Eine Geschichte: Die erste Reise (XXXIX)

Lieber Papa

Ich musste zu dir. So schnell wie möglich. Um 7 Uhr stehe ich an der Bushaltestelle. In meiner Tasche ein Buch, ein Notizbuch und in mir angespannte Unsicherheit und Nervosität. Was erwartet mich? Wie treffe ich dich an? Normalerweise sitze ich um diese Zeit zu Hause an meinem Pult und schreibe die ersten Zeilen des Tages oder kümmere mich um Administratives. Bislang dachte ich, das seien die schlechten Tage, solche, an denen mir nichts einfallen will. Da merkte ich, dass auch das gute Tage sind, denn ein wirklich schlechter Tag war heute. Nun ging es nicht um Schreiben oder nicht Schreiben, nun ging es um dich.

Ich ging nicht allein auf Reisen, an der Bushaltestelle standen viele Leute, vermutlich auf dem Weg zur Arbeit. Sie schienen geübter im Stehen und Warten. Eine Routine, die ich nie gekannt hatte im Leben, da ich mich immer auf eigenen Wegen und im eigenen Rhythmus durchs Leben bewegt habe. Die anderen grüssen einander, nicken sich zu. Alte Bekannte der täglichen stummen Begegnung, ein «auch wieder da» im Blick. Nicht als Frage, sondern als Bestätigung des gewohnten Alltags. Das, was bei mir gerade aus den Angeln gehoben worden war.

Dann sass ich im Bus und schaute raus. Mein Blick erfasste nichts. Fand keinen Halt. Er ging durch die Dinge hindurch ins Leere. Was dachte ich? Was fühlte ich? Ich konnte es nicht fassen. Es war un-fassbar. Und ich fassungslos.

Am Hauptbahnhof stieg ich aus, konnte mich mit dem Menschenstrom treibenlassen, war mitgenommen. Überall so viel Leben. Und dessen Ende als dunkle Angst in mir. Ich fühlte mich wie eine einsame Insel in einem wogenden Ozean. Ein Gefühl, das mir auch sonst nicht fremd ist.

Als ich den Zug bestieg, waren erst wenige Plätze besetzt. Die noch freien füllten sich langsam. Später würde ich wissen, dass hier jeder seinen Platz hat. Dann würde auch ich meinen haben. Ich packte mein Buch und mein Notizbuch aus, legte es vor mir auf den Tisch. Das sah aus, als ob ich viel vor hätte. Wie dieser Schriftsteller, der morgens in den Zug steigt und dann schreibend durch die Schweiz fährt. Ich schrieb nicht.Ich fuhr zu dir. An dem Tag wusste ich noch nicht, dass ich einige Jahre weder lesen noch schreiben können würde. Als hätte Mamas Anruf dem einen Riegel vorgeschoben.

Irgendwann stand ich vor deiner Zimmertür. Beim Gehen durch die Gänge war ich immer langsamer geworden. Als ob das Hinausschieben helfen könnte. Oder alles nicht wahr sei, wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde. Ich klopfte leise. Öffnete vorsichtig die Tür. Linste durch den Spalt. Sah dich da liegen. Du drehtest deinen Kopf zu mir und lächeltest mich an. Wie müde du aussahst. Die Arme seltsam mager. In meiner Erinnerung waren sie kräftig. Mit zupackenden Händen.

«Hallo Papa»

Im Zug schwirrten mir so viele Gedanken und Fragen durch den Kopf. Nun kam mir nichts mehr in den Sinn. Passte nicht. Kam mir zu aufdringlich vor. Oder hatte ich Angst, auf die Fragen Antworten zu kriegen, die ich nicht hören wollte? Das war sonst eigentlich deine Taktik. Ich fand sie plötzlich gut.

«Wie fühlst du dich?»

«Eigentlich gut.»

Klar, drum lagst du da. Aber ja, ich hatte gefragt.

«Konntest du schon mit den Ärzten sprechen? Was sagen sie?»

«Sie haben keine Ahnung, was los ist. Sie wollen alles genau untersuchen. Ich muss die ganze Woche hierbleiben.»

Ich ahnte, was das für dich bedeutete. Und: Das würde nicht meine letzte Reise gewesen sein.

(«Alles aus Liebe», XXXIX)

Eine Geschichte: Der Anruf (XXXVIII)

Lieber Papa

Da sind wir nun also. Schlagen ein neues Buch auf. Eines, in dem alles dreht. Und doch bleibt. Du erinnerst dich nicht an das, was nun kommt. Zwar hast du es erlebt, aber nur für dich. Du hast wenig davon gesprochen. Es reichte wohl schon, dass es so war, darüber reden musste man nicht auch noch. Ich möchte dir dennoch erzählen, wie ich es erlebt habe. Weil da noch so viele Gedanken sind.

Alles fing mit einem Anruf an.

«Papa wurde abgeholt.»

Hat Mama gesagt. Ich wusste nicht, was ich sagen soll. Also blieb ich still. Hörte ein paar Wortfetzen.

«Nicht mehr sprechen können…»

Das ist bei mir angekommen mir geblieben. Und löste Schlagworte aus. Wie «Hirnschlag». Und dann kamen die vielen Folgegedanken. Ich wollte die nicht haben.

Gerade noch haben wir telefoniert. Ich habe dich angerufen. Weil ich verzweifelt war. Und ich dich in solchen Situationen immer anrief. Weil ich wusste, du hörst zu. Und findest die richtigen Worte. Danach ist zwar nicht alles gut, aber ich bin wieder ruhiger. Das hast du immer geschafft.

Und nun ist da diese grosse Frage in meinem Kopf:  

«Bin ich schuld?»

Habe ich dich zu sehr aufgeregt? Mit meinem Drama. Mit meinem Leben, das nicht in geraden Bahnen läuft. Mit meinem So-Sein, das du nicht verstehst. Es kommt mir immer ein wenig vor, als sei es eine Zumutung ist für dich. Und irgendwo in mir sagte eine Stimme:

«Nun geht es zu Ende.»

Ich wollte das nicht denken. He, wir hatten doch einige brenzlige Situationen in letzter Zeit. Immer hiess es, dass du das nicht schaffst. Weisst noch? Die Borreliose, als du so lange im Komma lagst? Oder der Darmverschluss? Auch Komma. Ich wusste tief drin, dass du es schaffst. Und: So war es. So wollte ich auch jetzt denken. Dass du es schaffst. Dass das wieder wird. Es geht nicht. Die andere Stimme bleibt hartnäckig.

Ich stand neben mir. Kaum hatte Mama aufgelegt, hämmerten 1000 Fragen im Stakkato in meinem Kopf. Keine Antworten. Und dann kam die Angst.

Ich ging ins Bett, wollte die Welt ausschliessen, wollte in tiefen Schlaf versinken. Er blieb aus. Die Gedanken rasten. Ich wollte in den Zug steigen und zu dir fahren. Ich musste bleiben.

«Wir können nichts tun.»

Hat Mama gesagt.

«Wir müssen abwarten.»

Wie ging es dir in dem Moment? Was hast du gefühlt? Hattest du Angst? Fühltest du dich allein? Hätten wir nicht bei dir sein müssen?

