Glaubt man vielen führenden politischen Philosophen, so ist die Legitimation des Staates auf einem Vertrag gleicher Menschen begründet. Die Vertragspartner zeichnen sich aus durch gleiche Fähigkeiten, gleiche Ansprüche, gleiche Macht. Mit diesem Fundament zeichnen sie sich als rationale Menschen aus und damit fähig, einer gerechten Basis eines Staates zuzustimmen, dessen Bürger sie danach sind. Einige hilfreiche Tricks bringen noch moralische Einlagen wie Unparteilichkeit und ab und an sogar Fürsorge mit ins Spiel, das reicht, so sind sie sich einig, um eine umfassende Gerechtigkeitstheorie aufzustellen. Sie merken zwar an, dass gewisse Fälle aussen vor bleiben, so zum Beispiel Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, welche durch mangelnde soziale Einrichtungen in ihrem Leben behindert werden. Eine Lösung für dieses Problem bleiben sie schuldig. (Es geht nicht drum, den Wert der Theorien der hier gemeinten Philosophen in Frage zu stellen. Sie haben das Nachdenken über Gerechtigkeit, das Hochhalten dieses Werts und die Legitimation von staatlichen Institutionen in den letzten Jahren angeregt und geprägt. Sie haben gute Anstösse gebracht und hervorragende Gedankengänge einer Öffentlichkeit präsentiert, um diese mitzuprägen.)
Dass man für diese Probleme aber eine Lösung finden muss, steht fest. In der Vertragstheorie sieht man für sie (zumindest bei Rawls) nachträgliche Leistungen vor, die das Leben der Betroffenen lebenswerter machen sollen. Das ist ein netter Versuch. Die Bürger und Mitbestimmenden des Staates gehen also dahin und bestimmen, wie sie das Leben der auf sie Angewiesenen besser gestalten können. Dies natürlich nur, wenn die Kosten nicht zu hoch und der Nutzen dem Aufwand angemessen ist. Vielfach bleibt es bei einem halbpatzigen Versuch, doch selbst wenn er ganz erfolgte, bliebe ein schales Gefühl.
In diesem nachträglichen Eingreifen liegt eine Degradierung der Menschen mit einer Beeinträchtigung. Sie sind dadurch de facto vom Bürgerstand ausgeschlossen und zu Anhängseln der Gesellschaft degradiert, welchen man zwar hilft, die aber nicht wirklich Teil dieser Gesellschaft sind. Alle Worte von Integration und dergleichen sind so blosse Worte. Ausgeführt werden Taten, die eine andere Sprache sprechen: Ich bin ein Bürger, ich habe das Sagen. Ich kümmere mich um dich, weil du es brauchst. Das ist zwar ein netter Zug, doch nimmt es dem dieser Fürsorge Anhängigen die Möglichkeit, sich selber in seiner Möglichkeit zu kümmern. Es nimmt ihm die Stimme und es nimmt ihm das aktive Selbstbestimmungsrecht. Er hat dann nur noch das Recht, dass ihm geholfen werden sollte, nicht aber ein Recht, dazu beizutragen, selber eine Stimme zu haben. Er ist in die Passivität verdammt.
Nun kann man anfügen, dass es Formen von geistiger Beeinträchtigung gibt, die eigenes (rationales) Handeln ausschliessen. Das mag sein. Doch ist das davon betroffene Wesen kein Mensch mehr? Ihm wird oft grössere Nähe zu Tieren zugesprochen denn zu Menschen. Nun kann man sagen, dass das allein kein Drama wäre, da der Mensch selber nur eine Tierart mit bestimmten Fähigkeiten ist. Da wir aber dazu neigen, Tiere zu unterdrücken, fallen die Menschen mit Beeinträchtigung auch in diese Kategorie. Es entsteht eine klare Machtstruktur mit einem Oben und Unten, einem Herrscher und einem Beherrschten.
Das Argument, dass Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, mitzuentscheiden und darum aussen vor gelassen werden müssen, liegt weit vorne. Schweden zeigt, dass es anders möglich wäre. (Auch andere Länder haben sich solchen Lösungsansätzen angeschlossen.) In Schweden gibt es eine Mentorschaft. Der Mentor vertritt die Bedürfnisse und Interessen des Behinderten. Damit wird dieser nicht übergangen, sondern erhält eine Stimme. Sollte er dazu gar nicht in der Lage sein, erhält er einen Vertreter, der seine Stimme wahrnimmt. Natürlich kann dieses System ausgenutzt werden durch böswillige Verwalter, Beispiele für bösartige Vormunde sind gerade in der jüngsten Aufarbeitung der Schweizer Verdingkindergeschichte ans Tageslicht gekommen. Man sollte aber ein System nicht von vornherein verurteilen, nur weil es ausgenutzt werden könnte. Die Gefahr besteht immer, wichtig ist, sie zu kennen und Mittel und Wege zu finden, dem entgegen zu wirken, um eine eigentlich gute Idee zu fördern.
