Keine Demokratie ohne Dialog

Unsere Gesellschaft ist gespalten. Das hört man in der heutigen Zeit häufig und meistens werden als Grund dafür Corona und die deswegen vom Staat verhängten Massnahmen ins Feld geführt. Ich bin mir nicht sicher, ob dieses die Gründe für die Spaltung sind oder aber sie dieselbe, schon dagewesene, deutlich machten. Neu, davon bin ich überzeugt, ist diese Spaltung nicht, denn Spaltungen gab es immer, sowohl strukturell (arm-reich, das Patriarchat mit der Unterdrückung der Frau, etc.) wie auch in den Gesinnungen der Mitglieder der Gesellschaft. Sie teilen diese immer in zwei Lager: Dafür und dagegen.

Ich bin schon lange der Meinung, dass unser Verhalten einer Demokratie nicht würdig ist, dass wir mit unserer Art des Zusammenlebens die Demokratie gefährden und ad absurdum führen. Wenn man sich anschaut, was Demokratie bedeutet, ergibt sich folgende kurze Definition:

„Als demokratisch im weitesten Sinne bezeichnet man daher heute Machtverhältnisse, in denen Staatstätigkeiten (…) vom Volk durch die Wahl von Vertretern (Repräsentanten) und Vertreterkörperschaften ausgeübt wird, die auf mannigfache Weise (…) zustande kommen und verschieden zusammengesetzt sind. […] Demokratisch nennt man ferner innere Meinungsbildungsprozesse und Beschlussverfahren in Organisationen und Verbänden, zu welchen (analog zur demokratischen Staats- und Gemeindeverfassung) alle Mitglieder chancengleich Zugang haben und in denen sie gleichberechtigt mitwirken können.“ (Wörterbuch der philosophischen Begriffe)

Nun gibt es verschiedene Formen der Demokratie, welche ich hier nicht weiter behandeln möchte. Relevant für mein Thema hier ist nur noch, dass in einer Demokratie freie Menschen frei wählen können und bei solchen Wahlen das sogenannte Mehrheitsprinzip zum Tragen kommt. Das heisst: Bei demokratischen Entscheidungen gilt, was von der Mehrheit der Wählenden (verfassungskonform) bestimmt wird. Dass dies nicht immer befriedigend ist für die Minderheit, die den Entscheid mittragen muss, liegt auf der Hand. Was aber wäre die Alternative? In meinen Augen keine, welche die Vorzüge einer Demokratie behält und etwaige Problematiken beseitigen könnte.

«Die Majorität hat viele Herzen, aber ein Herz hat sie nicht.» Otto von Bismarck

Zentral für eine funktionierende Demokratie ist in meinen Augen ein funktionierender Austausch zwischen denen, welche die Entscheidungsgewalt haben. Nur so kann es gelingen, eine Lösung für Probleme zu erhalten, welche für die grösstmögliche Mehrheit stimmt und für die kleinstmögliche Minderheit trotz allem tragbar ist.

«Demokratie ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf über die nächste Mahlzeit abstimmen.» Benjamin Franklin

Im Wissen darum, dass die überstimmte Minderheit die gefällten Entscheidungen mittragen muss, und in Anbetracht dessen, dass wir auch teilweise über Dinge entscheiden, die gerade die Minderheiten betreffen, ist es wichtig bei solchen Entscheidungen, dass die Minderheiten mit ihren Anliegen mitbedacht werden.

„Man ist gewöhnlich immer desto weniger republikanisch gesinnt, je höher der Rang ist, den man in der Welt bekleidet.» Georg Christoph Lichtenberg

Das Wissen um und das Ausnutzen der eigenen Übermacht ohne Rücksicht und Solidarität sind einer (als sozial verstandenen) Demokratie nicht angemessen. Da fangen die Probleme an, daran krankt in der heutigen Zeit die Demokratie:

Die Fronten sind verhärtet. Es scheint, als ob Menschen nicht mehr an einem Diskurs interessiert sind, als ob Dialektik ein vergessenes Gut und stures Beharren auf der je eigenen Sicht das einzige Anliegen ist. Andere Meinungen werden nicht mehr gehört, sie werden mit eigenen Argumenten in Grund und Boden gestampft. Nützt das nichts, wird der Anders-Denkende als Idiot bezeichnet und bevorzugt zum Schweigen gebracht – in den Sozialen Medien dadurch, dass man ihn ignoriert oder blockiert.