Das war das Schlimmste. Diese Hilflosigkeit. Dieses Verdonnertsein zum Nichtstun. Diese Angst. In so einer Situation hätte ich sonst dich angerufen. Das ging nun nicht.

(«Alles aus Liebe», XXXVIII)

Bücherwelten: Wolfram Schneider-Lastin (Hg.): Fragen hätte ich noch

Geschichten von unseren Grosseltern

Vor nun über zwei Jahren begann ich damit, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Ich hatte keine Ahnung, wohin das führen würde, ich schrieb einfach alles auf, das mir in den Sinn kam. Irgendwann war ich fertig. Ich brachte alles in eine Form, überarbeitete, schrieb um, steckte alles in die Schublade, holte es wieder raus, schrieb wieder um. Und dann stellte ich alles Teil für Teil in meinen Blog. Die Geschichte läuft noch bis Ende Jahr. Dann ist alles ausgezählt. Und irgendwie doch nur ein Bruchteil. Würde ich es nochmals machen? Ich glaube nicht. Vor allem das Veröffentlichen würde ich wohl unterlassen, auch wenn ich sehr bewegende und berührende Rückmeldungen erhielt. 

«Der Stein, den ich ins Wasser geworfen hatte, schlug Wellen.» Wolfram Schneider-Lastin

Ich habe in dieser Zeit viele Memoirs und Erinnerungsbücher gelesen, eines fiel mir ganz besonders auf: Wolfram Schneider-Lastin hat verschiedene Autoren und Autorinnen eingeladen, über ihre Grossmütter und Grossväter zu schreiben. 

«Meine Grossmutter Else passte nicht an diesen Ort. Stets schien sie am falschen Platz zu sein. Die westdeutsche Provinz, wohin sie die Wogen des 20. Jahrhunderts gespült hatten, blieb ihr fremd. Wie ein Schuh, der nicht passen wollte, war es nicht ihr Ort, nicht ihr Land und nicht ihre Zeit.» Andreas Kossert

Entstanden sind 30 persönliche, berührende, bewegende Geschichten und 30 Blicke in vergangene Zeiten und das Leben damals. Es sind Geschichten, die Einblicke gewähren und zum Nachdenken anregen, Geschichten, die an eigenes erinnern und die Vergangenheit lebendig werden lassen. 

Ein wunderbares Buch!

Eine Geschichte: Tiefpunkt (XXXIV)

Lieber Papa

Irgendwann hatte ich es geschafft. Ich hatte das Gewicht erreicht, das ich erreichen wollte. War ich zufrieden? Ich weiss es nicht mehr. An einem Abend ging ich zu einer Klassenfete. Ich tanzte den ganzen Abend. Als ich am nächsten Morgen auf die Waage stieg, hatte ich ein Kilo weniger. Das war zwar keine Absicht gewesen, doch es fühlte sich gut an. Ich wollte das Gewicht so halten. Die Angst, wieder zuzunehmen, war gross. Deshalb ass ich noch weniger. Und nahm noch mehr ab. Und wieder fühlte es sich gut an. Ein neues Gewicht, das ich halten wollte und deswegen noch weniger ass. Die Komplimente, die ich für meine schlanke Figur bekam, stachelten mich an. Das Gefühl, etwas geschafft zu haben, war grossartig. Ich fühlte mich so gut. Endlich war ich einmal gut genug. Die Spirale begann, zu drehen. Die Angst vor dem Zunehmen liess mich immer dünner werden. Zu den Komplimenten gesellten sich besorgte Stimmen. Ich brachte sie zum Schweigen.

Tief drin wusste ich, dass ich auf keinem guten Weg war. Nur: Ich konnte ihn nicht verlassen. Ein Teil von mir steuerte ins Unglück, der andere schaute hilflos zu. Da war etwas in mir, das sich wie ein Geschwür ausbreitete. Es nahm alles in Beschlag: Gefühle, Gedanken, Handlungen. Ich sass in einem Gefängnis. Niemand hatte einen Schlüssel. Keiner bewachte die Tür. Und doch gab es kein Entkommen.

Am Schluss bestand mein Ernährungsplan aus Gurke und Hagebuttentee. Dann strich ich die Gurke. Schliesslich reduzierte ich den Tee, weil sich der Bauch danach wölbte. Erinnerst du dich noch an den Sommer, als wir zu einem Alpfest gingen? Es waren 28 Grad und ich fror. Und ich war müde. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Mehr war da wohl auch nicht mehr.

Kurz darauf ging ich zu unserem Hausarzt und sagte zu ihm:

„Ich kann nicht mehr. Ich komm da nicht mehr raus. Helfen Sie mir. Ich will ins Krankenhaus.“

Er hat mich eingewiesen. Du hast mich hingefahren. Bliebst bei mir, bis sie dich wegschickten. Der Abschied hat uns beiden wehgetan. Weisst du noch? Ich sah es in deinem Blick. Und doch: Wir waren voller Hoffnung. Jetzt würde alles gut.

(„Alles aus Liebe“, XXXIV)

Eine Geschichte: Vom Erinnern (XXVIII)

Lieber Papa

Ich bin müde vom Schreiben, vom Erinnern. Vom Schreiben über das, was war. Ich frage mich, wieso ich es tue. Und dann erinnere ich mich an die Energie, die dieses Erinnern und das darüber Schreiben ausgelöst hat. Immer wieder. Als ich damit anfing, war es, als wäre ein Ventil aufgegangen und alles sprudelte aus mir heraus. Und nun steht da dieses grosse «Wozu»? Die Frage nach dem Sinn und dem Zweck eines solchen Unterfangens breitet sich in meinem Kopf aus und nimmt mir die Energie, lässt das Sprudeln versiegen.

Angefangen hat alles damit, dass ich verstehen wollte. Ich wollte verstehen, wer ich bin, wer ich geworden bin und wieso. Woher kommen all die Stimmen und Gefühle in mir? Worauf gründen all die Abwertungen und Selbstbezichtigungen, die ich mir immer wieder an den Kopf werfe?

Anfangs fühlte es sich wie eine Befreiung an, alles aufzuschreiben. Doch dann kam eine Schwere, eine Trauer. Wo habe ich hineingestochen? Welches Wespennest habe getroffen? Zerstöre ich gerade etwas, weil ich durch die Sprache zu viel ans Licht hole? Wäre es ungesagt nicht an einem sicheren Ort verstaut, unsichtbar, quasi ungeschehen und nicht vorhanden? Nur: Das stimmte offensichtlich nicht. Es war ja da. Und trieb mich um. Da war etwas in mir, das mein Tun, mein Sein prägte. Es tat dies teilweise auf eine Weise, die mir immer wieder selbst das Leben schwer machte. Und ich konnte es nicht benennen. Es wütete aus dem Verborgenen heraus und hatte eine Kraft, der ich mich oft nicht widersetzen konnte. Ohne zu wissen, woher diese kam.

Unsere vermeintlich heile Familie hatte ihre Schattenseiten. In unserem Haus gab es einen dunkeln Keller und viele Teppiche, unter die zu viel geschoben worden war. Dinge, über die man nicht sprach. Alles, was nicht genehm war, kam dahin. Ganze Familienmitglieder fanden ihren Platz dort. Das war nicht nur bei uns dreien so. Das war in der ganzen erweiterten Familie so. Und irgendwann wurde auch ich darunter gekehrt. Weil ich nicht mehr ins Bild passte.

