Carolin Emcke schrieb in ihrem Buch „Journal“ den wunderbaren Satz, in dem ich mich so gut wiederfinde:
„Ohne die Sprache, ohne das Schreiben, fühle ich mich wie ein Obdachloser ohne Heimat.“
So fühlte es sich an, als ich von einem Tag auf den anderen meine Sprache und mein Lesen verloren hatte. Ich stand zwischen all meinen Büchern und fand keinen Zugang mehr. Ich war wie ausgeschlossen aus einer Welt, die so eigentlich die meine war, doch sie blieb mir verschlossen. Jeder Versuch, hineinzukommen, scheiterte. Ich begann zu malen. Es klingt ein wenig wie ein Klischee und vermutlich entspricht es genau dem. Frau, mittleren Alters auf der Suche nach sich selbst.
Es war der verzweifelte Versuch, eine neue Heimat zu finden. Ich malte wie besessen, jeden Tag, für Stunden. Ich wollte „es richtig machen“, es sollte nicht einfach ein kleines Hobby am Rand sein, sondern ein neues Zuhause werden, mein neues Ich. Und da es sich nicht so anfühlte, war ich unsicher und interpretierte jede Äusserung von aussen als Abwertung meines Tuns und Seins. Und vermutlich war ich die einzige, die beides abgewertet hat innerlich. Weil ich zweifelte. Am Tun. An mir. An allem. Es fühlte sich nichts richtig an, es fühlte sich nichts richtig gut an.
Vieles gelang, vieles machte auch Freude. Einmal sagte mir jemand, ich müsse meine Sprache finden. Die Antwort war sofort klar: Ich habe keine Bildsprache, meine Sprache sind die Worte, doch die sind mir ausgegangen. Ich habe viele Sprachen ausprobiert, mich in vielen auch ein wenig wohl gefühlt für eine kurze Zeit, doch nie auf Dauer und nie so ganz. Und immer fehlte etwas, immer war da eine innere Unruhe, ein inneres Ziehen, ein Suchen, eine Unsicherheit in und mit mir.
Das alles war mir nicht so bewusst damals, ich erkenne es im Rückblick. Seit einiger Zeit bin ich endlich wieder zurück in meiner Heimat. Ich merke, wie ich in mir mit meinem Tun sicherer bin und mich darum nicht mehr so schnell in Frage gestellt fühle. Ich zweifle sicher noch immer ab und zu an mir, aber das eher situativ als in einem mich im Ganzen erschütternden Mass. Dafür bin ich dankbar.
Ich bin aber auch dankbar für den (Um-?)Weg. Er hat mich viel gelehrt. Und es sind einige Bilder entstanden, die mir sehr am Herzen liegen, auf die ich stolz bin, die mir viel Freude gemacht haben und weiter machen. Auch hat mir dieser Weg eine Zuflucht gewährt in einer Zeit, in der ich sie so sehr brauchte und suchte, in der so viel Unsicherheit und Haltlosigkeit lag. Ab und zu denke ich, damals war ich irgendwie freier, weil das Malen nicht so tief in mir war wie das Schreiben. Es hing nie so viel daran, es war nicht so eminent wichtig. Ich konnte auch mal nicht malen. Beim Schreiben ist das schwerer. Es ist ab und zu ein regelrechter Kampf, mich dazu zu entscheiden, mit Schreiben Lesen zu pausieren und mich anderem zu widmen. Aber vielleicht ist genau das die grösste Freiheit: Tun zu können, was einem so sehr Bedürfnis ist.
Carolin Emcke: „Ohne die Sprache, ohne das Schreiben, fühle ich mich wie ein Obdachloser ohne Heimat.“
Das klingt nach liebgewonnenen Gewohnheiten
oder vielleicht schon nach Süchten? 😉
Wir kommen her ohne eine Sprache, ohne
das Schreiben, ohne eine Idee wie Heimat
und ohne jede Erinnerung an irgendetwas.
Und wir gehen ohne Sprache, ohne Schreiben, ohne Denken,
ohne „Heimat“ und ohne Erinnerung wieder aus diesem Leben.
Was immer da war, was gegenwärtig ist
und immer sein wird ist das Bewußtsein.
Der Anästhesist kann Körper und Denken
lahm legen, aber nicht das Bewusstsein.
Die von Carolin genannten Dinge sind fragil,
doch können wir jederzeit „bewusst sein“!
Das Bewußtsein ist der höhere Wert
und das übrige… nur etwas Kleingeld.
Der Rhetorik-Professor Dr. Dr. h. c. mult. Walter Jens wollte,
falls er das Gedächtnis verlöre, nicht mehr leben wollen, hatte
er seinerzeit sein engeres Umfeld wissen lassen. Als er es dann
sukzessive verlor, wollte er aber doch gerne am Leben bleiben.
Alles was ihm wichtig war, ging den Bach
runter und das was ihm unwichtig schien…
Nicht mehr reden können, nicht mehr schreiben können,
nicht mehr erinnern können, doch bei vollem Bewußtsein.
Von der „Freiheit des Tuns“ zur Freiheit des Seins.
🌷
Sandra: „…der verzweifelte Versuch, eine neue Heimat zu finden.“
Bin zwar keine zwanzig mehr, aber mit dem Heimat-
Begriff habe ich noch nie etwas anfangen können.
Gibt es denn einen Winkel im Universum und
darüber hinaus, in dem wir nicht zuhause sind?
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Es ist eine Kunst, auf sich zu hören, sich gehen und treiben zu lassen, wenn’s nötig ist, sich anstrengen, wenn’s wichtig ist, über sich hinauszuwachsen, wenn das Leben nach Wachstum ruft. In der Kreativität nichts gelten lassen als diesen inneren Ruf, sei’s Malen, Schreiben, Lesen, sei’s Spazieren, Singen, sei’s Basteln, Schwadronieren, sei’s irgendetwas. Ein sehr schöner Beitrag von dir – ein schönes Vorhaben, dieses Suchen und Neugierig-Bleiben.
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Ich danke dir für deine Worte!
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Es freut mich, dass Du Deine Sprache – sozusagen die Muttersprache – wieder gefunden hast. Wer seine Sprache gefunden hat, versteht sich auch im Schweigen, wer sie suchen muss, verharrt im Plaudern. Es ist schön, dass Du auch das Schweigen verstehst.
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Wie sagte schon Pythagoras? Man soll schweigen oder Dinge sagen, die noch besser sind als schweigen.
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