Die Grundthese dieses Buches lautet: Die Vorstellung vom freien Willen ist eine Illusion. Aber Illusionen sind durchaus nützlich. Sie können als Resultate der Evolution durch natürliche Auslese gedeutet werden und haben ihren Sinn im Dienste des Überlebens.
Seit Jahrhunderten grenzt sich der Mensch vom Tier durch seinen freien Willen ab. Schwinden die Grenzen und Unterscheidungskriterien immer mehr, so bleibt der Glaube an den freien Willen, der dem Menschen eigen ist, beharrlich bestehen. Die biologischen und vor allem die neurologischen Erkenntnisse der letzten Jahre sprechen eine andere Sprache. Experimente zeigen auf, dass einer Handlung ein Willensakt vorausgeht und diesem wiederum das Bereitschaftspotenzial.
Ist der Mensch nur eine Verkettung von Synapsen? Alles Handeln gesteuert von Hormonen, Genen und biologisch dem Überleben geschuldeten Veranlagungen? Kann man gar nicht frei wählen, was man will, sondern gründet Wollen immer auf Erfahrungen, Ereignissen, Veranlagungen, Zwängen? Und wenn ja, was wäre mit den Begriffen von Schuld und Sühne? Wer hätte die Verantwortung für Unrecht? Wären Gesetze überholt, da keiner anders tun kann, als er tut?
Wuketits kommt zu diesem Schluss, er führt menschliches Verhalten und Handeln auf biologische Ursachen zurück, da alles schlussendlich Ausdruck der Biologie ist und alles nur durch die natürliche Auslese besteht. Da der Mensch aber ein soziales Wesen ist, gilt es, das Miteinander zu regeln und den einzelnen Menschen vor den anderen zu schützen. Aus diesem Grund bedarf es der Gesetze und Normen, die nicht mehr Strafe und Rache darstellen sollen, sondern Schutzcharakter haben. Akzeptiert werden sie von den Amoralischen deswegen, da sie diesen Schutz für sich selber auch wollen. Trotz biologischer Prägung ist der Mensch fähig, moralisch und unmoralisch zu handeln, kann eine Sicht von Moral entwickeln.
Doch auch wenn unser Wille nicht frei ist – wovon wir nunmehr ausgehen dürfen -, werden wir keineswegs von jeder Verantwortung entbunden. Als soziale Lebewesen bleiben wir mit der Fähigkeit zu moralischem und unmoralischem Handeln ausgestattet.
Nur danach handeln kann er nicht frei – nach der von Wuketits vertretenen Meinung –, er ist quasi biologisch und evolutionär getrieben.
Die gute Nachricht ist, dass der Mensch lernfähig ist und sich ändern kann. Dieses Lernen basiert wohl wieder auf Erfahrungen, die dann das nächste Verhalten mit steuern. Die Aussicht auf Strafe reicht aber, so Wuketits, nicht aus, um den Menschen zu verändern. Begründet wird dies mit dem Blick auf Länder mit Todesstrafe, welche die Verbrecher nicht von ihren Taten abhält.
Der freie Wille ist also blosse Illusion. Als solche ist er aber, so Wuketits, durchaus nützlich, da er den Menschen antreibt, ihm ein gutes Gefühl gibt. Zudem hätte diese Illusion nicht überlebt, wäre sie nicht zum Überleben brauchbar – so die evolutionäre Begründung.
Neben dem freien Willen ist auch das Ich eine Illusion. Eine bloss funktionale Realität des Gehirns. Irgendetwas handelt aber unbestritten, ob frei oder unfrei. Eine Materie setzt sich im Handeln in Bewegung. Diese Materie ist mit einem Gehirn (auch Materie) ausgestattet, in welchem ein Bewusstsein sitzt, das wahrnimmt, was um die Materie vorgeht und auch teilweise, was in der Materie vorgeht. Dieses Ganze von Materie und Bewusstsein (mitsamt sämtlicher genetischen, hormonellen, evolutionär überlebenden Prägungen) nennen wir Ich. Dies alles als Illusion und quasi nicht existent zu sehen, führte zu der Frage: Was lebt, wenn alles Illusion ist? Was genau ist daran die Illusion? Sind das alles nicht nur sprachliche Spitzfindigkeiten, die schlussendlich auf das eigentliche Leben wenig Einfluss haben?