So weit bin ich noch gar nicht in meinem Erinnern. Und doch drängt es immer wieder herein. Ich weiss, dass ich dahin kommen werde, wenn ich weiterschreibe. Ich überlege, ob ich es auslasse. Drum herum schreibe. Weil es nicht schön ist. Weil es schmerzt. Weil ich mich schäme. Auch vor mir. Weil ich es verbergen möchte. Weil ich mich nicht vor allen schämen möchte. Doch dann ist es nicht mehr meine Geschichte.  

Schreiben braucht Mut. Es holt ans Licht, macht sichtbar. Ich werde diesen Mut aufbringen. Später.

(«Alles aus Liebe», XXVIII)

Eine Geschichte: Gib mir deine Angst (XXVI)

Lieber Papa

Erinnerst du dich? Als du 66 wurdest, schenkte ich dir zum Geburtstag eine CD von Udo Jürgens, die «Mit 66 Jahren» hiess. Seine grössten Hits waren drauf, Lieder, die ich natürlich von viel früher kannte und doch nicht mehr präsent hatte. Bevor ich sie dir gab, hörte ich selbst rein. Und war gefesselt. Von da an ging ich an jedes seiner Konzerte in Zürich. Und ich hörte seine Lieder. Immer wieder hatte ich andere Lieblingslieder, aber eines war speziell für mich:

«Gib mir deine Angst»

So viele Zeilen sprachen mir aus dem Herzen. Täglich hörte ich es am Morgen, immer wieder fühlte ich mich gehalten. Irgendwie verstanden. Da sang mir einer aus dem Herzen. Der musste kennen, was in mir vorging.

Ich habe mich gefragt, wovor ich mich als Kind gefürchtet habe. Was machte mir Angst? Zum Beispiel mussten meine Füsse im Bett immer in die Decke eingeschlagen sein. Nie durften sie irgendwo hervorschauen. Was dachte ich, könnte passieren? Glaubte ich an Monster? Unterm Bett? Die hervorkämen und meine Füsse abbissen? Ich kann es kaum glauben, ich erinnere mich auch nicht daran. Manchmal rief ich nach dir in diesen Momenten. Du kamst, gingst auf die Knie und schautest unters Bett. Dann hatte ich Angst um dich. Das weiss ich noch. Wenn du wieder hochkamst, war ich doppelt erleichtert.

„Da ist nichts. Schlaf jetzt!“

Ich erinnere mich, dass ich mich ab und zu selbst über den Bettrand nach unten beugte und kopfüber unters Bett schaute, um zu sehen, ob da wirklich nichts und niemand ist. Mutig oder dumm? Ich meine, was wäre gewesen, wenn sich da wirklich jemand versteckt hätte. Wenn das Monster mit Gebrüll auf mich gestürzt wäre. Was hätte ich getan? Wohl das, was ich immer tue, wenn ich erschrecke: Ich wäre mit schrillem Schrei aufgesprungen – oder aber vom Bett geplumpst. Beides nicht sehr heldenhaft und mutig.

Ich war schon immer schreckhaft. Und dann schreie ich. Laut. Schrill. Durchdringend. Manchmal musstest du nur zur Tür reinkommen, wenn ich mit dem Rücken zu dieser am Pult sass. Ich hatte deine Schritte im Flur nicht gehört, da klang es hinter mir:

„Sandra?“

Meine Sirene ging los.

„Das bin doch nur ich! Stell dich nicht so an!“

Es half nichts. Ich habe das noch heute. Heute ärgere ich mich selbst darüber. Und schäme mich. Finde mich peinlich. So gesehen war ich doch mutig, als ich mich meinen Monstern unter dem Bett stellen wollte. Vielleicht hätte ich sie in die Flucht geschrien.

Eine weitere Angst, die ich hatte, war die, abgelehnt zu werden. Wie oft hatte ich von dir gehört, dass man mit mir nichts zu tun haben wolle, weil ich sei, wie ich war. Wie oft hörte ich, ich sei anders. Eben nicht genehm. Nicht normal. Mit solchen wolle keiner zusammen sein. Und die Verachtung in deiner Stimme, wenn du von denen sprachst, die anders sind, die fürchtete ich, im Blick anderer zu erkennen. Oder in ihren Worten zu hören.

Ich hatte Angst, ausgelacht zu werden. Ich erinnere mich an eine Singstunde in der Schule. Das Mädchen neben mir, Barbara hiess sie, sagte, mit meiner Stimme könne man nicht singen. Die sei schrecklich. Von da an sang ich nie mehr freiwillig. Zumindest nicht, wenn mich wer hörte. In der Umkleidekabine wurde ich ausgelacht, weil mein Bauch rausstand. Ich sei dick, sagten sie, und lachten. Ich sei wohl ein Fresssack. Sagten sie. Der Bauch blieb mein wunder Punkt. Obwohl ich heute schlank bin, beäuge ich ihn immer argwöhnisch. Und ich vertrage keine Kommentare zu meinem Essen. Weil ich mich gleich getroffen fühle. Das Thema ist ein Minenfeld geworden. Du weisst es. Wir hatten schwere Zeiten. Aber das ist nun nicht das Thema.

Ich wurde auch ausgelacht, weil ich die falschen Kleider trug. Auf meinen standen keine Marken. Sie waren brav. Langweilig. DU sagtest, sie seien toll. Die anderen seien nur neidisch. Niemand war neidisch. Ich schämte mich. Vor den anderen. Und dann vor dir, weil du enttäuscht warst über meine fehlende Dankbarkeit dir gegenüber.

Ich wurde ausgelacht, weil ich vieles nicht durfte. Zum Beispiel abends lange draussen bleiben. Oder über Mittag rausgehen. Oder auf der Strasse spielen. Oder bei der Garageneinfahrt spielen. Oder auf andere Spielplätze gehen. Oder… Die anderen waren so frei und sie lebten mir diese Freiheit vor. Sie gingen überall hin und ich blieb zurück. Allein. Und wenn sie zurückkamen, gehörte ich nicht mehr dazu. Ich war nicht dabei gewesen. Ich fühlte mich allein.

Manchmal fühlte es sich an, als sässe ich in einem Gefängnis mit zwei Wärtern. Beide bedacht, Regeln zu setzen und auf deren Einhaltung zu achten. Weil alles seine Ordnung haben musste. Egal, was andere durften oder taten. „Die haben keine Ordnung“, sagtest du mit Verachtung in der Stimme. Deine zu überdenken kam nicht in Frage. Sie stand ausser Diskussion.

Weisst du, ich bin sicher, du wolltest das Beste für mich. So wie du es sahst. Und doch habe ich darunter gelitten. Ich fühlte mich allein in einer Ordnung, die nur für mich zu gelten schien. Das Gefühl, allein zu sein, kenne ich auch heute noch. Es hat sich in mir eingenistet.

„Du sagst du bist frei und meinst dabei, du bist alleine.“

So singt Udo Jürgens weiter. Wenn ich ihn höre, fühle ich mich für einen Moment weniger allein. Und oft denke ich dann auch an dich.