Ausgehend von meiner Hypothese, dass ohne Austausch keine (gelebte und gelingende) Demokratie möglich ist, bedeutet dies den Tod derselben. Wir müssen aber nicht mal in die Politik gehen, obwohl die Staatsform natürlich eine Sicherung der persönlichen Interessen einer Gesellschaft ausdrücken soll (im Idealfall) und damit natürlich relevant ist für den einzelnen Menschen. Schon die Gesellschaft ist eine grosse Gruppe, die oft zu abstrakt klingt. Wir leben darin, aber was ist sie konkret? Schauen wir uns also das Problem im kleineren Rahmen an: Wie gehen wir mit Menschen um, die anders denken? Hören wir uns an, was sie zu sagen haben, wie sie zu ihrer Meinung kommen? Können wir ihre Meinung auch einmal stehen lassen und akzeptieren, dass wir in gewissen Punkten nicht einer Meinung sind? Oder stimmt für uns ein Miteinander nur, wenn einer den anderen überzeugt hat (bevorzugt wir den Anderen)? Die Vehemenz, mit welcher heute Diskussionen ausgefochten (die Kriegsmetaphorik ist bewusst gewählt) werden, besorgt mich.

«Die Demokratie ist die edelste Form, in der eine Nation zugrundegehen kann.» Heimito von Doderer

Was mich ebenso besorgt, ist, dass in solchen Diskussionen nicht nur nicht genau hingehört wird, sondern die Gegenargumente oft auch aus dem Zusammenhang gerissen, falsch wiedergegeben werden und der sie Äussernde durch solche Fehlzuschreibungen verunglimpft wird. Es ist gut und wichtig, eine Meinung zu haben, und eine Meinung muss auch vertreten werden, schliesslich steckt eine Überzeugung dahinter. Was ich aber vermisse, ist die Einsicht, dass wohl keiner allein in jedem Fall immer die ganze Wahrheit sieht oder alles wissen kann. Wer glaubt, Wahrheit erkenne man nur von einem (dem eigenen) Standpunkt heraus, muss auch glauben, dass die Erde eine Scheibe ist – oder hat er die Krümmung gesehen von da, wo er steht? Hinzuhören, wie man etwas auch noch anders sehen kann, oder wie es von einer anderen Warte aus gesehen wird, kann helfen, den eigenen Blick zu weiten. Das kann dazu führen, dass man merkt, dass die eigene Sicht richtig war, weil man im Gedanken des Anderen einen Denkfehler findet, es kann dazu führen, die eigene Sicht zu revidieren oder anzupassen, weil man merkt, dass man etwas nicht bedacht hat, oder es kann zu einer gemeinsamen neuen Meinung führen, welche mehr ist als nur die Summe ihrer Teile, sondern ein ganzheitlicherer Blick auf eine Welt, die so komplex ist, dass einer allein sie kaum je wird erfassen können.

Wenn wir das nun auf die Demokratie anwenden und darauf, wie Menschen, die diese gestalten sollen, agieren müssten, komme ich zu dem Schluss: Es wird uns nur gemeinsam gelingen, die Welt so zu schaffen, dass sie für all die, welche sie bewohnen müssen, eine gute Welt ist, in welcher jeder sich nach seinen Fähigkeiten als Gleichberechtigter entwickeln kann und die Chance hat, zu partizipieren. Dazu bedarf es eines offenen Dialogs unter als gleichwertig Anerkannten, die man als mit sich verbunden sieht, weil sie wie man selber auch, in eine Welt geworfen wurden, die sie sich nicht ausgesucht haben, in welcher sie nun aber ein gelingendes Leben leben möchten.

