Tagesgedanken: Ich erzähle mir von mir

Manchmal erzähle ich mir eine Geschichte. Ich erzähle mir von meiner Kindheit, von meiner Jugend, lasse Beziehungen Revue passieren und male mir so ein Bild von dem Menschen, der ich war und bin. Und irgendwann erzähle ich mir wieder eine Geschichte. Es ist die Geschichte meines Lebens, wie es war, und die Geschichte davon, wie ich wurde, wer ich bin. Es ist eine andere Geschichte. Und doch die gleiche. Und ich bin die gleiche – und doch ist etwas anders. Und mir schwant, dass ich wohl viele bin, nicht nur eine. Und die vielen zeigen sich auch teilweise, indem sie in mir miteinander streiten, weil jede etwas anderes denkt und will.

Manchmal fühle ich mich von all dem überfordert und frage mich, wer von all dem ich denn nun wirklich bin. Was ist die Wahrheit, was ist Wirklichkeit? Und dann merke ich, dass alles wahr ist. Ich habe nirgends gelogen, nichts erfunden – und doch irgendwie alles. Ich habe mich in diesen Erzählungen gefunden und teilweise auch erfunden, indem ich erzählte und beim Erzählen eine Auswahl traf. Im Moment des Erzählens erschien diese Auswahl richtig. Etwas verunsichernd war, zu sehen, wie viel dabei unbewusst ablief, wie ich ohne Absicht ein Bild von mir entwarf, das ich für die Realität hielt. Das zeigte mir, wie viel sich eigentlich meiner Kontrolle entzieht, wie viel bei mir abläuft, ohne dass ich es mitkriege, wie sehr ich gesteuert bin durch Muster, Denkweisen, Prägungen.

Ich merkte aber auch, dass das in Ordnung ist, dass ich in Ordnung bin. Es ist auch tröstlich, zu sehen, dass man viele Geschichten in sich trägt, die alle wahr sind, dass man ganz viel ist, nicht nur das, was vielleicht mal nicht gut läuft. Es ist hilfreich, wenn man in Situationen, in denen man einen Fehler macht, mal nicht optimal reagiert, zu wissen, dass man noch viel mehr ist als nur das. Man hat nur nicht zu jedem Zeitpunkt alles zur Hand und alles im Griff. Und vielleicht ist dieses Wissen um das eigene Sein, den eigenen Wert, das Wissen, dass dieser Wert nicht schwindet durch eine Unzulänglichkeit, das grösste Glück.

«Das Glück hängt an dem Selbst, das sich dessen erfreut und damit im reinen ist, sich nicht vollends im Griff zu haben.» (Dieter Thomä)

Vielleicht sollten wir uns mal unser Leben erzählen. Und am nächsten Tag nochmals. Und dann wieder. Und dann sehen, wie viele Leben wir lebten und was wir alles sind.

Tagesgedanken: Was ist wahr?

Kürzlich sass ich nachts auf der Terrasse, schaute in den schwarzen, wolkenbehangenen Himmel und den gelben Mond. Es sah aus, als führe der Mond durch die Wolken, als brause er förmlich in sie hinein, um auf der anderen Seite wieder rauszukommen. Ich war fasziniert. Ich wusste vom Verstand her, dass es andersrum ist, dass die Wolken zogen und der Mond stand. Doch hätte ich ohne dieses Vorwissen beim blossen Anblick nie an eine solche Möglichkeit geglaubt.

Nun ist es sicher gut, dieses Wissen, das man sich ja nicht selbst erarbeiten konnte, zu glauben, gilt es doch als aktuelle Wahrheit (auch wenn es vielleicht nur der derzeit gültige Irrtum ist). Es sei denn, ich hätte wirklich die Möglichkeit der eigenen Überprüfung, dann sollte ich das tun.

Mir kam der Gedanke, dass wir das im Leben auch oft so machen: Wir erleben etwas und beurteilen es. Wir sind an einem Anlass, jemand schaut uns auf eine Weise an, und wir denken: «Der hat was gegen mich.» Vielleicht fangen wir uns sogar an zu fragen, was wir getan haben, dass dies so ist, suchen nach Fehlern bei uns und steigern uns förmlich rein in dieses Nicht-gemocht-Sein. Leider gibt es hier kein allgemeingültiges Wissen, das hier helfen könnte, zudem sind wir mehr als überzeugt von unserer Sichtweise, schliesslich haben wir den Blick gesehen und sind nicht ganz blöd. Denken wir.

Wir haben eine beschränkte Wahrnehmung und wir sind oft durchdrungen von Ängsten und Verletzlichkeiten. Wir fürchten, nicht gemocht zu werden, und achten aus dieser Angst heraus darauf, wie andere auf uns reagieren. Wir neigen dazu, den eigenen Ängsten recht zu geben, sind sie doch unser Begleiter und damit eng vertraut. Unser so geprägter Blick sieht also schnell das, was zur Angst passt. Und wir sind verletzt.

In solchen Situationen kann es uns helfen, innezuhalten und uns zu fragen: Ist das wirklich wahr? Weiss ich, dass er mich nicht mag? Könnte es andere Gründe für den Blick geben? Oder hat er vielleicht gar nicht mich angeschaut? Und selbst wenn es so wäre: Sind hier nicht auch noch ganz viele Menschen, die mich mögen? Wäre der Abend nicht schöner, ich würde mich daran freuen als mich über den einen (von dem ich nicht mal weiss, ob meine Wahrnehmung stimmt) zu grämen?

