Die Gefühle der Ohnmacht und der Hilflosigkeit sind wohl zwei der am schwierigsten auszuhaltenden. Um ihnen zu entgehen ist man oft zu vielem bereit, macht Zugeständnisse, die einem eigentlich nicht entsprechen. Zwar ist das Resultat davon nur eine Folge der Ohnmacht und nicht etwa eine Befreiung, aber zumindest fühlt sich die Situation für den Moment besser an. Ein selbstbestimmtes Leben ist auf diese Weise nicht möglich. Durch jedes Zugeständnis, durch jedes Aufgeben der eigenen Position gibt man ein Stück der eigenen Würde auf, weil man sich etwas unterordnet, wozu man bei Lichte betrachtet nicht stehen kann. Stück für Stück wird man aus Angst und gefühlter Schwäche zum Gehorchenden, statt das Leben in die eigene Hand zu nehmen.
In der Literatur findet sich eine Gegenposition zu dieser Haltung: Christa Wolf hat mit ihrer Kassandra eine Figur geschaffen – angelehnt an die griechische Mythologie -, für welche die Selbstbestimmung an oberster Stelle steht. Die mit der Sehergabe versehene Kassandra wird aus verschmähter Liebe mit einem Fluch belegt: Sie sieht alles voraus, aber niemand glaubt ihr. Sie muss zusehen, wie Menschen in ihr Unglück rennen trotz ihrer Warnung. Da sie nicht nur in Bezug auf das Schicksal anderer hellsichtig ist, sondern auch auf das eigene, sieht sie ihren eigenen Tod voraus. Auch das kann sie nicht zum Einlenken und Nachgeben bewegen, sie geht dem Tod mutig entgegen mit dem Vorsatz, bis zum Schluss ihre Bewusstheit und Autonomie zu wahren.
Das Buch zeichnet anhand einer griechischen Sage das abendländische Patriarchat nach, es zeigt die Macht zur Unterdrückung und die Forderung nach Gehorsam. Bleibt dieser aus, folgen Konsequenzen. Es zeigt aber auch einen Weg des Widerstandes auf. Kassandra entscheidet sich für ihre Selbstbestimmtheit, sie nimmt ihre Rolle als Aussenseiterin an, um authentisch leben zu können, sie unterwirft sich nicht der Macht eines Mannes, um ihr Schicksal zu drehen.
„Ich will die Bewusstheit nicht verlieren, bis zuletzt.“
Es ist wohl menschlich, ab und zu den Weg des geringsten Widerstands zu gehen. Zudem ist es sicher nicht zu empfehlen, sehenden Auges in den Tod zu gehen. Zum Glück haben die meisten Entscheidungen im Leben keine so weitreichenden Folgen, doch auch schon bei weniger gravierenden Konsequenzen sind viele bereit, eigene Werte aufzugeben. Vor allem, wenn der eigene Erfolg auf dem Spiel steht, verschliesst man gerne die Augen vor einer weitreichenderen Gerechtigkeit, man nimmt eigene Vorteile in Kauf, obwohl man weiss, dass sie anderen zum Nachteil reichen. Für die eigene Bequemlichkeit ignoriert man auch zu oft die weitreichenden Auswirkungen des eigenen Tuns. Das ist wohl menschlich, führt aber weder zu einer gerechteren und gleichberechtigteren Gesellschaft, noch werden wir auf diese Weise finanzielle und ökologische Probleme abwenden.
Wir werden nicht von heute auf morgen die Welt verändern (wieso eigentlich nicht?), aber wir können zumindest hinschauen, wo wir uns selbst im Leben aufgeben, wo wir unsere Werte verraten, wo wir unseren Überzeugungen widersprechend handeln. Indem wir das eigene Tun hinterfragen und vielleicht auch ändern, tragen wir immerhin unseren Beitrag zu einem grossen Ganzen bei. Tun wir das nur alleine, müssen wir vielleicht auf einen Erfolg verzichten zugunsten eines moralischen Verhaltens, aber: Tun es mehr und immer mehr, wird dieses Verhalten die alten Strukturen überwinden helfen, und dann geht es uns allen besser. So oder so bin ich der festen Überzeugung, dass es dem eigenen Gewissen und damit auch Wohlbefinden dienlich ist, sich nicht zum Preis des Gehorsams und den daraus resultierenden Profit zu verkaufen.