Fluch und Segen des Fortschritts

Menschen wollen weiterkommen. Sie forschen, sie suchen den Fortschritt und finden ihn. Durch dieses Forschen ist es gelungen, das Waschbrett gegen eine Maschine auszutauschen, Krankheiten auszurotten und zum Mond zu fliegen. Alles positive Dinge. Grundsätzlich. Allerdings hat so mancher Fortschritt auch seine Tücken, denn er lässt neue Fragen entstehen: War die Atombombe ein grosser Fortschritt oder doch die grösste selbstgeschaffene Gefahr der Menschheit? Muss man lebenserhaltende Massnahmen anwenden, weil man es kann, oder tangieren sie die Würde des Menschen? Und wo liegt die Grenze?

Die neuste Frage, die sich stellt: Ist die Früherkennung des Geschlechts eines Embrios ein Segen oder ein Fluch? Die Freiheit der Frau, zu entscheiden, ob sie das Kind kriegt, geht damit soweit, das nicht gewünschte Geschlecht abzutreiben. Wir kommen der Planung des perfekten Kindes näher. Bald sind es wohl auch Haarfarbe, Augenfarbe und IQ, die passen müssen, um über Leben und Tod zu entscheiden.

Soll man also deswegen die Freiheit der Frau, über die man erst kürzlich abgestimmt und sich dafür entschieden hat, einschränken? Ist das Verbot Ärzten gegenüber, das Geschlecht vor der abgelaufenen Frist, in der ein Schwangerschaftsabbruch gesetzlich erlaubt ist, bereits eine Einschränkung der Freiheit der Frau? Dann wäre sie ja durch die Unmöglichkeit der Früherkennung auch eingeschränkt gewesen. Was natürlich zutrifft. Ist die staatliche Einschränkung schlimmer als die natürliche? Weil nun etwas, das möglich ist, verunmöglicht wird und der Staat die Hand drüber hat? Allerdings hat er wohl auch viel zur Forschung beigetragen (durch Geld, Infrastruktur, etc.), die den Fortschritt überhaupt erst ermöglicht hat – hat er dadurch ein Recht erworben, dessen Einsatz zu steuern?

Wenn man für die Freiheit der Frau stimmt, ihr Kind abtreiben zu dürfen, dann muss man ihr wohl folgerichtig auch die Gründe für diesen Abbruch überlassen. Wer würde sonst bestimmen dürfen, was ein triftiger Grund ist und was nicht? Ist der blosse Wunsch nach einem Jungen schon Grund genug, ein Mädchen abzutreiben? Wäre die dringende Notwendigkeit eines männlichen Erben und zu wenig Geld, noch ein 15. Mädchen zu ernähren, Grund genug? Ist eine Behinderung akzeptabel als Begründung und wie schwer müsste sie sein? Grenzen zu ziehen ist nie einfach, da jede Grenze eine Ungerechtigkeit mit sich bringt. Die auf der einen Seite werden anders behandelt als die auf der anderen. Und meist ist die Grenze relativ willkürlich – sie basiert auf den kulturellen Gegebenheiten, auf Gesetzen, auf Ein- und Ansichten und Wertvorstellungen. Und keines von all dem ist absolut und zeitlos, sondern immer der Zeit und dem Ort geschuldet, in denen sie vorherrschen.

Was also ist die Lösung? Es gibt wohl keine einfache. Aufhören zu forschen wird man nicht, da es erstens noch so viele Themen und Gebiete gibt, die dringend erforscht werden sollten (Krankheiten, etc.). Zweitens ist der Forschertrieb im Menschen zu tief angelegt, als dass er ihn einfach abstellen könnte. Er will weiter, will höher, will alles. Immer. Das hat seinen Preis. Ausgerottete Krankheiten bedeuten mehr Menschen, da die Menschen älter werden. Soziale und finanzielle Probleme sind die Folge. Medizinischer Fortschritt führt zu Ermessensfragen, welche die Würde des Menschen, Entscheidungen über Leben und Tod und vieles mehr mit sich bringen. Technischer Fortschritt bringt Hilfsmittel im Alltag, aber auch Waffen und damit Zerstörung auf die Welt. Es bleibt wohl dabei, dass alles immer zwei Seiten hat. Und ab und an liegt die Antwort auf die sich öffnenden Fragen nicht einfach auf der Hand oder es gibt schlicht keine befriedigende.