«Wir müssen unsere Sinneswahrnehmungen beobachten und unsere Reaktionen darauf überprüfen.» (Epikur)

Es ist an uns, zu entscheiden, worauf wir unseren Fokus lenken und wie wir das, was wir sehen und erleben, behandeln. Nicht das, was ist, lenkt unsere Gefühle, sondern das, was wir daraus machen.

Tagesgedanken: Glück

«Was strebt ihr also mit all eurem Lärmen um Glück? Ich glaube, ihr sucht den Mangel durch Fülle zu verjagen; doch das schlägt sich euch zum Gegenteil aus.»

Das schrieb Boethius im 6. Jahrhundert nach Christus und man könnte die Frage wohl heute noch so stellen: Glück scheint das höchste Gut und alle streben danach, es zu erhaschen. Was erfüllt sein muss, damit man glücklich sei, darüber wurde seit Menschengedenken ganze Bücher gefüllt. Aristoteles verortete es in einem tugendhaften, Epikur in einem lustvollen (wobei sein Lustbegriff nicht dem alltäglichen heute entspricht) Leben. Viele erhoffen sich Glück durch Reichtum, doch ist man wirklich glücklich, wenn man immer noch mehr hat? Studien widerlegen das. 

Vielleicht trifft es Schopenhauer, der eine Heiterkeit des Gemüts als beste Voraussetzung nennt, glücklich zu sein. Dem stimmt auch Jean Paul zu, welcher findet, dass Heiterkeit und Frohsinn die Sonne seien, unter der alles gedeihe – dann also auch die Sache mit dem Glück. Nur: Mal gefunden, bleibt es selten, denn die grösste Sicherheit in Bezug auf das Glück besteht darin, dass es unsicher, weil unbeständig ist. Oder ist gerade das der Grund, weswegen es uns so wertvoll erscheint? Ist das, was nicht immer da oder von einem Ende bedroht ist, gerade drum so erstrebenswert, so auch das Leben an sich?

Ich denke – diese Sicht teilen auch die meisten Philosophen -, dass Glück nur dann entstehen kann, wenn es aus uns selbst entsteht. Äussere Güter sind ihm kaum zuträglich, in jedem liegt immer eine Gefahr. Vielleicht kann man die Aussage, dass jeder seines Glückes Schmied sei, auch so verstehen, dass das, was wirklich Glück mit sich bringt, aus einem selbst kommen muss und man das selbst in der Hand habe, frei nach Epiktet: Es gibt Dinge, die wir beeinflussen können, andere nicht. Kümmern wir uns um die ersten.

Sollte es doch mal nicht zum Glück reichen, halten wir es mit Wilhelm Schmid, der auch im Unglück viel Wertvolles sieht, denn aus ihm entsteht oft eine Weiterentwicklung, ein neuer Weg hin zu etwas Anderem und vielleicht Besseren. Und bewahren wir die Hoffnung:

„Am Ende wird alles gut. Und ist es nicht gut, ist es nicht das Ende.“

Tagesgedanken: Schöpfer meiner Welt

Bei Heinz von Förster las ich mal, ein Baum, der umfalle, mache kein Geräusch, wenn es keiner hört. Das widersprach allem, was ich logisch fand. Das Geräusch, so dachte ich, hängt ja nicht von meinem Hören ab, sondern vom Umfallen. Nicht ich produziere dieses Geräusch, sondern der Baum. Er gleitet durch die Luft, trifft beim Fallen auf andere Äste, schlägt auf dem Boden auf. All das produziert Geräusche. So gedacht, käme es nicht drauf an, ob ich da bin, es zu hören, oder nicht. Ich war überzeugt. Doch stimmt das wirklich? Existiert ein Geräusch, das keiner hört?

Simone de Beauvoir hatte den gleichen Gedanken in ihrem Roman «Sie kam und blieb»:

«Wenn sie nicht da war, existierte alles das, der Staub, das Halbdunkel, die trostlose Öde für niemand, es existierte überhaupt nicht… Solche Macht hatte sie: ihre Gegenwart riss die Dinge aus ihrem Nichtsein heraus, gab ihnen Farbe und Duft.»

Ist da also eine Welt, in die wir geboren werden und die wir sehen, wie sie ist, oder erschaffen wir durch unser Dasein, durch unsere Wahrnehmung die Welt erst? Ich für mich denke noch immer, dass alles da ist, egal ob ich es wahrnehme oder nicht. Meine Präsenz ist nicht ausschlaggebend für die Präsenz anderer Dinge. Ich denke aber auch, dass es so, wie ich es wahrnehme, nur ist, weil ich es wahrnehme. Ein anderer würde es anders wahrnehmen und damit eine andere Welt vorfinden als ich das tue. Insofern gibt es eigentlich ganz viele Welten, für jeden die selbst wahrgenommene. Und doch sind all diese Welten die eine Welt, die wir uns teilen. 

So oder so finde ich den Gedanken, dass wir der Schöpfer unserer Welt sind, wertvoll, denn er zeigt uns, dass wir die Welt auch verändern können, indem wir unseren Blick auf sie verändern, indem wir eine andere Perspektive einnehmen. Durch die Möglichkeit verschiedener Sichtweisen schaffen wir mehr Offenheit in unserer eigenen Wahrnehmung. Zusätzlich kann es uns auch zugänglicher machen für den Gedanken, dass andere Menschen genau wie wir die Schöpfer ihrer Welt sind, und dass diese, ihre Welt, auch wenn sie sich von unserer unterscheidet, die gleiche Berechtigung hat wie unsere. Ist es nicht auch spannend, mehr über die fremden Welten zu erfahren, als sich in der eigenen kleinen Welt zu verschanzen?