Ein informatives Buch, gut lesbar geschrieben, breit abgestützt und inhaltlich begründet. Wuketits Werk bringt das menschliche Selbstverständnis ins Wanken und lässt Fragen nach Schuld, Moral und Recht aufkommen. Die Begründungen in diesem Bereich sind zu flach, zu wenig fundiert und damit philosophisch unhaltbar. Die Basis für eine weitergehende philosophische Diskussion ist damit aber gelegt, die Fragen „Was ist ein Mensch? Wie soll er handeln? Was ist Schuld? Wer trägt die Verantwortung?“ liegen neu zur Beantwortung bereit. Staats- und Rechtsphilosophie sowie Ethik sind gefordert, Stellung zu beziehen.
Fazit:
Einige Hypothesen stehen unbegründet, gewisse Schlussfolgerungen sind zu wenig abgestützt, trotzdem erscheint der Autor kompetent und belesen. Er argumentiert schlüssig und verweist auf die für seine These notwendigen Erkenntnisse in verschiedenen Wissenschaftsgebieten. Absolut lesenswert – wenn auch verwirrend (was am Thema, nicht am Buch liegt).
Gebundene Ausgabe: 181 Seiten
Verlag: S. Hirzel Verlag
Preis: EUR 24.80 / CHF 35.90
Franz M. Wuketits: Der freie Wille. Die Evolution einer Illusion, S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2008.
Ein anschauliches Beispiel für die Gratwanderung zwischen Wissenschaft und Ideologie. Und für den gröbsten Denkfehler auf diesem Gebiet, nämlich Korrelation mit Kausalität zu verwechseln. Sowie für die uns anscheinend innewohnende Sehnsucht nach der einen Erklärung für alles (in der Physik heißt das „theory of everything“), die im Kurzschluss immer zu einem Pseudomonismus führt, der den anderen Part auf den einen reduziert (Materialismus oder Idealismus). Einem Asiaten würde das ein unsichtbares Lächeln auf sein Gesicht zaubern.
Man kann es aber auch so interpretieren: Unsere westliche Kultur oszilliert zwischen (klassischer) Physik und Philosophie/Theologie und bleibt dabei in der Subjekt-Objekt-Spaltung hängen. Das missing link wird dabei hartnäckig ignoriert. Das wäre nämlich die (Tiefen-)Psychologie. Die ist – genauso wie die Quantentheorie – nicht auf den platten Dualismus angewiesen, den wir in einer Art retrograden Amnesie sogar Platon umhängen. Physik und Psychologie ersetzen den unlösbaren Dualismus durch die Komplementarität, wodurch die Gegensätze bleiben dürfen, aber letztlich doch unanschaulich eins sind. Was auch an Hegel erinnert.
Haben wir jetzt einen freien Willen oder nicht? Das ist, so betrachtet, einfach die falsche Frage. Da gibt es kein Entweder-Oder, sondern beides ist menschliche Realität. Gut, man muss auch noch die Dynamik des Lebens mitnehmen, die sich dem pseudo-naturwissenschaftlichen Denken ebenfalls verschließt. Was soviel heißt wie, die gewohnte Ontologie des Seinenden durch eine Prozess-Ontologie (Whitehead) zu ersetzen.
Fazit: Wir sind naturgemäß determiniert – mit der Option, durch Innehalten auch frei entscheiden zu können. Sofern wir davon Gebrauch machen wollen. Niemand zwingt uns dazu. Auch mit der Option, die Bedingtheiten aus dem Unbewussten nach und nach aufzulösen, was allerdings eine Lebensaufgabe ist.
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Danke für diesen sehr interessanten Kommentar. Und ja, ich teile dein Fazit vollumfänglich.
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