Rezension: Hans-Martin Schönherr-Mann – Hannah Arendt. Wahrheit, Macht, Moral

Die Suche nach der einen Welt

Gesellschaftliche Strukturen lösten sich über die Jahrzehnte immer mehr auf, Individualisierungsprozesse führten immer stärker zu einem Verlust familiärer und sozialer Netze. Vormals gemeinsam getragene Lebensumstände waren vermehrt allein zu tragen, der existentielle Abgrund droht unmittelbarer, da die Netze grobmaschiger werden, die früher auffingen. Leben die Menschen überhaupt noch in einer Welt oder sind mehrere verschiedene Welten zu entwerfen, in denen sich die Individuen bewegen? Hannah Arendt verfolgt diese Frage ihr Leben lang, versucht, zu eruieren, wie eine Welt beschaffen sein müsste, in der Menschen miteinander und in Frieden leben können, indem sie untersucht, was dazu führt, dass sie es nicht tun. Sie analysiert totalitäre Herrschaftssysteme, welche immer wieder grossen Zulauf fanden, schlussendlich aber ins Verderben führten, indem sie erst Halt versprachen in Zeiten grosser Unsicherheit und Haltlosigkeit, danach aber unterdrückten.

Nach Arendt antworteten die totalitären Systeme von Stalinismus und Nationalsozialismus just auf diese Gefühlslagen. Sehr viele Menschen versprachen sich durch ihre Unterwerfung unter solche Herrschaftsstrukturen Sicherheit und Geborgenheit. Dagegen verstärkte der Vormarsch des Totalitarismus solche Gefühle der Unsicherheit natürlich bei seinen Gegnern […]

Arendt setzt auf Pluralität und Kommunikation. Nur in der freien Auseinandersetzung können Menschen in einem Staat leben, können sie Freiheit erfahren. Es geht nicht darum, die Menschen zu vereinheitlichen, sondern sie in ihrer Pluralität anzunehmen und ihnen den Raum zu geben, sich einzubringen.

Die eine Welt entsteht nach Arendt aber nicht, wenn sich die Gesellschaften homogenisieren, indem sie sich ethnisch reinigen. Denn solche einheitlichen Staaten und Gesellschaften schliessen genau jene Welt aus, an der alle teilhaben können und die für Arendt die einzige Welt bleibt, weil die Welt niemand monopolisieren darf und letztlich gar nicht kann.

Erst wenn alle in der Welt zuhause sind und diese mitgestalten, wird es eine geeinte Welt sein, eine, die Halt und Sicherheit für alle verspricht. Dies die Theorie. Wie umsetzbar sie ist, bleibt dahin gestellt. Als Fazit könnte man sagen,

dass menschliches Zusammenleben nur darum und in dem Masse sinnvoll ist, als es in einem „Teilnehmen und Mitteilen von Worten und Taten“ besteht.

Hans-Martin Schönherr-Mann präsentiert in diesem dünnen Buch das Leben und Denken einer grossen Denkerin, er hängt es hauptsächlich an ihren Gedanken zum totalitären System auf, welche durchaus zentral waren (wenn auch nicht die einzigen nennenswerten). Er verfolgt diesen roten Faden analytisch und schlüssig, versteht es, in gut lesbarer Weise auch komplexe Zusammenhänge darzulegen und so einen Einblick in ein Themengebiet zu liefern, das obwohl von Arendt vor Jahren gedacht, noch heute aktuell ist.

Fazit:
Die zeitlosen Gedanken einer herausragenden Denkerin prägnant dargestellt. Sehr empfehlenswert.

 

Zum Autor
Hans-Martin Schönherr-Mann
Hans-Martin Schönherr-Mann wurde am 23. Mai 1952 in Esslingen am Neckar geboren. Er studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Neuere Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und promovierte 1982 bei Manfred Riedel und Herbert Ganslandt. Von 1987 bis 1992 war er wissenschaftlicher Assistent für Politische Philosophie und Politische Theorie am Geschwister-Scholl-Institut der Universität München, wo er 1995 habilitiert wurde. Seit 2002 ist er außerplanmäßiger Professor für Politische Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er nahm Vertretungs- bzw. Gastprofessuren an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, den Universitäten Innsbruck, Passau, Regensburg, Turin und in Venedig wahr.