Tagesgedanken: Nein sagen

Wir leben in einer Gesellschaft, die Menschen gerne dahingehend einteilt, was sie in ihrem Leben geschafft haben – oder eben nicht. Die einen bewundern wir als die Macher, die Erfolgreichen, die anderen werden verachtet, oft noch mit der Haltung: Selbst schuld, sie haben sich nicht genug angestrengt. Es liegt der Gedanke dahinter, den Juliane Marie Schreiber in ihrem Buch «Ich möchte lieber nicht» kritisiert: 

«Jeder kann alles schaffen, wenn er nur genug an sich glaubt. Es ist das Credo der Leistungsgesellschaft mit ihrer Ethik des Erfolgs.»

Ist das so? Kann ich wirklich alles schaffen, was ich will, und wenn es nicht klappt, wollte ich nicht genug oder habe nicht genug gegeben? Bin ich schlicht nicht gut genug, wenn ich nicht alles erreiche, das erreichbar ist? Ist der Arbeitslose zu faul und der Kranke zu disziplinlos? Wollen beide nur nicht genug, weil sie sonst Arbeit hätten und gesund wären? Dieses Denken ist nicht nur gefährlich für den Einzelnen, weil es ihn in eine Verantwortung schiebt, die ihm nicht zukommt, sie ist auch der sichere Weg dahin, alles beim Alten zu lassen, da es ja nicht an einem mangelnden Schulsystem, an unfairen sozialen Verteilungsmechanismen oder Unterdrückung liegt, wenn ein Leben nicht den gewünschten Weg nimmt, sondern nur am Individuum selbst. 

«Nein, wir können nicht alles sein, wenn wir nur fest genug daran glauben… Nur wer das erkennt, kann überhaupt die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern.»

Wir leben in Strukturen, innerhalb derer wir unser Leben gestalten können/müssen. Es gibt viele Möglichkeiten des Umgangs mit den Strukturen: Wir können sie ignorieren und einfach unser Leben leben. Das kann gut gehen, kann uns aber auch unbewusst durch gegebene Strukturen steuern. Wir können sie annehmen, weil sie uns ein Leben ermöglichen, das für uns angenehm ist oder zumindest angenehmer, als uns dagegen aufzulehnen. Wichtig ist es für eine bewusste Lebensführung, uns bewusst zu sein, dass es nicht immer in unserer Macht steht, wie diese Strukturen aussehen. Oder wie Wilhelm Schmid in seinem Buch «Philosophie der Lebenskunst» schreibt:

«Nicht jede Veränderung steht jederzeit in der Macht einzelner Individuen.»

Eine gewaltsame Veränderung käme einer Revolution gleich, doch wird die nie von einem allein durchgeführt werden können, dazu braucht es ein Miteinander von Gleichgesinnten, Menschen, die die vorherrschenden Strukturen als unfair empfinden und etwas dagegen tun wollen. Das geht aber nur, wenn der Einzelne da, wo er strukturell benachteiligt ist, nicht als Individuum für diese Benachteiligung verantwortlich gemacht, sondern als Betroffener eines unfairen Systems wahrgenommen wird.  

Und auch nur, wer das erkennt, kann mit sich in Frieden leben und wissen, dass er wertvoll ist und gut genug, auch wenn ihm nicht alles gelingt. Nicht jeder ist seines Glückes Schmied in allen Bereichen, ganz viel ist von aussen gegeben. Was wir aber in der Hand haben, ist unsere Haltung zum Misslingen: Statt Abwertung und Verachtung können wir uns in Mitgefühl und Zugewandtheit üben. Und einfach mal nein sagen zu all den pseudopositiven Grundsätzen des erfolgsorientierten Machbarkeitswahns. Für mehr Menschlichkeit. 

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Buchtipp:
Juliane Marie Schreiber: Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven, Piper Verlag 2022.
WIlhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst, Suhrkamp Verlag 1998.

Tagesgedanken: In der Welt sein

„Ich lasse das Leben auf mich regnen.“

Diesen Satz von Rahel Varnhagen zitiert Hannah Arendt in ihrer Biographie über diese. Es ist eine Biographie, welche nicht nur Rahel Varnhagen so beschreibt, wie sie sich selber in ihren Worten beschrieben hätte (dies war der Anspruch Arendts beim Verfassen der Schrift), sondern auch ein Spiegel der Autorin Hannah Arendt selbst. Sie thematisiert in diesem Buch die Befreiung einer Frau aus gängigen Mustern des zurückgezogenen und abhängigen Frauseins und auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Judentum. Es ist die Suche einer Frau nach ihrem Platz in der Welt, als Frau und als Jüdin.

