Arno Geiger: Alles über Sally

„Sally findet es mit einem Mal anstrengend, wie Alfred auf ältliche Weise im Bett sitzt, ein überzeugender Beitrag zur Trostlosigkeit dieses Zimmers […] jetzt in den Ferien, sollte man meinen, ist es selbst für einen Mann in Alfreds Alter eine unnatürliche Sache, so viel herumzuliegen. […] Die halbe Nacht grabschte er nach Sallys Hüften, die meiste Zeit lag er auf ihr. Sie selber wachte einige Male in Schweiß gebadet auf, so dass sie sich jetzt fragt: Was ist das? Ist es Alfred oder seelische Armut oder eine Krankheit? Sind es die Hormone oder ist es Angst?“

Schon im ersten Kapitel erhält man einen Eindruck von der nun dreißigjährigen Ehe von Sally und Alfred. Er, der eher Schwermütige, Konservative, Bewahrende, sie die Aktive, Unzufriedene, Suchende und Fragende. Jäh aus den Ferien weggerufen wegen eines Einbruchs in ihr Haus, zeigt sich die ganze Tragweite dieser Unterschiedlichkeit. Während Alfred noch mehr in Lethargie und Selbstmitleid verfällt, übt sich Sally in Aktivismus, packt an, will wieder nach vorne gehen. Alfred steckt fest. Er steckt in seiner Trauer, sieht das Verlorene. Er trauert um den Verlust der Vergangenheit, leidet an der Zerstörung seiner Sicherheit, seiner Konstanz im ewig Gleichen – und genau das stürzt Sally immer mehr in eine Position des Zweifels: Zweifel an Alfred, an ihrer Liebe, an ihrer Ehe. Sie braucht Abhilfe und stürzt sich dazu eine Außenbeziehung mit Eric, es ist nicht ihre erste. Diese Ausbrüche – von denen Alfred immer stillschweigend wusste, weswegen es verwundert, dass er dieses Mal nichts mitkriegt – scheinen ihr eine Lebendigkeit in ihr Leben zu bringen, die sie bei all der auferlegten Stetigkeit braucht. Und trotzdem: Sie kommt immer zu Alfred zurück, sucht diese Stetigkeit auch, da diese und für sie stehend Alfred wohl ihr Halt in einer sonst haltlosen Welt ist – im Aussen wie im Innen. Dies drückt sich auch in einer Erkenntnis aus, die sie überkommt:

„Spätestens damals hatte sie begriffen, dass Wohnen etwas Emotionales ist und dass sie mit ihren Gefühlen weit weniger links stand als ideologisch. Von da an hatte sie gewusst, Gefühle sind konservativ, sie verändern nicht die Welt.“

Und auch wenn Gefühle dauerhaft sind, so sind sie nicht immer da, nicht immer gleich stark. Während Alfred die ganzen dreißig Jahre damit verbracht zu haben scheint, bewundernd auf Sally zu schauen, glücklich über jeden von ihm als schön befundenen Blick zu sein, findet Sally viele Dinge, die sie an ihrem Mann beanstandet. Sie geht mit ihren Worten nicht zimperlich um. Trotzdem weiß sie auch in lieblosen Zeiten, sie würde Alfred

„bald wieder lieben, so wie sie ihn am Anfang geliebt hatte und später auch immer wieder, nur jetzt nicht, da konnte sie ihm nichts vormachen.“

Arno Geiger ist ein Blick auf eine Ehe gelungen, der viel Mitgefühl in sich trägt, der trotzdem in die Tiefe geht und offenlegt, was da liegt. Dieser Blick zeigt eine Ehe, die weit vom romantischen Ideal scheint, eine Ehe, in welcher zwei Individuen sich aneinander aufreiben und doch immer wieder bleiben – und in diesem Bleiben aufs Ganze gesehen etwas für sich zu finden scheinen. Arno Geiger zeigt, dass es gerade die Dauer der Ehe ist, die all das auszeichnet, weil gerade diese Dauer in einer unsteten, immer schneller drehenden Welt außergewöhnlich ist. Erst durch diese Dauer zeigen sich die Schwierigkeiten des Zusammenlebens, aber auch das, was Paare zusammenhält. Es sind die kleinen Fürsorglichkeiten des Alltags, die Aufmerksamkeiten im Vorbeigehen, welche Arno Geiger sehr einfühlsam und unaufdringlich erzählt.

