Kann man wählen, wer man ist?

Heute las ich ein Buch. Ein sehr trauriges Buch. Es handelte von einer durch und durch schlechten Welt, in welche die Menschen ungefragt hineingeworfen wurden. Eine Welt voller Hass, voller Abscheu, voller Demütigungen, vor allem Demütigungen derer, die nicht der gesellschaftlich erklärten Norm entsprachen. Die Welt war keine homogene, es gab verschiedene Systeme. Das eine war genauso schlecht wie das andere. Nahm das eine dem Menschen die Freiheit, zu wählen, unterlegte ihn Zwängen und Korsetten und liess ihm kaum Auswahl in irgend einem Bereich, versprach die andere vordergründig alles, hielt hintergründig nichts, da auch hier der Mensch Zwängen unterlag, um sich die sogenannten Freiheiten zu leisten, welche bei näherem Hinsehen erstens einen hohen Preis hatten und zweitens gar keine waren, da auch sie von aussen auferlegt waren. Egal, ob der Staat oder die Gesellschaft, die Eltern oder die Nachbarn die Regeln aufstellen, egal, ob sie geschrieben oder ungeschrieben sind, sie unterwerfen. Und wehe dem, der sich nicht unterwerfen lässt, er ist Ausgestossener. Weil nicht angepasst. 

Ich las mich mit Sorgenfalten durch das Buch. Es machte mich wütend. Ich fragte mich, wie man so abgelöscht, so negativ, so zynisch sein kann. Wie man eine so schwarze Welt zeichnen kann. Und ich fragte mich noch mehr, wie damit umzugehen sei, dass grundsätzlich nichts gelogen ist, dass es zwar Fiktion, dunkle und düstere Fiktion ist, aber in Tat und Wahrheit nicht so weit von der Realität entfernt ist. Ich habe diese Wahrheiten auch schon thematisiert, wurde dafür bitter und zu nachdenklich genannt. Und auch wenn ich die schönen Seiten des Lebens durchaus sehe, sie lebe, so sehe ich all die anderen auch. 

Gibt es Freiheit? Wie sieht sie aus? Welchen Preis hat sie?

Heute Abend schaute ich einen Film – die Lebensverfilmung eines Schriftstellers. Er hatte es geschafft. War ganz oben. Wurde gehört, geachtet, respektiert, gelesen. Er war erfolgreich. Hatte alles, würde man denken. Er war oft nachdenklich. Schrieb davon, dass er sich immer und immer wieder dafür rechtfertige mit seinem Schreiben, dass er sei, was er sei. Er schrieb in seinen Werken von den Gegensätzen von Kunst und Leben und sah sich als Künstler dem Leben gegenüber stehend und damit verdächtig. Verdächtig, nicht lebenswürdig zu sein, weswegen er sich unter Rechtfertigungszwang sah. Als er das schrieb, war er bereits sehr berühmt und eine wirkliche Grösse. 

Er wollte schreiben und er schrieb. Man könnte sagen: alles gut, er hat frei gewählt, er ist ein Glückspilz. Doch dieses Schreiben war nicht nur Freude, es war auch Pflicht. Er brauchte das Schreiben und die sturen Regeln drumrum, um nicht in eine Leidenschaft abzustürzen, die ihn aus der Welt geworfen hätte, da sie keine bürgerlich anerkannte war. Zudem hatte er Angst. Angst, verstossen zu werden und selber unterzugehen, liesse er einmal zu, was er sich so wünschte. 

Der grosse Mann heiratete. Er liebte seine Frau. Sie hatten Kinder – viele. Drei liebte er, eines wollte er eigentlich nicht, liess das auch spüren. Den Rest unterstützte er – aber keines der Kinder kannte diesen Mann wirklich. Einige konnten sich nicht erinnern, je ein Gespräch mit ihm geführt zu haben. Er herrschte im eigenen Haus, alle waren ehrfürchtig – und unterdrückt. Und er war selber unterdrückt. Von sich selber. War er frei? Hatte er das so gewählt? Er litt unter sich und seinem Leben. Und konnte nicht draus. Und seine Familie litt mit ihm, zerbrach teilweise an ihm. Und doch wäre die Familie ohne ihn untergegangen – mehrere Male. Er hielt sie am (Über?-)Leben. War er also gut? War er böse? Tyrann? Retter? Wem nützen solche Schubladen? Hatte er eine Wahl? War er nicht getrieben? 

Und hier sitze ich nun. Und frage mich: ist die Welt so schlecht? Wer ist schuld daran? Hat der Schriftsteller als Vater versagt? Hat er seine Kinder und deren Leben ruiniert? Bloss, er hat sie nie fallen lassen, sie standen noch im Erwachsenenalter auf seiner Lohnliste. All die Künstlerseelen, sie wären untergegangen ohne ihn. Aber vielleicht wären sie ohne ihn auch nie dahin gekommen, wo sie waren? Hätten nie diese oft verzweifelten Wege eingeschlagen. Wären „angepasster“ gewesen und damit selber lebensfähig.