Das In-der-Welt-Sein geht zurück auf Martin Heidegger, welcher in diesem den Kern des Menschseins überhaupt sah, „weil zu Dasein wesenhaft das In-der-Welt-Sein gehört“. Diese Welt ist immer eine, die ich mit anderen teile. Insofern ist unser Dasein in der Welt nach Heidegger ein Mitsein mit Anderen. darauf fusst Hannah Arendts Begriff der Pluralität: Menschen sind immer Verschiedene, als solche bewohnen sie gemeinsam eine Welt. Das ist die menschliche Bedingtheit: Das Teilen einer Welt als Gleiche und doch Verschiedene. Soweit Hannah Arendts Theorie, die nicht nur aus tiefgründigem Denken entstand, sondern durchaus Bezug zu ihrem Leben hatte.

„Die Fremde,
die Dir selber fremd,
sie ist:
Gebirg der Wonne,
Meer des Leids,
die Wüste des Verlangens,
Frühlicht der Ankunft.
[…]“

Hannah Arendt war in ihrem Leben immer wieder gezwungen, ihren Platz in der Welt zu suchen. Vertrieben aus der Heimat von einem Schreckensregime, interniert in einem Lager in Frankreich und schlussendlich in einem neuen Land mit fremder Sprache, muss sie sich einrichten in der Fremde. Sie selber sagte dazu:

»Genaugenommen war und bin ich, wohin ich auch kam, immer das Mädchen aus der Fremde gewesen, von dem ein Gedicht Schillers spricht – in Deutschland nur ein bißchen weniger fremd als in Amerika. Und hier wie da, am wenigsten noch im geliebten Italien, hat mich die Angst begleitet, ich könnte zuletzt mir selber verlorengehen.«

Wir werden in eine Welt geboren, die wir mit anderen teilen. In dieser Welt leben wir nun als die, welche wir sind, und sind darauf angewiesen, dass die Anderen uns so akzeptieren, wie wir sind, dass sie uns als Teil ihrer Gemeinschaft aufnehmen. Wir leben nur dann gut, wenn wir diesen Platz gefunden haben, an welchem wir tief empfinden, was Goethes Faust auf dem Osterspaziergang sagte:

„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“

Wenn dieses Gefühl nicht eintritt, leben wir in einem Zustand der Entfremdung, uns fehlt die Beziehung zu anderen Menschen und damit etwas ganz Grundlegendes für unser Leben. Es ist das In-Beziehung-Treten, das uns lebendig fühlen lässt. Wenn dieses da ist, können wir das Leben auf uns regnen lassen, weil wir uns ihm hingeben können.

Tagesgedanken: Viele Wahrheiten schaffen eine Welt

Wir werden als Einzelne in eine Welt geboren, die wir als viele gemeinsam bewohnen. Wir bewegen uns in ihr und haben die Möglichkeit, diese Welt durch Gespräche gemeinsam neu zu schaffen. Nur der Austausch verschiedener Meinungen, der Dialog miteinander, in welchem ein offenes und freies Mitteilen und einander Zuhören gepflegt wird, bildet einen Raum zwischen Menschen, der diesen zur Welt werden lässt, in welcher alle als Freie und Gleiche leben können. Nur durch dieses einander als Einzelne und als solche Dazugehörige Anerkennen wird die Welt ein Ort der Freundschaft, eine Welt des Wohlseins, und das einzelne Leben ein In-der-Welt-Sein. 

Es ist wichtig dafür, anzuerkennen, dass es nicht die eine Wahrheit gibt, denn gäbe es sie, hätte alles Sprechen ein Ende und damit würde keine Welt mehr entstehen oder existieren, weil der Raum zwischen den einzelnen Menschen verschwinden würde, der erst durch das Gespräch geschaffen wird. Hannah Arendt beschreibt das im Sinne Lessings so, 

«dass es Wahrheit nur geben kann, wo sie durch das Sprechen vermenschlicht wird, nur wo ein jeder sagt, nicht was ihm gerade einfällt, aber was ihm gerade ‚Wahrheit dünkt’. Ein solches Sagen aber ist in der Einsamkeit nahezu unmöglich; es ist an einen Raum gebunden, in dem es viele Stimmen gibt und wo das Aussprechen dessen, was ‚Wahrheit dünkt‘ sowohl verbindet als auch distanziert, ja diese Distanz zwischen den Menschen, die zusammen dann die Welt ergeben, recht eigentlich schaffen.»

Es braucht andere Meinungen, es braucht andere Menschen, es braucht Pluralität, damit eine Welt existieren kann, damit Menschen als Gemeinschaft diese Welt gemeinsam gestalten und bewohnen können. Wenn wir also wieder einmal jemanden einfach ausschliessen, verurteilen oder abwerten, weil er eine andere Meinung vertritt, sollten wir uns fragen, in was für einer Welt wir leben wollen. In einer, in der ein Einzelner die Wahrheit bestimmt, damit das gemeinsame Schaffen der Welt ein Ende hat und wir dieser einen Wahrheit ausgeliefert sind? Denn: Wer würde wissen, ob er der eine ist oder nur ein unsichtbares, zum Gehorsam verdammtes Teilchen der Vielen, der grossen Masse?

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Buchempfehlung für weiterführende Gedanken:
Hannah Arendt: Freundschaft in finsteren Zeiten, Matthes & Seitz Berlin.