(«Alles aus Liebe», XXVI)

Eine Geschichte: Vom Wandern (XXV)

Lieber Papa

Mir fällt auf, dass ich mehr Erinnerungen ans Berner Oberland habe als an Winterthur, wo wir zuhause waren. Fast scheint es, als ob wir in den Ferien mehr gelebt hätten, sicher mehr erlebt. Obwohl wir auch in Winterthur viel unternahmen. Und ich ja mein Leben mit Schule und mehr hatte da.

Auf alle Fälle erinnere ich mich an eine Wanderung. Aufs Stockhorn sollte es gehen. Es war Sommer und es war heiss. Darum starteten wir früh am Morgen beim Bergli, unserem Hotel, und liefen den Hügel hinunter ins Tal. Unten angekommen tagte es schon, die ersten Leute standen bei der Talstation der Luftseilbahn an. Ich wusste, dass wir uns nicht in die Kolonne einreihen würden. Wir würden laufen. Wir liessen die Talstation links liegen und folgten erst einer Strasse, die den Berg hinaufführte, bis wir auf einen Waldweg abzweigten.

Langsam stiegen wir höher, verliessen den Wald, kamen über Kuhweiden, vorbei an Ställen. Über uns der blaue Himmel und zwei Drähte, von denen einer immer stärker schwankte, weil von unten die rote Kabine hinauf schwebte. Als sie direkt über uns war, legte ich den Kopf in den Nacken und schaute hoch. Die Fenster der Kabine waren runtergelassen und Kinder winkten fröhlich zu uns nach unten. Ich winkte zurück. Etwas weniger fröhlich. Die Kinder lachten und riefen etwas, was ich nicht verstanden habe. Ich beneidete sie. Erinnerst du dich noch? Die Szene ist mir nie mehr aus dem Sinn gegangen. Ich drehte mich zu dir um und sagte:

«Wenn ich einmal Kinder habe, frage ich sie, ob sie laufen oder fahren wollen.»

Ein wenig später kamen wir zur Mittelstation. Du schautest mich an und fragtest:

«Und? Willst du den Rest mit der Seilbahn fahren oder wollen wir weiterlaufen wir geplant.» Ich wusste natürlich, was deine Präferenz war. Ich wusste aber auch, dass du mir zuliebe gefahren wärst. War es ein Gefallen an dich, dass ich mich fürs Laufen entschieden habe? Oder war es der eigene Ehrgeiz, der mich nun doch gepackt hatte? Auf alle Fälle sagte ich:

«Jetzt bin ich so weit gelaufen, nun laufe ich auch den Rest.»

Ein wenig Trotz war sicher mit dabei. Und Stolz. Ich wollte nicht schwach erscheinen vor dir. Ich wollte zeigen, dass ich das schaffe. Dass ich die Dinge zu Ende bringe und nicht mittendrin abbreche. Das war dir immer wichtig.

Und ich habe es geschafft. Bis zum Gipfel. Und wieder runter und den anderen Berg wieder hoch zum Hotel. Wir kamen erst am späten Nachmittag wieder oben an. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, und doch fühlte es sich auch gut an. Ich hatte nicht aufgegeben. Als wir beim Hotel ankamen, sagtest du:

«Das war doch nun schön, nicht wahr?»

Ja. Nein. Irgendwie doch.

(«Alles aus Liebe», XXV)

Eine Geschichte: Ein Stück Glück (XXIV)

Lieber Papa

Ich blättere mich weiter durch die Seiten des Albums. Ich arbeite mich von Bild zu Bild, stöbere in meiner Vergangenheit. Was mir auffällt: Ich lache kaum je auf den Bildern. Das deckt sich mit meinen Erinnerungen. Doch dann stosse ich auf ein Bild, auf dem ich glücklich aussehe. Ich stehe inmitten einer Schar von Kindern. Alle strecken die Arme zum Himmel, auf den Händen tragen wir einen grossen Drachen. Wir haben ihn, so erinnere ich mich, aus vielen Papieren zusammengesetzt und wollten ihn später fliegen lassen.

Das Bild ist in einem Sommerlager entstanden. Das Spielerlebnis fand jedes Jahr ganz in unserer Nähe statt und ich durfte hin. Zwei Wochen. Es war grossartig.

In der ersten Woche bauten wir in kleinen Gruppen Holzhütten. Das Material dazu, Holzlatten und -stangen gab es vor Ort. Die geübteren Baumeister schafften sogar doppelstöckige Häuser mit Leitern, die in den zweiten Stock führten. In einem Haus, ich erinnere mich genau, bauten wir sogar einen Balkon. Wie stolz wir waren. Unser Haus. Selbst gebaut.

In der zweiten Woche durften wir in diesen Hütten übernachten. Ich auch. Das gab es sonst nie. Ich war glücklich. Das Glück spricht aus dem Bild. Aus meinen Augen. Wie kaum sonst auf anderen Bildern.

Ich weiss noch, wie frei ich mich in diesen zwei Wochen fühlte. Da gehörte ich dazu. Da konnte ich sein, wie ich war. Da konnte ich ausleben, was in mir steckte. Ich konnte wild sein, konnte rennen, lachen, schreien, bauen, spielen. Wenn ich zurückdenke, jetzt beim Schreiben, merke ich, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht gebildet hat. Die Erinnerung bringt das Glück zurück. Wie schön.

Wir hatten grossartige Lagerleiter. Sie waren auch in der Pfadi aktiv. Da kam mir die Idee: Was, wenn ich dieses Sommerglück ins Jahr hineinziehen könnte? Ich wollte in die Pfadi. Jeden Samstag ein Stück Freiheit. Jeden Samstag wieder ein Stück vom Glück erleben. Das stellte ich mir schön vor.

Du hast es verboten. Du wolltest mich am Wochenende zu Hause haben. Das Wochenende gehört der Familie. Hast du gesagt. Mama schwieg. Wie immer. Was immer du geboten, verboten, kritisiert, bestraft hast. Sie schwieg. Und stimmte so zu. Das habe ich ihr übelgenommen. Wieso setzte sie sich nicht mal ein für mich. Wieso kämpfte sie nicht für mich? Gegen dich? Heute denke ich, sie fühlte sich wohl genauso hilflos wie ich. Weil auch sie deine Reaktion fürchtete.

Das zu schreiben fällt mir schwer. Weil du kein böser Mensch warst. Weil du mein Papa bist, den ich liebe.  

(„Alles aus Liebe“, XXIV)

Eine Geschichte: Elternbesuchstag (XXIII)

Lieber Papa

Ich mochte vieles an der Schule nicht, ganz schlimm fand ich die Elternbesuchstage. Erinnerst du dich auch? Es muss einer der ersten gewesen sein. Meine Tischnachbarin sagte etwas zu mir, ich musste lachen. Die Lehrerin schaute uns an, machte weiter. Sie schimpfte nicht. Das machtest du dann zu Hause. Ich hatte mir solche Mühe gegeben den ganzen Tag. So vieles habe ich gut gemacht. Ich wurde sogar gelobt von der Lehrerin. Das war alles kein Thema mehr. Nur das eine Lachen. Das warfst du mir vor die Füsse. Alle anderen hätten sich benommen. Nur ich nicht. Alle anderen seien brav gewesen. Nur ich sei negativ aufgefallen. Wieder einmal. Ich. Nicht gut genug. Alle anderen. Nur ich nicht.