Leider finden oft bereits bei dem, was wir „unsere Überzeugungen“ nennen, mehr oder weniger unbewusst ein Anpassungsprozess statt an das, was opportun ist. Da ist dann Widerstand schon im Ansatz gebrochen. Worauf es also ankommt, ist, seine Überzeugungen zu hinterfragen: was ist die Folge von Gehorsamsanpassung bzw Konfliktvermeidung? Welche Glaubenssätze habe ich nur deshalb, weil sie kognitive Dissonanz reduzieren und mir daher das leben einfacher machen? Wenn ich so meine Glaubenssätze geklärt habe, kann der nächste Schritt erfolgen: Bleibe ich mir selbst treu oder fürchte ich die Folgen?
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Ein guter Punkt, ja. Wir alle sind geprägt von unserer Umwelt und handeln daraus unbewusst. Dadurch halten sich ja auch Dinge, welche wir auf dem Papier längst überwunden haben, im Alltag sind sie noch vorhanden. Da gilt es hinzuschauen. Und ja, sich fragen, ob man den Konsequenzen gewachsen ist, wenn man sich gegen die Norm verhält.
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Interessante Gedanken, die mich anregen und herausfordern. Du schreibst:
Durch jedes Zugeständnis, durch jedes Aufgeben der eigenen Position gibt man ein Stück der eigenen Würde auf…
Das ist m.M.n. nicht zwingend. Zugeständnisse sind oft Kollaborationen mit divergenten Gedanken und Ideen. Die Fähigkeit, Zugeständnisse zu machen, sehe ich als eine Form der Demut oder der Einsicht, dass es eben auch ganz anders sein könnte. Sie sind eine Form der Anpassung, welche wiederum eine der allerwichtigsten Fähigkeit zur Lebensmeisterung darstellt.
Zugeständnisse sollten aber nicht nur Toleranz sein (Goethe nennt Toleranz, die nicht zur Überzeugung führt, beleidigend) sondern in der genannten Demut wurzeln.
Ich glaube nicht, dass Zugeständnisse oder Aufgeben der eigenen Position zum Verlust der Würde führen, im Gegenteil: Sie sind eine Grundfähigkeit zum erfolgreichen In-der-Welt-sein.
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Du hast recht, ein Zusammenleben ohne Zugeständnisse wäre unmöglich. Ich müsste wohl konkretisieren: Zugeständnisse, welche die tiefsten Werte, Eigenheiten, Bedürfnisse verneinen. Also ein wirkliches Aufgeben seiner selbst zugunsten der Anerkennung von anderen.
Ansonsten bin ich ganz bei dir, danke für deine Gedanken.
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Ich habe in „Kassandra“ von Christa Wolf, eines meiner absoluten Lieblingsbücher, stets das Gefühl, dass Wolf dort an etwas sehr Elementaren heranreicht, etwas umgarnt, was sich der Sprache entzieht, eine Dimension von Mut, Entschlossenheit, von Realität, die selten in die Bahnen der Maya gerät.
„Nur, was ich damals nicht begriff und nicht begreifen wollte: dass manche nicht nur von außen, auch aus sich selbst heraus zum Opfer vorbereitet waren. Alles in mir stand dagegen auf. Warum? Jetzt ist es auf einmal wirklich still. Unendlich dankbar bin ich für die Stille vor dem Tod. Für diesen Augenblick, der mich ganz erfüllt, dass ich gar nichts denken muss. Für diesen Vogel, der lautlos und entfernt den Himmel überfliegt und ihn verwandelt, unmerklich fast, aber mein Auge, das die Himmel alle kennt, ist nicht zu täuschen: So beginnt der Abend.“
Ich habe es schon so oft gelesen. Es berührt tatsächlich zutiefst alles, was du sagst.
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Ich teile dein Gefühl. Es steht viel zwischen den Zeilen. Und man empfindet es, wenn man offen ist. Man merkt, dass es so ist, man selber schon da war. Man erkennt es. Und fasst es ungern in Sprache. Ob man es könnte? Wohl schon. Irgendwie. Und es träfe nur die halbe Wahrheit. Irgendwie.
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