Nicht für den Profit

Die Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit sind wohl zwei der am schwierigsten auszuhaltenden. Um ihnen zu entgehen ist man oft zu vielem bereit, macht Zugeständnisse, die einem eigentlich nicht entsprechen. Zwar ist das Resultat davon nur eine Folge der Ohnmacht und nicht etwa eine Befreiung, aber zumindest fühlt sich die Situation für den Moment besser an. Ein selbstbestimmtes Leben ist auf diese Weise nicht möglich. Durch jedes Zugeständnis, durch jedes Aufgeben der eigenen Position gibt man ein Stück der eigenen Würde auf, weil man sich etwas unterordnet, wozu man bei Lichte betrachtet nicht stehen kann. Stück für Stück wird man aus Angst und gefühlter Schwäche zum Gehorchenden, statt das Leben in die eigene Hand zu nehmen.

In der Literatur findet sich eine Gegenposition zu dieser Haltung: Christa Wolf hat mit ihrer Kassandra eine Figur geschaffen – angelehnt an die griechische Mythologie -, für welche die Selbstbestimmung an oberster Stelle steht. Die mit der Sehergabe versehene Kassandra wird aus verschmähter Liebe mit einem Fluch belegt: Sie sieht alles voraus, aber niemand glaubt ihr. Sie muss zusehen, wie Menschen in ihr Unglück rennen trotz ihrer Warnung. Da sie nicht nur in Bezug auf das Schicksal anderer hellsichtig ist, sondern auch auf das eigene, sieht sie ihren eigenen Tod voraus. Auch das kann sie nicht zum Einlenken und Nachgeben bewegen, sie geht dem Tod mutig entgegen mit dem Vorsatz, bis zum Schluss ihre Bewusstheit und Autonomie zu wahren. 

Das Buch zeichnet anhand einer griechischen Sage das abendländische Patriarchat nach, es zeigt die Macht zur Unterdrückung und die Forderung nach Gehorsam. Bleibt dieser aus, folgen Konsequenzen. Es zeigt aber auch einen Weg des Widerstandes auf. Kassandra entscheidet sich für ihre Selbstbestimmtheit, sie nimmt ihre Rolle als Aussenseiterin an, um authentisch leben zu können, sie unterwirft sich nicht der Macht eines Mannes, um ihr Schicksal zu drehen. 


„Ich will die Bewusstheit nicht verlieren, bis zuletzt.“

Es ist wohl menschlich, ab und zu den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Zudem ist es sicher nicht zu empfehlen, sehenden Auges in den Tod zu gehen. Zum Glück haben die meisten Entscheidungen im Leben keine so weitreichenden Folgen, doch auch schon bei weniger gravierenden Konsequenzen sind viele bereit, eigene Werte aufzugeben. Vor allem, wenn der eigene Erfolg auf dem Spiel steht, verschliesst man gerne die Augen vor einer weitreichenderen Gerechtigkeit, man nimmt eigene Vorteile in Kauf, obwohl man weiss, dass sie anderen zum Nachteil reichen. Für die eigene Bequemlichkeit ignoriert man auch zu oft die weitreichenden Auswirkungen des eigenen Tuns. Das ist wohl menschlich, führt aber weder zu einer gerechteren und gleichberechtigteren Gesellschaft, noch werden wir auf diese Weise finanzielle und ökologische Probleme abwenden.  

Wir werden nicht von heute auf morgen die Welt verändern (wieso eigentlich nicht?), aber wir können zumindest hinschauen, wo wir uns selbst im Leben aufgeben, wo wir unsere Werte verraten, wo wir unseren Überzeugungen widersprechend handeln. Indem wir das eigene Tun hinterfragen und vielleicht auch ändern, tragen wir immerhin unseren Beitrag zu einem grossen Ganzen bei. Tun wir das nur alleine, müssen wir vielleicht auf einen Erfolg verzichten zugunsten eines moralischen Verhaltens, aber: Tun es mehr und immer mehr, wird dieses Verhalten die alten Strukturen überwinden helfen, und dann geht es uns allen besser. So oder so bin ich der festen Überzeugung, dass es dem eigenen Gewissen und damit auch Wohlbefinden dienlich ist, sich nicht zum Preis des Gehorsams und den daraus resultierenden Profit zu verkaufen.

Tagesgedanken: Was bleibt

Es gibt Tage, nach denen ist nichts mehr, wie es mal war. Es sind Tage, an denen etwas passiert, das nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, bei denen es ein Davor und ein Danach gibt. Es sind Tage, die einen Riss im Leben hinterlassen, eine Lücke. Und keiner ist davor sicher.

„Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.“
Masche Kaleko

Der Tod entreisst. Er trennt, was mal zusammen war. Er nimmt den einen mit und lässt den anderen ohne diesen zurück. Was nach dem Tod kommt, wissen wir nicht, was er uns nimmt, ist umso klarer. Und damit müssen wir weiterleben. Wo mal jemand war, ist keiner mehr. Und doch bleibt ganz viel. Und das ist nur da, weil der da war, der nun fehlt. Dieses Wissen legt einen Grundstein für Dankbarkeit, die weiter durchs Leben trägt nebst all den schönen Erinnerungen, die das Herz nähren.

Rilke schrieb:

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“

Und wer weiss: Vielleicht ist der letzte Ring auch der Ring, den andere für uns weiterziehen. Durch ihre Erinnerung. Und wir gestalten diese Erinnerung durch unsere Gegenwart.

Tagesgedanken: Wenn der Spass aufhört

Da sitzt man in geselliger Runde, ist in ein Gespräch vertieft, und plötzlich kommt ein Gefühl auf: Irgendwie passt das so nicht. Das, was der andere gesagt hat, beleidigt, verletzt mich. Nur: Was nun? Wie reagieren? Soll ich es ihm sagen? Soll ich einfach schweigen, das Gesagte ignorieren und die aufkeimenden Gefühle runterschlucken?