Als der nächste Elternbesuchstag anstand, war ich aufgeregt. Ich wollte mir noch mehr Mühe geben. Ich sass da. Machte mit. War brav. Alles lief super. Am Schluss mussten wir aufstehen und nach vorne gehen, wo wir noch ein Lied sangen. Zum Abschluss. Ich war froh. Es war gut gelaufen. Du wärst stolz auf mich. Endlich. Unser Klassenclown stellte sich neben mich. Er schnitt Grimassen. Ich liess mich davon nicht ablenken. Lachte nicht, auch wenn es mich innerlich fast zerriss. Er war zu komisch. Ich habe es geschafft. Und lief dir freudig entgegen. Wir sind schweigend nach Hause gelaufen. Ich wusste, etwas ist nicht gut. Nur was war es? Ich war doch das Mädchen gewesen, das du dir wünschst. Brav, aufmerksam, still. Wie falsch ich lag. Ausgerechnet ich hätte neben diesem Jungen stehen müssen, der auffiel. Das hast du mir vorgeworfen.

Ich glaube, du hattest dieses klare Bild im Sinn, wie ein Mädchen sein sollte. Wie «man» zu sein hatte, wenn man ein Mädchen war. Ich musste nur noch passend gemacht werden. Ich musste zu diesem «man» werden. Ich habe gnadenlos versagt. Gnadenlos war auch deine Reaktion immer wieder. Enttäuschung. Verachtung. Schweigen. Ich wurde inexistent, weil ich nicht war, wie ich hätte sein sollen. Weil ich nicht war, wie man war.

Wenn ich das schreibe, fühle ich noch tief in mir die Einsamkeit. Und die Hilflosigkeit. Und eine grosse Trauer. Allem voran aber auch eine Unsicherheit. Ich bin wohl noch heute nicht so, wie man sein sollte. Ich höre es immer wieder:

«Wieso tut sie das? Wieso ist sie so?»

Du hattest wohl recht mit allem. So ist man nicht. So anders. Und es tut auch oft weh. Und doch kann ich nicht anders sein. Ich bin so. Und will es auch sein. Weil ich mich so wohlfühle mit mir. Nur mit den anderen nicht. Mit denen, die mich auch gerne anders hätten, mehr als jemanden, weniger als mich. Vielleicht wolltest du mich nur davor schützen? Vielleicht hofftest du, mir diesen Schmerz ersparen zu können, wenn du mich frühzeitig «normal» machst. Ich versuchte lange, mich anzupassen, indem ich mich verbog. Passend machte. Was selten gelang. Vermutlich, weil es für mich auch nicht mehr stimmte. Heute weiss ich, dass vieles einfacher gewesen wäre, wenn ich schon früh gelernt hätte, dass jeder sein darf, wie er ist. Weil ich in mir hätte vertrauen können, dass ich liebenswert bin als ich. Dass ich geliebt werde. Das Vertrauen fehlte mir. Ich musste es lernen. Für mich.

«Was man tut» und «was sich gehört» sind wohl Kategorien, mit denen viele aufgewachsen sind. Das «man» war die Richtgrösse, an der wir gemessen wurden. Gefolgt wurden sie vom Spruch

«Was sollen bloss die Leute denken?»

Er geistert noch heute in meinen Hirnwindungen herum. Bei vielem, was ich tun will, kommt er mir in den Sinn: Was werden die Leute denken, wenn… Der Satz ist zu einer Prägung geworden, zu einem Prüfstein, an dem ich mich messe und meist für zu leicht befinde.

Das Schreiben hilft mir, diese Prägungen zu erkennen. Es hilft mir, die Enge, das Korsett, den Druck in der Brust zuzuordnen, wenn ich in meine Muster verfalle. Es hilft, den Atem wieder frei fliessen zu lassen. Sogar beim Schreiben fiel mir auf, dass ich ihn angehalten habe. Vermutlich schreibe ich auch darum: Um wieder frei atmen zu können.

(«Alles aus Liebe», XXIII)

Eine Geschichte: Das Trottinett (XX)

Lieber Papa

Bei Lichte betrachtet waren es ja nicht nur wir drei. Da waren noch mehr. Andere. Zum Beispiel meine Grosseltern. Ich kannte sie kaum. Deine Eltern etwas besser, die von Mama praktisch nicht. Und zum ganzen Rest der Familie bestand keine Verbindung. Zumindest nicht für mich.

Erinnerst du dich? Als ich noch klein war, besuchten wir Grosi und Grossvati jeden Sonntag. Deine Schwester, meine Gotte, wohnte auch bei ihnen. Immer um 16 Uhr zogen wir los. Es waren nur zwei Strassen. Wir gingen zu Fuss. Während ich das schreibe, fällt mir auf, dass wir nie spontan gingen. Wir trafen sie auch nie zufällig. So nah waren sie. Und doch so fern.

Mamas Mutter und deren Mann besuchten wir sehr unregelmässig. Selten. Ich fühlte mich da nie wohl. Alles war so fremd. Das Haus. Die Menschen. Ihr trankt Kaffee. Ich sass in einem Ohrensessel. Klein. Still. Unbeteiligt. Da und doch nicht dabei. Irgendwie fand ich alles merkwürdig. Da war nichts Lebendiges. Kein Lachen. Nichts Liebes. Die Grossmutter und ihr Mann waren wie hölzerne Masken. Erinnerst du dich an die Holzmasken mit den schwarzen Haaren und den zerfurchten Gesichtern, die ich euch aus einem Schullager im Lötschental mitbrachte? So wirkten die Grosseltern auf mich, als ich noch klein war. Das konnte ich damals noch nicht so deuten, da ich die Masken erst viel später kennenlernen sollte. Habe ich sie euch drum gebracht? Wohl nicht. Sie waren im Wallis einfach sehr präsent. Und eindrücklich. Die habt ihr nicht mehr, oder? Ich frage mich gerade, wieso mir diese Masken plötzlich so wichtig sind. Vielleicht, weil ich mich für den Vergleich schäme.

Der Mann meiner Grossmutter, mein Grossvater, war nicht Mutters richtiger Vater, sondern ihr Stiefvater. Ihr Vater war gestorben, als sie noch ein Kind war. Das erfuhr ich erst viel später. Vielleicht habe ich etwas gefühlt. Ich glaube es. Später erfuhr ich, dass Mama als Kind unter diesem Mann gelitten hat. Aber über solche Dinge spracht ihr nie. Die fielen unter den Tisch.

Einmal waren wir bei diesen Grosseltern zum Essen eingeladen. Ich glaube, es war Grossmutters Geburtstag. Ich erinnere mich an keine andere Einladung da, obwohl die Grossmutter lange lebte. Merkwürdig. Auf alle Fälle waren alle da, auch meine Onkel und Cousinen. Ich kannte keinen. Wir waren alle in Festkleidung, ich trug eines der „schönen Kleider“, die ich nur bei speziellen Anlässen tragen durfte. So war sicher, dass sie nicht zerrissen waren von meinen Ausflügen über Zäune und auf Bäume.

