hoffe, dass wir nie wieder in eine Situation kommen werden, in welcher soziale Isolation als Lösung für ein Problem gesehen wird, in der man nicht beachtet, dass Menschen, um leben und nicht nur überleben zu können, andere Menschen, Beziehungen, Begegnungen, Berührungen brauchen. Da wurde mir folgende Frage gestellt:

«Woher nimmst du diese Hoffnung?»

Es war zwar als Frage formuliert und doch schoss mir aus jedem Wort der Unglaube entgegen, dass sie berechtigt sein könnte. Hinter der Frage stand offensichtlich die Einschätzung: Wie kann man so naiv sein, so etwas zu hoffen. 

«Nicht weil es schwer ist, wagen wir es nicht, weil wir es nicht wagen, ist es schwer.»

Es mag oft schwer sein, die Hoffnung zu bewahren, dass es besser wird, wenn die Vergangenheit immer wieder zeigte, dass eher das Gegenteil davon eingetreten ist. Und doch: Was bleibt, wenn wir nicht einmal mehr die Hoffnung haben? Wie sollen wir weiterleben? Nun ist mit Hoffnung nicht eine blinde Illusion, ein blosses Schöndenken und -reden gemeint. Gemeint ist, noch Visionen zu haben von einer Welt, wie wir sie uns wünschen, und daran zu glauben, dass sie möglich sein kann – dass wir vielleicht auch unseren Beitrag dazu leisten können, dass sie möglich wird.

Ernst Bloch schrieb einst, dass eine Vision das Noch-nicht-Seiende sei. Selbst wenn Dinge gross erscheinen, auch wenn sie fast unmöglich erscheinen: Sie sind denkbar und sie sind wünschenswert. Wieso also gleich aufgeben? Wieso die Vision nicht pflegen, hinschauen, was es braucht, sie zu verwirklichen, daran glauben, dass Dinge sich verändern können, dass der Mensch lernfähig ist, die Welt sich zum Besseren hin wandeln kann? Solche Dinge sind durchaus schon passiert. Wieso nicht wieder?

Wie muss eine Welt aussehen, in der wir uns zuhause fühlen? Was brauchen wir, um ganz Mensch zu sein, um ganz wir selbst zu sein? In dieser Welt müssten unsere grundlegenden Bedürfnisse erfüllt sein. Wir müssten uns in dieser Welt eingebettet fühlen, akzeptiert und angenommen – als die, die wir sind. Wir wünschen uns eine Welt, die einen gesunden und fruchtbaren Boden schafft für unser Menschsein, die einen Raum von Toleranz und gegenseitiger Anerkennung bereitet, in welchem wir uns entfalten können, ohne uns zu verbiegen. 

Und ja, diese Vision einer besseren Welt, diese Hoffnung, dass sie möglich ist, mag naiv klingen, utopisch auch, und doch möchte ich beides haben. Was wäre die Alternative? Für mich undenkbar. Mir ist klar, dass ich die Welt nicht im Ganzen retten oder nur schon verändern werde, aber ich kann versuchen, zumindest mein Umfeld (vielleicht in immer grösseren Kreisen) so zu gestalten, dass es meiner Vision für dieses Leben nahe kommt.

Das Äussern von Visionen ist neben allem anderen ja immer auch ein Ausdruck dessen, was und wer ich bin. Und ich bin schlicht ein Mensch mit Visionen und Hoffnungen. Ich bin ein Mensch mit dem Glauben an das Gute und dem Wunsch, es immer wieder zu sehen. Es gibt ein schönes Lied dazu:

«Ich will ich sein,
anders kann ich nicht sein.»