Grundsätzlich müsste man es wohl ansprechen, doch wenn man das tut, hört man oft „das war doch nur ein Witz“ (hahaha), „sei doch nicht so empfindlich“ (Augenrollen) und fühlt sich dadurch nur noch schlechter. Wenn man es dann immer noch nicht witzig findet, ist man humorlos oder eine Mimose.

Nun mag es sein, dass viele Witze und Bemerkungen nicht verletzend gemeint sind, nur: Wenn man merkt, dass es doch verletzt, finde ich es angebracht, damit aufzuhören. Wie sagte schon Schiller:

„Wohl lässt der Pfeil sich aus dem Herzen ziehn,
Doch nie wird das verletzte mehr gesunden.“

Witze, die nur der eigenen Belustigung (und eventuell der Dritter) dienen, sind nicht lustig, sondern ein Zeichen von persönlicher Profilierung. Sie schaffen Hierarchien von denen, die wissen, was lustig ist, und denen, die diese für den eigenen Spass instrumentalisieren. Zu viele haben sich angewöhnt, das stillschweigend hinzunehmen, um noch mehr Verletzungen zu vermeiden. Zu viele wurden genau dazu erzogen, zu viele wurden dahingehend geprägt. Ich denke nicht, dass das ein guter Weg ist. Die Verletzung ist trotz allem da, sie wühlt einfach im Innern, die Möglichkeit, dass das Gegenüber sensibler wird, ist so nicht gegeben.  Und: die gefühlte Ohnmacht ist immer wieder eine zusätzliche Verletzung des eigenen Selbstwerts. Zudem:

„Wer die Schlechten schont, verletzt die Guten.“ (Publius Syrus)

Kate Manne thematisiert das in ihrem Buch „Down Girl“:

„Daraus folgt, dass wir Grund haben, kritisch zu sein und an unseren Instinkten zu zweifeln, wenn wir den Eindruck haben, eine Frau „spiele das Opfer“, ziehe die Gender-Karte oder sei allzu dramatisch… Ihr Verhalten mag deshalb herausstechen, weil wir es nicht gewöhnt sind, dass Frauen in diesen Zusammenhängen das ihnen Zustehende einfordern.“

Misogynie findet oft im Kleinen statt, in so genannt witzigen Bemerkungen, die bei näherem Betrachten aber eigentlich abwertend sind. Wir Frauen werden oft dazu erzogen, still zu sein, diese Dinge hinzunehmen, nicht zu laut aufzubegehren. Und: Werden wir beleidigt und klagen das lautstark an, werden wir belächelt und gar verspottet, wir hören Aussagen wie „Nun hab’ dich doch nicht so!“,  oder „Das war doch nur witzig gemeint“ und dergleichen mehr. Wir werden in die Ecke der Spassbremsen gestellt, der Humorlosen und Verbissenen. Und viel schlimmer noch: Wir fühlen uns auch so.

Witze, die Menschen herabsetzen (oder von denen sich Menschen herabgesetzt fühlen), sind nicht lustig. Sie sind beleidigend und unnötig. Humor ist eine Tugend und das Leben ist schöner damit, dies gilt aber nur, wenn die Witze nicht dazu dienen, Hierarchien zu schaffen, den einen über den anderen zu stellen. Witze sollten nie verletzen, sie sollten nie beleidigen. Tun sie das, sind es keine Witze, sondern Gemeinheiten. Und das muss gesagt werden dürfen. Wer das nicht begreift, hat nicht nur ein Humor-Problem, sondern auch eines im respektvollen Umgang mit Menschen. Dies dem Frieden zuliebe zu ignorieren, mag eine lange eingeübte Verhaltensweise sein, aber keine, welche auf lange Frist jemandem dient. Schon gar nicht den so Herabgesetzten.

Tagesgedanken: Freiheit gibt es nur zu zweit

Während der Coronazeit hörte man immer wieder Stimmen, die über ihre verlorene Freiheit klagten aufgrund der verordneten Massnahmen. Es wurde sogar geunkt, man lebe nicht mehr in einer Demokratie, sondern in einer Diktatur. So verfehlt beide Ansichten in meinen Augen auch sind, so zeigen sie doch zwei Dinge: Den Wert, den wir Freiheit zuschreiben, und das falsche Verständnis, das wir oft davon haben. Freiheit wird oft verstanden als „Freiheit von..“ – die Liste hier ist lang und willkürlich, denn sie beinhaltet alles, was wir individuell nicht wollen. Freiheit so gesehen bezieht sich auf den Menschen als Einzelnen. Doch sind wir wirklich frei auf diese Weise, sind wir nicht nur alleine? 

Von Simone de Beauvoir gibt es das schöne Zitat:

„Moralisch und frei sein zu wollen, sind ein und dieselbe Entscheidung.“

Freiheit so verstanden verweist auf den Umstand, dass wir nicht allein auf dieser Welt sind, sondern immer eingebettet in ein soziales Umfeld – das wir auch brauchen, um zu überleben. Freiheit kann also nicht vom Einzelnen aus gedacht werden, sondern ergibt sich aus dem Miteinander der Verschiedenen. Freiheit büssen wir nicht ein, wenn wir uns auch mal zurücknehmen müssen für das Wohl aller, wir büssen sie ein, wenn in einer Beziehung/Gesellschaft Unterdrückung und diskriminierende Machtverhältnisse vorherrschen. Wir büssen sie dann ein, wenn nur einige sprechen und viele schweigen müssen. Genau da könnten wir nach Gloria Steinem ansetzen:

„Einer der einfachsten Wege hin zu wirklicher Veränderung ist, wenn die weniger Mächtigen so viel sprechen, wie sie zuhören, und die Mächtigeren so viel zuhören, wie sie sprechen.“

Lasst uns im Gespräch bleiben.