Das kleine Haus meiner Grossmutter lag ganz oben am Hügel. Unter dem Haus kamen viele weitere Einfamilienhäuser. In unserer Familie war sie die Einzige, die ein Haus hatte, alle anderen wohnten in Wohnungen. Sie war auch die Einzige, die immer jammerte, dass sie kein Geld hätte. Das betonte sie vor allem dann, wenn mein Geburtstag oder Weihnachten anstanden. Sie drückte mir dann verstohlen eine kleine Note in die Hand und sagte, dass es für Geburtstag und Weihnachten zusammen sei. Ich musste mich artig bedanken. Das gehörte sich so. Dem Grossvater durfte ich nicht danken, da er nichts wissen durfte.

„Psst, sag deinem Grossvater nichts davon.“

Sagte sie. Das war mir nicht recht. Ich glaube, ich hätte lieber nichts bekommen.

Bei dem Geburtstagsfest war mir langweilig. Mein Grossvater merkte das und nahm mich mit in seine Werkstatt. Da hatte es ein Trottinett. Noch nie war ich mit sowas gefahren. Er reichte es mir und ich wollte es probieren. Ich stand oben am Hang. Die Strasse ging steil runter und dann wieder steil rauf. Die ersten Male fuhr ich zögerlich bergab. Es war mehr ein ständiges Bremsen als ein Fahren. Danach lief ich auf der anderen Seite wieder hoch, das Trottinett stossend. Da kam mir die Idee: Ich wollte könnte, das Trottinett stossend, hinunterrennen, unten aufs Trottinett springen, den Schwung mitnehmen und so hochsausen. Das klang nach einem guten Plan. Ich rannte los, schob das Trottinett mit, sprang unten auf – leider nur fast, denn ich verfehlte das Trottinett. Ich schlug der Länge nach hin, das Trottinett knallte auf den Boden.

Was für ein Schock. Hoffentlich hatte ich es nicht kaputt gemacht. Ich stellte mir vor, wie du schimpfen würdest, wenn ich das Trottinett nicht mehr heil zurückbrachte. Du würdest sagen, dass die Cousinen brav waren, nur ich mache Mist. Nur ich sei mal wieder dumm, nur ich hätte mal wieder Unsinn im Kopf, nur ich blamiere dich. Danach wäre Schweigen. Wohl für lange.

Ich hatte Glück. Das Trottinett war heil. Der nächste Schreck: Das Kleid. Ich blickte an mir herunter. Ausser ein paar Dreckflecken war auch das in Ordnung. Dann fiel mein Blick aufs Knie. Es war komplett blutig geschlagen, viele kleine Kieselsteine steckten drin. Ein Schreck durchfuhr mich. Was würdest du sagen? Dass es schmerzte, realisierte ich nur am Rande, zu sehr war ich mit meinen Sorgen beschäftigt.

Langsam lief ich zum Haus zurück, stellte das Trottinett vor die Garage, ging in die Pergola und setzte mich an den Tisch. Keiner nahm Notiz von mir. Ich war froh. Plötzlich fragte mich meine Grossmutter, wie es gewesen sei. „Hast du Spass gehabt?“, fragte sie. Ich nickte stumm. Sie liess nicht nach. Sie fragte nach: „Ist alles in Ordnung?“ Ich nickte. Wohl mit ein paar Tränen in den Augen. Das Knie brannte. Es tat weh. Ich sagte nichts. Alle blickten her (stelle ich mir heute vor, ich weiss es nicht mehr). Du hast eine Augenbraue hochgezogen. Wohl, weil ich schon wieder auffiel. Das weiss ich noch. Was ich nicht weiss, ist, wie es rauskam. Das mit meinem Knie. Irgendwann wussten sie es. Meine Grossmutter nahm mich mit in die Küche. Ich sollte auf den Küchenschemel sitzen und sie wollte das Knie verarzten. Ich hatte Angst davor. Die Wunde war gross. Das könne man nicht so lassen. Sagte sie. Sie lief zum Medizinschrank und kam mit einer braunen Flasche wieder zurück. Ich wollte weg, doch sie meinte, sie müsse die Steine aus der Wunde ziehen. Das entzünde sich sonst. Sie war mir so fremd und sie war so nah vor mir. Und mein Knie war wund. Und schmerzte. Und ich fühlte mich so allein.

Als sie alle Steine entfernt hatte, nahm sie die braune Flasche. Jod sei das. Das kannte ich nicht. Es brannte. Und da kamen die Tränen. Sie hat mich getröstet. Sie machte mir ein Pflaster auf das Knie. Eigentlich war sie sehr lieb da. Ich ging zum Tisch zurück.

Du hast mich nicht angeschaut. Du hast kein Wort zu mir gesagt. Du redetest mit den anderen weiter. Ich konnte das nicht einordnen. Es verunsicherte mich. Ich weiss nicht mehr, ob danach noch was kam. Erinnerst du dich noch an diesen Tag?

(«Alles aus Liebe», XX)

Eine Geschichte: Musik machen (XIII)

Lieber Papa

Erinnerst du dich an meine ersten Schritte in der Musik? Blockflöte war’s. Im Kindergarten, ich war wohl etwa 5. Ich erinnere mich nicht mehr an das Spielen selbst, ich erinnere mich nur noch an die goldenen und silbernen Sternchen, die wir ins Heft kriegten, wenn wir gut übten. Die Schlechtesten kriegten nichts, dann kam ein kleiner silberner Stern, ein grosser silberner, ein kleiner goldener und für die besten Spieler ein grosser goldener. Ich wollte diese Sterne, nur darum ging es mir. Das denke ich zumindest heute. Mit der Blockflöte hatte ich Glück. Ich musste nicht üben und konnte trotzdem alles spielen. Irgendwie lag mir das Instrument. Talent hätte ich, sagte die Lehrerin. Daran erinnere ich mich. Hast du mich je spielen gehört? Ich erinnere mich nicht daran.

Ich habe nicht lange Blockflöte gespielt. Weisst du noch? In der Stadt war Gewerbeausstellung, als ich sechs war. Wir gingen hin. Ich liebte es, überall die Prospekte einzusammeln. Was ich damit machen wolle, fragtest du. Ich wusste es nicht. Aber sie waren so schön bunt. Und dann hörte ich die Musik. Da war dieser Mann, der aus einem einzigen Instrument unendlich viele Melodien, Rhythmen und Stimmen herausholen konnte. Er klang allein wie eine ganze Band. Ich war begeistert. Das war wie ein Wunder, das wollte ich auch. Schon da zeigte sie sich: Meine Faszination für Musik. Woher kam sie? Wir hörten kaum welche. Sie sollte noch viel grösser werden und tiefer gehen. Dazu später. So oder so: Ich durfte Orgel lernen. Ich erinnere mich noch an das Gefühl, als die Orgel bei uns einzog. Es war gross.

Ich liebte es, an all den Knöpfen und Hebeln rumzudrücken, liebte es, die Orgel selbst spielen zu lassen. Nur eines liebte ich nicht: Das Üben. Einmal pro Woche musste ich zum Unterricht. Der Lehrer war nett. Und sehr nachsichtig. Mama nicht. Sie stellte den Timer, dass ich auch täglich genügend übe. Keine Minute weniger. Es gab keine Unterbrüche oder Pausen, es gab nichts als mich und die Orgel. Ich hätte Talent. Sagte der Lehrer. Später erfuhr ich, dass Mama auch mal ein Instrument lernen sollte. Akkordeon. Sie sei unmusikalisch gewesen. Sagte sie. Sie hörte bald wieder auf. Sollte ich das nun für sie nachholen? Oder für dich die Musik wieder ins Haus holen, nachdem deine Jazzplatten nicht mehr gespielt wurden? Was liess sie verstummen? Ich weiss es nicht. Was ich weiss: Dieses Üben mit der Stechuhr vermieste mir alle Freude. Da nützte mir auch das Talent nicht. Immerhin gingen mir die Lieder gut von der Hand, ich schaffte sie mehrheitlich ab Blatt. Wenn es dann gut klang, war ich immer ein bisschen stolz.