War er schuld? Hatte er sie auf dem Gewissen? Weil ihnen seine Liebe fehlte? Sie das Korsett, das seine Präsenz aufbürdete, sprengen wollten? Aber er litt ja selber. Konnte nicht aus seiner Haut. War er also schuldunfähig? Doch wir brauchen doch einen Sündenbock. Irgend jemand muss verantwortlich sein, sonst gerät unser System ins Wanken. 

Der grosse Mann konnte nicht aus seiner Haut. Er lebte sein Leben nicht, sondern schrieb und unterdrückte sich. Dieses Unterdrücken nahm die Gefühle, die er nicht zeigen konnte. Er brauchte die sture Systematik, den klaren Ablauf. Dass er Herz hatte, sah man in seinem Helfen, sah man in kleinen Gesten. Und doch – als Kind fühlt man diese kleinen Zeichen nicht, da wartet man auf die grossen Umarmungen, die Liebesbeweise. Bleiben die aus, fehlt was fürs Leben. Dann gibt es wohl zwei Möglichkeiten: Man stürzt sich in Ersatzhandlungen, um den Schmerz nicht mehr zu fühlen, oft Drogen, Rebellion. In der Gesellschaft kommt man damit nicht weit. Zwei seiner Kinder machten das – eines überlebte es nicht. Andere leben das Muster weiter, verschreiben sich ihrer Kunst und bleiben ihren Kindern ein Fremder. So reagierte der jüngste, der ungeliebte und ungewollte Sohn. Der Rest konnte sich (teilweise?) befreien und fügte sich ins Leben ein. Mit mehr oder weniger Problemen. 

Hatten sie eine Wahl? Sie konnten sich den Vater nicht auswählen. Sie konnten sich die Zeit nicht auswählen, die keine leichte war mit den Verfolgungen, der Emigration. Sie lebten immer eher privilegiert – finanziell. Aber emotional? Hatten sie eine Wahl, wie sie darauf reagierten? Hätten sie einfach mal einen Schlussstrich ziehen sollen/können und ihr Leben in die Hand nehmen? Und dann? 

Wie sieht ein Leben aus, das man in die Hand genommen hat. Das ein gutes Leben ist, ein normales? Und wenn ich ein normales, ein der Norm entsprechendes, Leben führe, habe ich es dann frei gewählt, es nicht einfach nur einer gesellschaftlich geforderten Masstabelle unterworfen? Und je nach System, in das ich geboren bin, divergiert diese Tabelle. Im Sozialismus hiess das marschieren im Gleichschritt, ohne Aufmucken, ohne eigene Gedanken, im Kapitalismus hiess das, seine Zeit und Leistung zu verkaufen, um sich leisten zu können, was man sich in so einem System leisten können muss. 

Und damit bin ich beim Buch vom Tag zurück. Und bei der Frage: Ist diese Welt wirklich düster und schlecht? Haben wir eine Wahl oder stecken wir fest? Können wir tun, was wir wollen, irgendwas passt immer nicht? Leben wir so, wie wir es wollen, zahlen wir den Preis des ausgestossen Seins, passen wir uns an, werden wir zu Marionetten des Systems. Am Schluss leiden wir immer – am einen oder anderen. 

Soll ich diesen Blog nun so pessimistisch enden lassen? Oder ihn in Wohlgefallen auflösen, indem ich sage, dass das Leben immer auch schöne Momente bereit hält, die man geniessen soll, an denen man Kraft tanken soll für die Unbilden, die auftauchen? Wäre das nicht kitschig? Weil es eigentlich nicht stimmt? Klar stimmt es, dass es glückliche Momente gibt. Doch ändern diese nichts an den äusseren Gegebenheiten. Die Welt ist keine leichte. Das Leben ist nicht einfach. Freiheit als solches gibt es nicht. Zwänge sind überall – von aussen und innen. Sich ihnen zu widersetzen hat seinen Preis. Und selbst, wenn man den Preis bezahlen will, leidet man dann und wann, weil jeder Preis schmerzt. Aber das ist das Leben. Niemand sagte, es sei einfach. 

5 Kommentare zu „Kann man wählen, wer man ist?

    1. Ich habe die Hoffnung, dass es so ist. Eine Wahl hat man wohl immer, ob die Wahlmöglichkeit dabei ist, die man gerne hätte ist vielleicht fraglich. Schlussendlich hilft aber sicher, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, was man sich und anderen antut. Und es hilft, sich klar zu werden darüber, was man wirklich will im Leben. Doch auch dann ist der Weg nicht immer eben. Aber das kann man wohl nicht erwarten. Und das muss auch nicht sein, denn auch Hürden bringen weiter auf dem Weg.

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  1. Ich würde es nicht Preis nennen, sondern Gewicht. Ohne Schwere hat das Leben auch keine Bedeutung. Es gibt die Unbeschwertheit nicht ohne das Schwere, Glück nicht ohne Gang durch Täler. Kunderas Unerträgliche Leichtigkeit des Seins ist hierzu immer wieder lesenswert

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    1. Frei nach dem Motto, wo Licht ist, ist auch Schatten. Steht etwas in der Sonne, wirft es einen Schatten. Doch auch aus düsteren Tälern kommt man irgendwann wieder in die Sonne zurück. Und dieses Wechselbad macht wohl auch aus, dass wir schätzen können, was gut ist, indem wir sehen, dass es auch anderes gibt.

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