Tagesgedanken: Heimatsfern

Aktuell fliehen viele Menschen aus der Ukraine, sie müssen weg, weil ihre Heimat nicht mehr sicher ist, weil sie unter Beschuss steht, weil das Zuhause, das sie mal hatten, kein Ort der Sicherheit und der Geborgenheit mehr ist. Sie lassen damit alles zusammen, was vorher ihr Leben ausmachte: Familie, Freunde, vertraute Gegenstände und vieles, was die eigene Identität ausmacht. Und: Sie werden ab nun kein Zuhause mehr haben, sie sind Fremde. Hannah Arendt hat das nach ihren Erfahrungen in Worte gefasst:

„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren […] Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ 

Asal Dardan hat sich diesem Thema in ihrem wunderbaren Buch „Betrachtungen einer Barbarin“ angenommen. Sie schreibt in einer feinen und klaren Sprache mit viel sachlicher Tiefe und auch persönlicher Nähe über das Leben zwischen Welten, über Zugehörigkeit, Herkunft und Identität. 

„Ich selbst habe kein Zuhause verloren, dennoch fällt es mir schwer, mich zugehörig zu fühlen.“

Zugehörigkeit ist ein wichtiges Gefühl, wenn es darum geht, sich als Mensch zuhause zu fühlen. Ohne diese bleibt man Zuschauer und steht damit irgendwie am Rand. Man sieht all die, welche zusammengehören und sich auch als zusammengehörig empfinden, man selbst ist allein und auf einer steten Suche nach dem eigenen Ort im Leben. Solche Gefühle können schon ohne Fluchterfahrung präsent sein, umso schwerer sind die Herausforderungen, wenn man aus allem, was man mal zuhause nannte, gerissen wurde. 

„Meine Eltern mussten das Land, in dem ich geboren wurde, mit einem Koffer und einem einjährigen Kind verlassen; und alles, was sie als Familie hätten sein können, hinter sich lassen.“

Vielleicht sollte man das im Hinterkopf bewahren, wenn man gegen Migranten schimpft und findet, sie sollen sich in allem unseren Sitten und Bräuchen anpassen. Natürlich sollte man sich in einem fremden Land den ortsüblichen Gesetzen anpassen und es ist für die Integration und ein Gefühl des Miteinanders sinnvoll, gewisse Gepflogenheiten zu kennen und gesellschaftliche Normen zu achten, aber: Die Kultur der Heimat mit ihren Verhaltensweisen sowie die Sprache sind oft das Einzige, was Menschen auf der Flucht und in fremden Ländern noch bleibt als zuhause. Dass dieses Halt gibt gerade in schwierigen Zeiten, liegt also auf der Hand. Und: So lange Migranten mit dem Gefühl des nicht Willkommenseins, des Doch-nicht-ganz-Dazugehörens kämpfen müssen, sind Sprache und Heimatskultur das, was sie zumindest untereinander verbindet.

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Buchtipp: Asal Dardan: Betrachtungen einer Barbarin, Hoffmann & Campe Verlag (2021)

Tagesgedanken: Es recht machen wollen

Ich staune immer wieder, wie tief gewisse Prägungen sitzen. Was ich als kleines Mädchen gelernt habe, leitet auch heute noch oft mein Denken, Fühlen, Handeln. Der Gedanke, ja nichts falsch zu machen, nur bloss nicht aufzufallen, der Anspruch, genügen zu wollen und das Gefühl, doch nicht (gut) genug zu sein – all das sitzt tief. Im Bemühen, es allen recht zu machen, ignoriere ich oft meine eigenen Bedürfnisse oder bin ihrer gar nicht wirklich bewusst, ich versuche mich anzupassen, mich passend zu machen, und merke oft zu spät, dass es für einen mindestens nicht passt: Mich. Erich Fromm schreibt in seinem Buch „Authentisch leben“,

„[…] dass wir Gedanken, Gefühle, Wünsche, ja sogar Sinnesempfindungen haben können, die wir subjektiv als unsere empfinden, obwohl sie uns von aussen suggeriert wurden und uns daher im Grunde fremd sind und nicht das, was wir wirklich denken, fühlen und so weiter.“

Eigentlich weiss ich selber, dass das Bemühen, mich zu verbiegen, um alles richtig zu machen, unsinnig ist, da ich mich so eigentlich verleugne und auf diese Weise sowieso keine wirkliche Begegnung mit einem anderen Menschen zustandekommen kann, denn: Der findet mich ja gar nicht in mir. Eine Beziehung bedingt ein gegenseitiges Interesse am Anderen, auch oder gerade in seinem Anderssein. Trotzdem ich das alles weiss, fällt es schwer, danach zu handeln, die Angst vor Ablehnung ist gross, weil ich das Verhalten ja durch ebendiese gelernt habe. Es braucht Mut, auszubrechen und zu lernen, dass ich genug bin, wie ich bin, dass ich es nicht recht machen muss, dass es in Beziehungen und im Sosein kein richtig oder falsch gibt. Dazu gibt es einen schönen Spruch von Rumi:

