Thorsten Pilz: Weite Sicht

Zum Inhalt

«Charlottes Gedanken drehten sich weiter. Friedrichs Tod, sein Testament, sein Doppelleben…, ihre Freundschaft mit Sabine, die gemeinsame Zeit in ihrem Haus in Hamburg. All das wollte sich in dieser Nacht nicht zusammenführen lassen.»

Als Friedrich stirbt, kommen sie ans Licht – all die kleinen Lebenslügen. Charlotte, Friedrichs Witwe, blickt auf ihr Leben bislang, auf die Beziehungen zu Familienmitgliedern und Freunden, und merkt, dass es nun, mit über 70, an der Zeit ist, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, um das Leben zu leben, das sie zu leben nicht gewagt hatte. Sie ist damit nicht allein.

Gedanken zum Buch
Sartre sagte, wir würden in die Welt geworfen und es sei an uns, uns darin einzurichten als die, die wir sind. Das nannte er unsere Freiheit, zu welcher wir verdammt seien. Es scheint, dass wir dieser Verdammnis oft leicht entkommen, indem wir uns gesellschaftlichen und familiären Zwängen und Geboten unterwerfen. Wir nehmen ein Lebensmodell auf, von dem wir denken, es würde von uns erwartet – und oft ist dem auch so. Wir fügen uns in eine Lebenssituation ein, weil dies allein unsere Zugehörigkeit in der Gemeinschaft, zu der wir gehören wollen, sichert. Nicht selten befinden wir uns dann bei näherem Betrachten in einem Leben, das uns nicht entspricht. Dies widerfährt den Figuren in Thorsten Pilz’ Roman «Weite Sicht». Alle hatten sich vordergründig eingerichtet in ihren bürgerlichen Existenzen, hatten dafür (was oft verdrängt wurde) Träume und Lieben aufgegeben. Als Friedrich stirbt, kommt alles ans Licht.

Wieso dann, könnte man fragen? Vielleicht weil er mit einer offenen Aussprache (in Form eines durch den Nachlassverwalter vorgelesenen Briefs) den Stein ins Rollen brachte. Was sich vorher schon in kleinen Brüchen in der Fassade zeigte, brach nun durch. Jeder für sich war gefordert, hinzuschauen. Die Frage, wessen Leben man gelebt hatte und welchen Preis man dafür zahlte, lag nun offen da. Und sie suchte nach Antworten, die jeder für sich finden musste.

«No regrets in life! Just lessons learned.”

Thorsten Pilz hat ein wunderbares Buch über die menschliche Fähigkeit zur Anpassung geschrieben. Er thematisiert, wie über Jahre Lebenslügen aufrecht erhalten werden, um den Schein zu wahren. Er legt die Folgen für den jeweils Einzelnen offen, und er macht deutlich, wie daraus ein Beziehungsgefüge von eigentlich beziehungslosen Menschen entsteht. Dies alles gelingt Pilz ohne moralischen Zeigefinger oder psychologisierende Sozialkritik, sondern durch eine stille, sachliche, trotzdem menschliche und wohlwollende Erzählweise. Wir Leser begleiten Charlotte durch die Tage nach Friedrichs Tod, sehen Lügengebilde platzen, Trauer aufsteigen und neue Lebenspläne entstehen. Wir sind Teil eines Umbruchs, fühlen uns beim Lesen mittendrin und würden am liebsten das Glas hinhalten, wenn Rotwein eingeschenkt und das Leben besprochen wird.

Fazit
Ein warmherziges, einnehmendes, berührendes Buch über Liebe und Tod, Schein und Sein, Beziehungen und Eigenverantwortung. Sehr empfehlenswert.

Zum Autor
Thorsten Pilz (Jahrgang 1969) ist Redakteur beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Seine Liebe zu Dänemark begann in Sommerurlauben an der jütländischen Westküste mit Softeis, Pølser und scheinbar endlosen Sandstränden. WEITE SICHT ist sein erster Roman. Thorsten Pilz lebt in Hamburg.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Lübbe; 1. Aufl. 2023 Edition (31. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 288 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3785728376

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