 

Angaben zum Buch:
SchönherrArendtTaschenbuch: 208 Seiten
Verlag: C.H. Beck Verlag (15. März 2006)
ISBN-Nr.: 978-3406541070
Preis: EUR 12.90 / CHF 19.70

 

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Hans-Ulrich Wehler: Die neue Umverteilung

Nicht nur in Deutschland geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, das Phänomen lässt sich weltweit beobachten. Während die Reichen mit immer mehr Gier und Eifer ihre Millionen horten, verhungern ganze Völker. Dass genug für alle da wäre, wenn es gerecht verteilt wäre, ist längst bekannt. Die Frage, wieso dies nicht endlich geschieht, steht im Raum. Um zu verstehen, wie es zu dieser Situation kommen konnte, reicht es nicht, die gegebenen Zustände anzuklagen, sondern es bedarf des Blicks zurück auf die Geschichte dieser Zustände.

Für beides: für die aufklärende Diskussion wie für das praktische Handeln sind möglichst genaue historische Kenntnisse von Nutzen, ja unentbehrlich. Bleibt doch die Geschichte – dies erneut gegen die geläufige Skepsis – das einzige Erinnerungs- und Denkmaterial, aus dem wir lernen können, denn allein Gegenwartskonstellationen und Zukunftsprojektionen reichen dafür nie aus. Historische Kenntnisse belehren über den gewöhnlich langsamen Gang der sozialen Evolution

Dabei wird klar, dass man nicht einfach erkennen kann, dass die Gesellschaft in eine falsche Richtung läuft, um dann eine Kehrtwende zu machen. Systeme bewegen sich langsam, je grösser, desto langsamer.

Blickt man zurück, sieht man, wie die vom Staat auferlegten Regeln über das menschliche Zusammenleben nach und nach durch marktwirtschaftliche Prinzipien unterlaufen wurden, der Markt verdrängte quasi den Staat Schritt für Schritt. Was zuerst als erstrebenswert galt, nämlich die Aufhebung von durch Abstammung definierten Hierarchien, wich bald einer neuen Hierarchie nach Wirtschaftlichkeit.

Sie [die Geschichte, S.M.] belehrt darüber, wie sich mit der modernen Marktwirtschaft auch die Marktgesellschaft Schritt für Schritt durchgesetzt hat, in der die „marktbedingten Klassen“ (Max Weber) die überkommenen ständischen Formationen effektiv verdrängt haben. Denn in dieser Marktgesellschaft entscheiden zusehends Marktprinzipen über die Zuteilung von Lebenschancen und Lebensrisiken.

Neue Ungleichheiten entstehen, sie messen sich an Einkommen, Alter, Bildung und Geschlecht, Chancen variieren nach kultureller Herkunft und Gesundheitsstand, die durch Geburt gegebenen Fähigkeiten multiplizieren die durch andere Kriterien bestimmten Lebenschancen.

Alle Ungleichheiten wird man nie aus der Welt schaffen, eine durch und durch gerechte Gesellschaft herstellen zu wollen, wird eine Utopie bleiben. Wichtig ist es, machbare und fruchtbare Lösungswege hin zu einer Verbesserung aufzuzeigen und anzugehen.

Als realistische Politik kann daher nur die Abmilderung einer allzu krass ausgeprägten Hierarchie gelten.

Hans-Ulrich Wehler liefert mit seinem Buch Die neue Umverteilung eine verständliche und trotz knapp bemessenem Umfang fundierte Darstellung wichtiger soziologischer und ökonomischer Theorien. Er zeigt auf, wie im Lauf der Geschichte soziale Ungleichheiten die Schere zwischen Reich und Arm auseinander klaffen liess. Er zeigt zudem auf, wie politische Macht mit der wirtschaftlichen Kraft einhergeht und deutet auf die Gefahr dieses Zusammenspiels hin.

Wehler zeigt auf, wie auch in Zukunft die sowieso schon Privilegierten immer noch mehr Privilegien geniessen, wie sich Working Poors mehr schlecht als recht durchs Leben kämpfen und wie die Mittelschicht einen aussichtslosen Kampf austrägt. Die Sachlichkeit von Wehlers Darstellung lässt seine Schlüsse glaubhaft klingen und die Lage bedrohlich erscheinen. Seine aufgezeigten Anstösse hin zu einer Umkehr lassen die Hoffnung weiterleben.