Fürs Gymnasium musste man ein Instrument wählen, Orgel war nicht zugelassen. Ich wechselte zum Klavier. Ihr wolltet das so. Das sei nah dran. Ich hätte lieber Saxofon gespielt. Da hattet ihr kein Musikgehör. Nun gut. So schwer kann das nicht sein. Dachte ich mir. Immerhin Tasten. Wie die Orgel. Sogar nur ein Manual. Also einfacher. Und weniger Pedale. Noch einfacher. Dachte ich mir. Nur: Das Klavier lag mir nicht. Mir lag die Musik nicht, die ich da spielen sollte. Es klang alles so fremd. Es sprach mich nicht an, mir fehlten die packenden Rhythmen, die eingängigen Melodien. Klassik. Das hatte ich vorher noch nie gehört. Ich hatte keinen Zugang. Und mir fehlten die weiteren Pedale, mir fehlte das zweite Manual. Mir fehlte meine Musik. Die, welche ich verstand.

Zu Hause musste ich üben. Täglich eine halbe Stunde. Es war eine Qual. Ich kürzte ab. Erinnerst du dich an Bettina, die über uns wohnte? Sie spielte auch Klavier.

„Hör nur, Bettina übt jeden Tag 30 Minuten. So macht es richtig. Nicht wie du. Nimm dir ein Beispiel!“

Ich habe es versucht, das mit dem Beispiel. Es gelang nicht lange. Es machte keine Freude. Dir hätte ich besser gefallen, wäre ich wie Bettina gewesen. Ich spürte immer einen leisen Stich, wenn ich sie üben hörte. Ich fragte mich, wieso ich nicht sein kann wie sie. Dann wäre ich gut genug. So war ich es nicht.

Bettinas Klavier wurde nach einem halben Jahr abgeholt. Ich spielte bis zur Matur weiter. Zwar bedauerte meine Klavierlehrerin – ich sehe sie noch vage vor mir, weiss aber ihren Namen nicht mehr – immer, dass ich mein Talent verschwende, aber sie nahm es mir nicht übel. Sie setzte sich mit mir hin und wir spielten vierhändig ab Blatt. Ich liebte es. Zwar lernte ich nie virtuos Klavierspielen, aber ich hatte in den Momenten Freude an dem, was ich tat – was wir taten.

Die Sehnsucht nach einem Saxofon oder einer Gitarre kam immer wieder auf. Leider konnte ich da nie Stunden nehmen. Ob ich mehr geübt hätte? Manchmal finde ich es schade, dass ich kein Instrument spielen kann. Was ich nicht bereue, sind all die anders genutzten Stunden, wenn ich nicht geübt habe. Und: Meine Liebe zur Musik kann ich zum Glück anders ausleben, mit all denen, die geübt haben und nun für mich spielen. Vielleicht muss man gar nicht alles selbst können. Und es ist trotzdem gut genug.

(„Alles aus Liebe“, XIII)

Eine Geschichte: Alles aus Liebe (0)

Was aus Liebe getan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse!
Friedrich Nietzsche

Einleitung

Hertha Müller schrieb mal, Schreiben sei ein innerer Halt. Ich gebe ihr recht und weiss nicht genau, wieso. Woran halte ich mich, während ich all das hier schreibe? Wo finde ich etwas, woran ich mich halten kann? Würde ich sonst fallen. Wohin? Ist es so schlimm, zu fallen? Was macht mir Angst? Oder bin ich schon unten und will hoch? Suche ich einen Halt, an dem ich mich hochziehen kann? Vielleicht ist der Halt auch von einer anderen Art: Durch das Schreiben werden Dinge fassbarer, die vorher lose und vage umherschwirrten. Vorher verwirrten sie mein Hirn, weil sie nicht zu greifen, nicht zu begreifen waren.  

Hannah Arendt schrieb, sie denke ohne Geländer. Sie verzichtet also auf den Halt. Sie meinte damit, dass sie ihre eigenen Gedanken dachte, ohne sich auf andere zu stützen oder an sich an diese zu halten. Kant beschwor den Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Greife nicht auf schon Gedachtes zurück, sondern schau frei und frisch nach vorne. Es scheint, die eigenen Pfade sind nicht die einfachen. Sie sind nicht vorgespurt. Sie bergen Risiken.

Schreiben heisst für mich, verstehen. Durch das Aufschreiben stehen die Dinge vor Augen, ich kann sie betrachten und sie sagen mir etwas. Schreiben in dem Sinne soll mir etwas sagen. Und es ist ein Ausdruck dessen, was in mir ist. Bei dem hier Geschriebenen geht es nicht um Schuld, Klage oder Anklage, auch wenn das ab und zu so klingen mag. Es geht darum, zu verstehen, was gewesen sein könnte. Und vielleicht lässt sich daraus ableiten, was ist.

Schreiben muss wahrhaftig sein. Dem verpflichte ich mich. Das hier ist keine Autobiografie. Es ist nicht die Wahrheit, aber auch keine Lüge. Es ist ein Versuch, eine Geschichte zu erzählen. Stück für Stück, wie sie sich zeigen will.

(„Alles aus Liebe“, Einleitung)

Abschied

Nun sind es sechs Jahre. Sechs Jahre, in denen die Welt weiterdrehte, das Leben weiterging. Trotzdem.

Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Masche Kaleko

Als mein Vater starb, war mir dieses Gedicht wie aus dem Herzen geschrieben. Ein Weiterleben erschien fast undenkbar, meine Welt war dunkel und voller Schmerz. Wer könnte meinen Schmerz verstehen? Wer könnte wissen, was ich bis hier hin durchgemacht habe, wer nachvollziehen, wo ich nun stand? Ich fühlte mich trotz vieler gut gemeinter Worte allein – im wahrsten Sinne des Wortes verlassen. Zum Glück bin ich es nicht. Und doch hat mich der Weg geprägt, hat mir diese Erfahrung einiges mit auf meinen weiteren Weg gegeben.

Der Tod entreisst. Er trennt, was mal zusammen war. Er nimmt den einen mit und lässt den anderen ohne diesen zurück. Nun wissen wir alle nicht, was der Tod wirklich ist, was danach kommt – wir haben unsere Vorstellungen, Ideen, schöpfen auch Halt daraus. Was wir aber wissen – heute erinnern wir uns daran – ist, wie es für uns (für jeden einzeln von uns) ist, zurück zu bleiben, wenn einer geht.

Wo mal etwas (oder gar ganz viel) war, ist nichts mehr. Und doch auf eine andere Weise auch ganz viel. Wo grad noch jemand stand, steht keiner mehr – und doch ist er noch da. Irgendwie. Und oft ganz heftig gefühlt, fast schon überwältigend. Dann wieder still und leise – und… auch ab und an freudvoll. Was wäre da, wäre all das, was mal war, nicht gewesen? Wie dankbar kann man sein für das, was war, wenn es noch nachhallt? Und doch ist da auch der Schmerz, weil es gut war, und man das Gute gerne bewahren würde. Genau so, wie es gut war.

