Tagesgedanken: Heimatsfern

Aktuell fliehen viele Menschen aus der Ukraine, sie müssen weg, weil ihre Heimat nicht mehr sicher ist, weil sie unter Beschuss steht, weil das Zuhause, das sie mal hatten, kein Ort der Sicherheit und der Geborgenheit mehr ist. Sie lassen damit alles zusammen, was vorher ihr Leben ausmachte: Familie, Freunde, vertraute Gegenstände und vieles, was die eigene Identität ausmacht. Und: Sie werden ab nun kein Zuhause mehr haben, sie sind Fremde. Hannah Arendt hat das nach ihren Erfahrungen in Worte gefasst:

„Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren […] Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle.“ 

Asal Dardan hat sich diesem Thema in ihrem wunderbaren Buch „Betrachtungen einer Barbarin“ angenommen. Sie schreibt in einer feinen und klaren Sprache mit viel sachlicher Tiefe und auch persönlicher Nähe über das Leben zwischen Welten, über Zugehörigkeit, Herkunft und Identität. 

„Ich selbst habe kein Zuhause verloren, dennoch fällt es mir schwer, mich zugehörig zu fühlen.“

Zugehörigkeit ist ein wichtiges Gefühl, wenn es darum geht, sich als Mensch zuhause zu fühlen. Ohne diese bleibt man Zuschauer und steht damit irgendwie am Rand. Man sieht all die, welche zusammengehören und sich auch als zusammengehörig empfinden, man selbst ist allein und auf einer steten Suche nach dem eigenen Ort im Leben. Solche Gefühle können schon ohne Fluchterfahrung präsent sein, umso schwerer sind die Herausforderungen, wenn man aus allem, was man mal zuhause nannte, gerissen wurde. 

„Meine Eltern mussten das Land, in dem ich geboren wurde, mit einem Koffer und einem einjährigen Kind verlassen; und alles, was sie als Familie hätten sein können, hinter sich lassen.“

Vielleicht sollte man das im Hinterkopf bewahren, wenn man gegen Migranten schimpft und findet, sie sollen sich in allem unseren Sitten und Bräuchen anpassen. Natürlich sollte man sich in einem fremden Land den ortsüblichen Gesetzen anpassen und es ist für die Integration und ein Gefühl des Miteinanders sinnvoll, gewisse Gepflogenheiten zu kennen und gesellschaftliche Normen zu achten, aber: Die Kultur der Heimat mit ihren Verhaltensweisen sowie die Sprache sind oft das Einzige, was Menschen auf der Flucht und in fremden Ländern noch bleibt als zuhause. Dass dieses Halt gibt gerade in schwierigen Zeiten, liegt also auf der Hand. Und: So lange Migranten mit dem Gefühl des nicht Willkommenseins, des Doch-nicht-ganz-Dazugehörens kämpfen müssen, sind Sprache und Heimatskultur das, was sie zumindest untereinander verbindet.

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Buchtipp: Asal Dardan: Betrachtungen einer Barbarin, Hoffmann & Campe Verlag (2021)

4 Kommentare zu „Tagesgedanken: Heimatsfern

  1. Der Lebensort Erde
    ist für viele Erfahrungen gut.

    Manch einer wird an einem Platz alt und… stirbt, wo er geboren wurde. Manch andere ist eher unstet – sei es aus eigenem Antrieb oder weil die Not sie dazu drängt.

    Der Horizont weitet sich bei denen deutlicher, die Veränderung ihrer Lebens-Orte und -Umstände erfahren.

    Die (ehelichen) Beziehungen sind auch nicht mehr das, was sie vor Kurzem noch waren: Von Dauer.

    Ich erinnere noch eine Zeit, als in kleinen Orten die Scheidung als Katastrophe und für die Frau als „Schande“ galt.

    Die Uhren laufen jetzt schneller – in jeder Beziehung.

    🌷

    Hannah Arendt: „Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren […] Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen…“

    Du solltest uns aber nicht verschweigen, Hannah, was du alles gewonnen hast.

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  2. Dieses Wort. Willkommen. Sein. Da hapert es ja schon im Alltag. Wer ist alles nicht willkommen? Menschen mit Beeinträchtigungen. Und….die Liste ist verlängerbar. Auf eine ganz traurige Weise. Und das gilt für alle freien Ländern Europas. Ein riesige Baustelle. Endet für mich in einem Artikel des Grundgesetzes. Dem ersten. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn dieser endlich im Alltag Einzug findet…

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    1. Ja, es fängt im Alltag an, im ganz Kleinen, beim Miteinander von Mensch und Mensch. Nehmen wir andere, wie sie sind, an, oder sollen sie sein, wie wir sie uns wünschen – wenn nicht, verachten, verstossen, diskrinieren wir sie? Wie soll es im Grossen klappen?

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