Fazit:
Eine fundierte, sachliche Diagnose der heutigen Zeit und der Lage der (deutschen) Nation sowie der allgemeinen Wirtschaftslage. Ich kann dieses Buch jedem ans Herz legen, der etwas über die heutige Lage erfahren und neue Wege erkennen möchte.

 

Zum Autor:

Hans-Ulrich Wehler
Hans-Ulrich Wehler wurde 1931 geboren, besuchte nach dem Gymnasium Geschichte, Soziologie und Ökonomie. Bis zu seiner Emeritierung war er Professor für Allgemeine Geschichte in Bielefeld. Für sein Schaffen erhielt er mehrere Preise und Auszeichnungen. Von ihm erschienen sind auch Eine lebhafte Kampfsituation (2006), Notizen zur deutschen Geschichte (2007), Land ohne Unterschichten (2010), Nationalismus (2011)

Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Verlag: Verlag C.H.Beck (2013)
Preis: EUR 14.95 / CHF 21.90

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Neue Gretchenfrage: Wie hält er es mit der Solidarität? – Alles Egoisten?

Sozialstaat und Wohlfahrt, soziale Gerechtigkeit, Umverteilung – Schlagworte der Zeit.  Vor allem, wenn die Zeiten schlechter werden, die Schere zwischen arm und reich sich weitet, hört man immer lautere Stimmen, die diese Werte und Ziele ausrufen. Als Argument dafür fällt bald einmal Solidarität. Aus Gründen der Solidarität müsse der Mensch für soziale Verhältnisse schauen, müsse auch den schlecht Gestellten ein Überleben, ein Leben sichern. 

 

Gehen Gerechtigkeit und Solidarität Hand in Hand? Sind es Gründe der Solidarität, die den Wunsch nach Gerechtigkeit laut werden lassen? Schaut man auf John Rawls‘ Theorie der Gerechtigkeit, kommen einem da Zweifel. Spätestens der Schleier des Nichtwissens zeichnet ein Bild von Vertrag schliessenden Egoisten, nicht von solidarischen Gemeinschaftswesen. Wieso braucht es den Schleier? Meist heisst es, aus Gründen der Unparteilichkeit. Weil man dann nicht wisse, wo im System man stehe und drum objektiv entscheide. Bräuchte man diesen Schleier, wäre man ein solidarisch denkender und handelnder Mensch? Würde man dann nicht im Wissen, wo man steht dafür schauen, dass es allen gut ginge? Den Schleier des Nichtwissens braucht es erst dann, wenn man nicht wissen darf, wo man steht, damit man aus Angst, man könne der schlechtest Gestellte sein, diesem möglichst viel Sicherheit für ein menschenwürdiges Leben gibt. Also ist nicht die Solidarität mit anderen der Grund für die so beschlossenen Gerechtigkeitsprinzipien, sondern der blosse Selbstschutz – Egoismus. 

 

Nun ist das nicht per se schlecht und jeder ist sich selber schliesslich der Nächste. Nur fragt sich dann, wo Solidarität überhaupt noch herrscht, ob es sie gibt oder ob sie nur ein Kunstprodukt moralisierender Utopisten ist. 

 

Ist Solidarität wirklich eine dem Menschen inhärente Eigenschaft oder aber ist sie ein Kunstbegriff zur moralischen Untermauerung von (sozial-)politischen Zielen? Kann Solidarität von Gesetzes wegen gefordert werden oder aber geschieht sie immer freiwillig, aus privaten, persönlichen Ein- und Ansichten? Was genau ist also Solidarität? Gibt es sie und wenn ja, wann greift sie? Kann man innerhalb von Gesellschaften und vor allem Staaten darauf zählen oder wird sie da nur instrumentalisiert, um staatliche Zwangsmassnahmen zu legitimieren und ihnen einen (breiteren) ethischen Boden zu geben?