Menschen treten in unser Leben. Manche gehen gleich wieder, andere bleiben eine Weile, gehen dann, weitere bleiben lange. Weil es passt. Umso schwerer fällt der Abschied. Und doch bleibt die Dankbarkeit, dass sie da waren.

„Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“

Die Frage ist anfangs drängend, oft wohl auch überwältigend. Sie weicht mit der Zeit zurück, steigt nur ab und an am eigenen Firmament wieder auf im Sinne eines „ich vermisse dich“. Was bleibt ist die Erinnerung. Und damit der, der nicht mehr ist. Schön, wenn man sie lebendig halten kann, schön, wenn sie weiter Teil des Lebens ist. Und wunderbar, wenn sie zu einer friedvollen und freudvollen wird im Sinne einer Dankbarkeit dafür, dass war, was war, und noch sein darf, was ist. So leben Menschen weiter. Vielleicht ein bisschen ewig.

Rilke dichtete einst – das Gedicht ist übrigens mein Lebensmotto:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Und wer weiss: Vielleicht ist der letzte Ring auch der Ring, den andere für uns weiter ziehen. Durch ihre Erinnerung. Und wir gestalten diese Erinnerung durch unsere Gegenwart.

Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, und doch schaue ich ab und zu zum Himmel hoch und denke an ihn. Vielleicht weil wir früher gemeinsam oft zum Himmel schauten und über die Sterne sinnierten.

Ich schreibe an einem Buch, in dem ich mein Aufwachsen erinnere. Mein Aufwachsen mit ihm. Der Arbeitstitel ist „Mein Papabuch“. Die Arbeit daran bringt mir so vieles wieder ins Heute, das ich vergessen hatte. Zumindest glaubte ich das. Und so lebt er doch irgendwie auch weiter. Mit mir.

Danke für dein Dasein – so lange.

Erinnern an die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933

«Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.» Heinrich Heine

Weil nicht sein durfte, was nicht genehm war. Weil nicht genehm war, was den vorgeschriebenen Dogmen entsprach. Weil es nur ein Mass aller Dinge gab und alles daneben weg musste. Aus diesem Geist heraus versank die Welt in Dunkelheit. Es wurde offensichtlich, wozu Menschen fähig sind. Hätte man mal früher hingeschaut. Wie lange waren sich viele (auch intelligente Leute) sicher, dass alles gut gehen würde. Dass alles nicht so schlimm würde. Dass es bald vorüber wäre. Dass keine Gefahr herrsche. Nicht wirklich. Welch ein Irrtum. Und als es vorüber war, hiess es: Nie mehr. Und man meinte es ernst. Die Zeit festigte den Glauben, dass es gelingen könnte. Ich bin mir nicht mehr sicher. 

91 Jahre ist es her, dass es in Deutschland zu einer öffentlichen Bücherverbrennung kam, organisiert von der nationalsozialistischen Deutschen Studentenschaft unter dem schönen Titel «Wider den undeutschen Geist». Die Liste der Autoren liest sich fast wie der heutige literarische Kanon deutschsprachiger Literatur. 

Nach mittlerweile Jahrzehnten, die ich mich mit den Themen Shoah, Exilliteratur, Völkermord beschäftige, ist mir eines immer noch nicht gelungen: Die tiefe Trauer, die Wut, das Entsetzen abzulegen, wenn ich wieder neu damit konfrontiert bin. Wir müssen uns erinnern. Daran, was war. Vielleicht ist das «nie mehr» doch noch nicht ganz vorbei. 

Hier ein paar Buchtipps, um die Erinnerung hochzuhalten:

Und eine Erinnerung an Jean Améry – seine Bücher kann ich ans Herz legen. Ebenso die von George Tabori.

Habt einen schönen Tag!

Lizzie Doron: Nur nicht zu den Löwen

Inhalt

«Ich wollte, dass man versteht, dieser Ort ist nicht nur ein Zuhause, es ist eigentlich ein Museum, oder wenn Sie so wollen, eine Gedenkstätte für alles, was mir im Leben passiert ist. Und noch passieren wird.»

Rivis Haus, in dem sie ihr Leben lang wohnte, wird abgerissen. Sie verliert ihr Zuhause, sie muss raus. Rivi fängt an zu schreiben. Sie schreibt Briefe an Menschen, die ihr Unrecht taten, schreibt über ihre Erinnerungen, ihre Herkunft, ihr Leiden, ihre Einsamkeit. Und sie kämpft. Gegen den Abbruch, dagegen, Opfer zu sein. Doch bei all dem Leiden liegt die Möglichkeit, dass alles viel schöner war, als sie sich erinnert. Und wer weiss, vielleicht wird die Zukunft auch schöner, als sie im Moment befürchtet. 


Gedanken zum Buch

«Ich war ein Mädchen, das die meiste Zeit schwieg, doch tatsächlich wollte ich mein ganzes Leben lang reden, wollte nichts lieber als das. Und jetzt kommt der Tag, und ich rede, oder schreibe vielmehr.»

Rivi hat lange das gemacht, was andere für sie bestimmt haben. Sie liess sich – auf eine manchmal fast erzürnend naive Weise – umherschieben, an der Nase herumführen und hinhalten. Sie spielte das Spiel der Männer mit, die mit ihr ein leichtes hatten. Nun ist der Moment, das zu ändern. Die Aussicht, dass ihr Zuhause abgerissen werden soll, dass sie fremden Bestimmungen weichen muss, weckt ihre Widerstandskräfte, lässt sie endlich ihre Stimme entdecken. Sie will kämpfen. Und sie will aufräumen mit ihrer Vergangenheit und den Menschen, die diese geprägt haben.

«Grosser Gott, wusstest du, dass die Vergangenheit niemals etwas ist, das aus und vorbei ist?»

Auch wenn vergangene Zeiten und was in ihnen geschehen ist, vorbei sind, greifen sie in die Gegenwart hinein. Sie hinterlassen ihre Spuren, prägen das Denken, Fühlen und Handeln. Durch Verdrängen wird man die Vergangenheit nie los, man muss sich ihr stellen. Das will Rivi tun. Sie tut es auf ihre Weise, indem sie Briefe schreibt und den Menschen aus ihrer Vergangenheit ihre Sicht darlegt.

«Diese Idee des Schreibens hat Besitz von mir ergriffen, mein Kopf rast vorwärts, oder besser, rückwärts, und du kennst mich, meine Obsessionen und ich schwenken keine weisse Fahne, ehe die Aufgabe nicht bewältigt ist.»

Einmal angefangen, kann sie nicht mehr aufhören. Immer weitere Gedanken gehen ihr durch den Kopf, immer mehr will sie zu Papier bringen und an die entsprechenden Menschen schicken. Fast scheint es, als ob ein Ventil aufgegangen ist und sich nun alles ergiesst, was vorher angestaut war.

Fazit

Ein Buch in Briefen, Fragmente von Lebenserinnerungen werden zusammengetragen und adressiert. Nach anfänglichem Kampf und Fast-Abbruch nahm das Buch Fahrt auf und zog mich in seinen Bann.