Unterm Strich bleibt: Der Mensch hat Rechte. Diese stehen im zu aufgrund seines Menschseins. Das Menschsein hört nicht auf, wenn der Mensch krank oder beeinträchtigt ist. Krank und beeinträchtigt kann er auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenem Ausmass sein. Geistig, körperlich, von Geburt an, durch Unfall oder einfach auch durchs Alter. Wann hat der Mensch eine Stimme? Wann ist er voll zählendes Mitglied der Gesellschaft? Ist ein Mensch mit Beeinträchtigungen wirklich weniger wert als ein „normaler“? Hat er weniger Rechte und ist dem guten Willen der anderen ausgeliefert? Fair ist das nicht. Und menschenwürdig schon gar nicht. Wer Menschen mit Beeinträchtigung gering schätzt verkennt die Tatsache, dass schon morgen er selber in ihren Schuhen gehen könnte. Die Zeit nagt an jedem, wer heute gesund lebt, kann morgen krank oder beeinträchtigt sein und damit auf andere angewiesen.
Wenn man sich dessen bewusst ist, merkt man vielleicht, dass es an der Zeit wäre, jedem Tier (menschlich wie nichtmenschlich) die ihm angemessene Wertschätzung entgegen zu bringen, denn schon morgen könnte man an dessen Stelle stehen und froh sein, die anderen hätten diese Lektion schon gelernt.
Eine sehr erhellende Lektüre zu dem Thema bietet: Martha C. Nussbaum. Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit.
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Ein elementar wichtiger Bestandteil unseres Seins ist der Altruismus. Diesen können wir auch zurückverfolgen zu unseren nächsten Verwandten, den Bonobos und Schimpansen, finden ihn aber auch im übrigen Tierreich. Wichtig hierbei ist aber das Bewusstsein, dass die Fähigkeit zu Empathie ein fragiles Gut ist, das gepflegt, vorgelebt und entwickelt bzw. vermittelt und gelehrt werden muss, sonst verkümmert es oder stirbt aus. Auch sind dem Altruismus Grenzen gesetzt. Werden die Bedingungen härter, kommt es zu Extremsituationen, geht es nur noch um die Rettung der eigenen Haut und des engeren, meist familiären Umfelds. Dann ist jedes Mittel im wahrsten Sinne des Wortes (ge)recht(fertigt), bis hin zu Mord und Totschlag. Auch sind wir von Natur aus eher auf ein überschaubares Umfeld, unsere peer group, unsere soziale Gruppe, Sippe begrenzt. Zu fremden, unbekannten, anonymen Menschenmassen erschöpft sich unser Altruismus, was der heute globalisierte Kapitalismus und die fürchterlichen kriegerischen Auseinandersetzungen der Gegenwart und Vergangenheit dokumentieren, insbesondere wenn die Ressourcen knapp werden.Auch spielt in den meisten Kulturkreisen Gerechtigkeit oder Solidarität eher eine untergeordnete Rolle. Im anglo-amerikanischen, puritanisch geprägten Verständnis ist jeder zu einem großen Teil selbst seines Glückes Schmied. Gott vergilt harte Arbeit und Gottesfürchtigkeit mit Wohlstand. In der asiatischen Philosophie ist die Akzeptanz des eigenen Schicksals ein wesentlicher Bestandteil.
Und etwas ungerechteres als das Schicksal gibt es kaum. Unvermittelt werden wir von Schicksalsschlägen heimgesucht, schwerer Krankheit, Naturkatastrophen, Unfällen, Tod. Wir werden in Armut oder Reichtum hineingeboren, wir haben fürsorgliche oder kaltherzige Eltern, Freunde, denen wir vertrauen können oder Menschen, die uns verraten und ausbeuten. Auch unser biologisches Erbe ist ungleich verteilt, betreffend unsere Talente, unsere Physiognomie und unsere Anfälligkeit für spätere Gebrechen.
Es mag ein Kampf gegen Windmühlen sein, aber dennoch möchte ich Dir uneingeschränkt beipflichten. Der Altruismus ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Wesens, gerade weil wir uns bewusst machen müssen, welch glücklichen Zufällen wir unser Wohlergehen verdanken und wie schnell es damit vorbei sein kann.
Hierzu übrigens auch mein älterer Artikel: http://wp.me/p18xEz-8J
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