 

Schlussendlich ist es doch so: Der Mensch ist ein Egoist. Soll er kooperieren, tut er das nur, wo er eigenen Profit, eigene Vorteile sieht. Wenn dies zum Wohl aller dient, schlägt er damit zwei Fliegen mit einer Klappe und somit kann ein System von Egoisten durchaus ein gerechtes System sein. Egoismus ist dabei keine negative, sondern einfach eine natürliche Eigenschaft im Dienste des eigenen Überlebens. Wenn etwas mehr bleibt, reicht es gar zum Leben, mit noch einem Mehr zum guten Leben. Wo diese Grenzen gezogen werden müssen, ist schwammig. Mit Solidarität hat das alles noch wenig zu tun. Die findet meist im Privaten und auf emotionaler Basis, nicht auf rationaler staatlicher – schon gar nicht erzwungen – statt. 

 

Deckt sich das mit der Studie, die jüngst erforschte, dass Menschen aus dem ersten Impuls heraus altruistisch handeln, mit etwas Nachdenken aber auf die eigenen Interessen fokussiert agieren. Oder ist das ein Widerspruch zur vorher ausgeführten natürlichen Egoismushaltung? Der Verstand gilt als die den Menschen zum Menschen machende Grösse. Insofern scheint er eine natürliche Anlage im Menschen zu sein. Aus der neusten Hirnforschung wird uns sogar berichtet, dass alles nur Gehirn, damit reine Biologie, sprich Natur sei. Es ist allerdings einzuräumen, dass er durch kulturelle und andere Einflüsse geprägt, geformt werden kann. Insofern ist die Diskussion über Solidarität, das Hochhalten solcher Werte, durchaus sinnvoll, da es die Natur des Menschen mitprägt. Am Grundimpuls, das eigen Überleben als allererstes zu sichern, wird es aber nichts ändern. Es liefert nur eine Argumentationsgrundlage für gewisse Ziele, die schlussendlich allen Menschen zu Gute kommen sollen. 

Die Rechte als Mensch

Glaubt man vielen führenden politischen Philosophen, so ist die Legitimation des Staates auf einem Vertrag gleicher Menschen begründet. Die Vertragspartner zeichnen sich aus durch gleiche Fähigkeiten, gleiche Ansprüche, gleiche Macht. Mit diesem Fundament zeichnen sie sich als rationale Menschen aus und damit fähig, einer gerechten Basis eines Staates zuzustimmen, dessen Bürger sie danach sind. Einige hilfreiche Tricks bringen noch moralische Einlagen wie Unparteilichkeit und ab und an sogar Fürsorge mit ins Spiel, das reicht, so sind sie sich einig, um eine umfassende Gerechtigkeitstheorie aufzustellen. Sie merken zwar an, dass gewisse Fälle aussen vor bleiben, so zum Beispiel Menschen mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, welche durch mangelnde soziale Einrichtungen in ihrem Leben behindert werden. Eine Lösung für dieses Problem bleiben sie schuldig. (Es geht nicht drum, den Wert der Theorien der  hier gemeinten Philosophen in Frage zu stellen. Sie haben das Nachdenken über Gerechtigkeit, das Hochhalten dieses Werts und die Legitimation von staatlichen Institutionen in den letzten Jahren angeregt und geprägt. Sie haben gute Anstösse gebracht und hervorragende Gedankengänge einer Öffentlichkeit präsentiert, um diese mitzuprägen.)

Dass man für diese Probleme aber eine Lösung finden muss, steht fest. In der Vertragstheorie sieht man für sie (zumindest bei Rawls) nachträgliche Leistungen vor, die das Leben der Betroffenen lebenswerter machen sollen. Das ist ein netter Versuch. Die Bürger und Mitbestimmenden des Staates gehen also dahin und bestimmen, wie sie das Leben der auf sie Angewiesenen besser gestalten können. Dies natürlich nur, wenn die Kosten nicht zu hoch und der Nutzen dem Aufwand angemessen ist. Vielfach bleibt es bei einem halbpatzigen Versuch, doch selbst wenn er ganz erfolgte, bliebe ein schales Gefühl.