Gelungen ist diese Geschichte vor allem, weil Arno Geiger es schafft, beide Seiten zu beleuchten. Er schaut in die Seelen beider Protagonisten, er tut dies ohne Vorurteile oder Aburteilungen, ohne An- oder Trauerklage. Ein flüssiger Erzählton fließt durch eine Geschichte mit Höhen und Tiefen, auch Abgründen, er packt den Leser und lässt ihn nicht mehr los.

Fazit:
Ein bewegender, nachdenklich stimmender Roman über die Liebe, die Ehe, das Miteinander. Unbedingt lesenswert.

Zum Autor
Arno Geiger, geboren 1968 in Bregenz, wuchs in Wolfurt/Vorarlberg auf. Er studierte Deutsche Philologie, Alte Geschichte und vergleichende Literaturwissenschaft in Innsbruck und Wien.

1997 debütierte Arno Geiger mit dem Roman ›Kleine Schule des Karussellfahrens‹, 1999 folgt ›Irrlichterloh‹. 1998 erhielt er den New Yorker Abraham Woursell Award, 2005 für ›Schöne Freunde‹ den Friedrich-Hölderlin-Förderpreis und den Deutschen Buchpreis für ›Es geht uns gut‹. 2008 wurde ihm der Johann-Peter-Hebel-Preis verliehen, 2011 der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. 2007 erschienen Erzählungen mit dem Titel ›Anna nicht vergessen‹, 2010 der Roman ›Alles über Sally‹, 2011 das Buch ›Der alte König in seinem Exil‹, 2015 der Roman ›Selbstporträt mit Flusspferd‹. Für den Roman ›Unter der Drachenwand‹, der auch für den Deutschen Buchpreis nominiert war, erhielt Arno Geiger den Literaturpreis der Stadt Bremen. 2018 wurde Arno Geiger mit dem Joseph-Breitbach-Preis ausgezeichnet.

Arno Geiger lebt in Wolfurt und Wien.

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ dtv Verlagsgesellschaft (1. August 2011)
Taschenbuch ‏ : ‎ 368 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3423140188

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7 Kommentare zu „Arno Geiger: Alles über Sally

  1. Klingt sehr sehr spannend. Kommt auf die Liste
    Mit Arno Geiger verbindet mich die Begegnung mit einer etwas älteren Bibliothekarin in Buckow. Die Bibliothek war winzig, ich war damals mit meinen drei Kindern in Mutter Kind Kur und suchte nach etwas Lesbaren. Sie empfahl mir Arno Geiger. Warum gerade dieser Autor hatte ich gefragt und sie hatte wie eine Kartenlegerin bedeutungsschwanger gesagt: weil ich glaube dass es zu ihnen passt

    Gefällt 3 Personen

  2. Klingt wirklich spannend und wohl – oder leider – aus dem Leben gegriffen. Aber wenn ich als (Liebes)Partner ein „überzeugender Beitrag zur Trostlosigkeit des Zimmers“ wäre, würde ich wahrscheinlich ob der Originalität des Vergleichs lachen aber zudem Zimmer und Partnerin wohl verlassen. Insofern regt deine Rezension dazu an, das Buch zu lesen, um zu erfahren, wie das geht ohne wegzulaufen.
    Von Arno Geiger habe ich „der alte König in seinem Exil“ gelesen und war total angetan von Inhalt und Stil.

    Gefällt 1 Person

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