„Jenseits von richtig und falsch gibt es einen Ort. Hier können wir uns begegnen.“

Tagesgedanken: Würdevoll würdig

Ich habe mich gefragt, was Würde überhaupt ist. Etwas hat Würde, heisst, es ist würdig, es wird als würdig erachtet. Von wem? Es reicht nicht, dass ich mich selber als würdig sehe, wenn mir die Würde von anderen abgesprochen wird, sprich: Ich bin darauf angewiesen, dass andere mir die mir (zustehende oder innewohnende?) Würde zusprechen. Wenn ich die Würde betone, heisst das, dass es auch Unwürdiges gib, sprich, die Würde hebt mich über anderes, welches diese nicht hat, hinaus. Oft sprechen wir von der Menschenwürde, was den speziellen Status zeigt, den wir dem Menschen in der Natur zusprechen. Vielfach geht dieser Sonderstatus dahin, dass wir uns über der Natur, sprich, dieser gar nicht mehr zugehörig sehen. Unser Verhalten Natur und Umwelt gegenüber zeigt das deutlich.

Wir beuten Tiere aus, halten sie für den eigenen Profit unter unwürdigen (!!!) Bedingungen, schlachten sie nach grausamen Transporten bestialisch ab und zerstückeln sie, damit dem Konsumenten das Fleisch nicht ausgeht und er dieses auch noch möglichst günstig kaufen kann. Wir reden von Klimakrise und fahren immer grössere Autos, wir wollen die Umwelt retten, aber bitte ohne eigene Einbussen oder Aufwand. Schlussendlich geht es auch da nur um uns: den Menschen. Das Klima wollen wir nicht retten, nicht mal die Welt, nur wissen wir, dass wir irgendwo leben müssen und wir haben nur diese eine. Wir hören dann Zahlen zum steigenden Meeresspiegel und ebensolchen Temperaturen, aber so wirklich präsent ist es wohl nicht, dass wir wirklich dringenden Handlungsbedarf sehen. Zudem kommt immer wieder etwas dazwischen, das wichtiger scheint und das Thema vom Tisch fegt.

Was also ist Würde? Und sind wir so, wie wir uns oft verhalten, wirklich würdig im Sinne davon, dass wir uns uns selber und anderen gegenüber würdig und würdigend verhalten? Würde Würde nicht auch bedeuten, würdevoll zu sein, sprich achtend und wertschätzend durchs Leben zu gehen, nicht nur Würde für sich einzufordern? Würde hat viel mit Selbstachtung zu tun und mit Achtung von aussen. Was wir also für uns wollen, müssen wir auch bereit sein, zu geben – auch über die Grenzen des Menschseins hinaus.

Tagesgedanken: Mit Selbstliebe auf dem eigenen Weg

Schlaflos in den neuen Tag gestartet, in Gedanken getrieben vom einen zum andern, ohne Ruhe zu finden. Und so sitze ich hier und bin müde und in dieser Müdigkeit immer noch umgetrieben. Ich gehe mit mir ins Gericht, hinterfrage und suche, versuche zu finden, doch ist das kein Halt, der dem Treiben ein Ende bereiten könnte. Ich fülle Seiten im Notizbuch auf der Suche nach mir selbst, und finde mich zumindest da in guter Gesellschaft. 

„…jetzt war ich darauf aus, mich zu spalten, mich von aussen zu sehen. Ich erforschte mich: in meinem Tagebuch unterhielt ich mich mit mir selbst.“

Dies schrieb Simone de Beauvoir in ihrem Buch „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“. Es ist der erste Teil ihrer Lebensgeschichte, es sind Erinnerungen an ein Gefängnis von Sitten und Einschränkungen, an das Herausbildung eigener Lebensabsichten im Wissen, damit einen Weg einzuschlagen, der nicht konform ist. Sie stiess auch schon früh auf die Ablehnung ihres Vaters, der sich eine gefällige Tochter, die man verheiraten könnte, wünschte, nur war das nicht, was Simone de Beauvoir sich unter ihrem Leben vorstellte. Sie wollte etwas erreichen, sie wollte sich nicht unterordnen, sie sah sich als gleichwertig mit den Männern, nicht in der Rolle der Bittenden, Abhängigen.

„Aber in meinen Augen waren Männer und Frauen in gleicher Weise selbständige Personen, und ich forderte daher für beide absolute Gegenseitigkeit.“

Es ist nicht einfach, den eigenen Weg zu gehen in Anbetracht der Ablehnung, die dieser auslöst. Das Gefühl, allein zu sein, ungeliebt, nagt durchaus. Nun gibt es nur zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: Man verlässt den eigenen Weg und passt sich an, in der Hoffnung auf Anerkennung und Liebe, oder aber man hält an seinem Weg fest, im Wissen, dass dieser nicht bei allen auf Verständnis stossen wird. Damit umzugehen ist wohl die grosse Herausforderung. Simone de Beauvoir hat für sich ein Mittel gefunden, dies zu ertragen: Selbstliebe.

„Niemand nahm mich so, wie ich war, niemand liebte mich: ich selbst werde mich genügend lieben, beschloss ich, um diese Verlassenheit wieder auszugleichen.“