In diesem nachträglichen Eingreifen liegt eine Degradierung der Menschen mit einer Beeinträchtigung. Sie sind dadurch de facto vom Bürgerstand ausgeschlossen und zu Anhängseln der Gesellschaft degradiert, welchen man zwar hilft, die aber nicht wirklich Teil dieser Gesellschaft sind. Alle Worte von Integration und dergleichen sind so blosse Worte. Ausgeführt werden Taten, die eine andere Sprache sprechen: Ich bin ein Bürger, ich habe das Sagen. Ich kümmere mich um dich, weil du es brauchst. Das ist zwar ein netter Zug, doch nimmt es dem dieser Fürsorge Anhängigen die Möglichkeit, sich selber in seiner Möglichkeit zu kümmern. Es nimmt ihm die Stimme und es nimmt ihm das aktive Selbstbestimmungsrecht. Er hat dann nur noch das Recht, dass ihm geholfen werden sollte, nicht aber ein Recht, dazu beizutragen, selber eine Stimme zu haben. Er ist in die Passivität verdammt.

Nun kann man anfügen, dass es Formen von geistiger Beeinträchtigung gibt, die eigenes (rationales) Handeln ausschliessen. Das mag sein. Doch ist das davon betroffene Wesen kein Mensch mehr? Ihm wird oft grössere Nähe zu Tieren zugesprochen denn zu Menschen. Nun kann man sagen, dass das allein kein Drama wäre, da der Mensch selber nur eine Tierart mit bestimmten Fähigkeiten ist. Da wir aber dazu neigen, Tiere zu unterdrücken, fallen die Menschen mit Beeinträchtigung auch in diese Kategorie. Es entsteht eine klare Machtstruktur mit einem Oben und Unten, einem Herrscher und einem Beherrschten.

Das Argument, dass Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung nicht in der Lage sind, mitzuentscheiden und darum aussen vor gelassen werden müssen, liegt weit vorne. Schweden zeigt, dass  es anders möglich wäre. (Auch andere Länder haben sich solchen Lösungsansätzen angeschlossen.) In Schweden gibt es eine Mentorschaft. Der Mentor vertritt die Bedürfnisse und Interessen des Behinderten. Damit wird dieser nicht übergangen, sondern erhält eine Stimme. Sollte er dazu gar nicht in der Lage sein, erhält er einen Vertreter, der seine Stimme wahrnimmt. Natürlich kann dieses System ausgenutzt werden durch böswillige Verwalter, Beispiele für bösartige Vormunde sind gerade in der jüngsten Aufarbeitung der Schweizer Verdingkindergeschichte ans Tageslicht gekommen. Man sollte aber ein System nicht von vornherein verurteilen, nur weil es ausgenutzt werden könnte. Die Gefahr besteht immer, wichtig ist, sie zu kennen und Mittel und Wege zu finden, dem entgegen zu wirken, um eine eigentlich gute Idee zu fördern.

Unterm Strich bleibt: Der Mensch hat Rechte. Diese stehen im zu aufgrund seines Menschseins. Das Menschsein hört nicht auf, wenn der Mensch krank oder beeinträchtigt ist. Krank und beeinträchtigt kann er auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenem Ausmass sein. Geistig, körperlich, von Geburt an, durch Unfall oder einfach auch durchs Alter. Wann hat der Mensch eine Stimme? Wann ist er voll zählendes Mitglied der Gesellschaft? Ist ein Mensch mit Beeinträchtigungen wirklich weniger wert als ein „normaler“? Hat er weniger Rechte und ist dem guten Willen der anderen ausgeliefert? Fair ist das nicht. Und menschenwürdig schon gar nicht. Wer Menschen mit Beeinträchtigung gering schätzt verkennt die Tatsache, dass schon morgen er selber in ihren Schuhen gehen könnte. Die Zeit nagt an jedem, wer heute gesund lebt, kann morgen krank oder beeinträchtigt sein und damit auf andere angewiesen.

Wenn man sich dessen bewusst ist, merkt man vielleicht, dass es an der Zeit wäre, jedem Tier (menschlich wie nichtmenschlich) die ihm angemessene Wertschätzung entgegen zu bringen, denn schon morgen könnte man an dessen Stelle stehen und froh sein, die anderen hätten diese Lektion schon gelernt.