Die Schöne und das Biest (aka der alte Weisse Mann)

Als ich begann, mich mit dem Feminismus und den damit zusammenhängenden Themen zu beschäftigen, merkte ich, dass mich das Thema packte, inspirierte und ausfüllte. Ich las, was ich in die Hände kriegte und stiess dabei natürlich auch immer wieder auf Widersprüche – mehr noch: Auf gegenseitige Anfeindungen. Die jungen Feministinnen schimpfen auf die älteren, die schwarzen auf die weissen, die Frauen auf die Männer und diese zurück (zumindest auf die Feministinnen). Einige meinen, man könne nur darüber schreiben, was man selber erfahren hat, andere kritisieren, wenn man ein Thema nicht behandelt (aus mangelnder eigener Erfahrung oder einer anders lautenden Fragestellung). Es kommt so ein bisschen das Gefühl auf: Wenn du nicht alle Weltprobleme mit einem Schlag lösen kannst, lass es ganz bleiben.

Ich frage mich, wie man eine gerechtere und gleichberechtigtere Welt erreichen will, wenn man selbst das Gegenteil lebt, wenn man selbst statt miteinander nur in Frontenkriegen, Auf- und Abwertungen agiert? Als Pierre Bourdieu das Buch „Die männliche Herrschaft“* schrieb, wurde ihm von Feministinnen vorgeworfen, dass er sich als Mann feministischen Themen zuwandte. Wie konnte es ein „alter weisser Mann“ (gut, den Begriff hatten sie damals wohl nicht, aber heute würde es so klingen) wagen, einen feministischen Blick auf die Welt zu wagen und somit diese zu erklären? Dass sein Blick durchaus gut und tief und schlüssig war, stand nicht zur Diskussion. Dass dieser klare, intelligente Mensch der eigentlichen Sache diente, indem er Aufmerksamkeit darauf lenkte, die Notwendigkeit propagierte, wurde ignoriert. Man wollte sich nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. So jedenfalls wirkt es, zumal es keine andere sachliche Erklärung gibt.

Einmal mehr frage ich mich: Sollte man nicht, statt gegeneinander zu kämpfen, sich zusammenschliessen und jeder seinen Beitrag zu einem Ganzen leisten? Können wir es uns leisten, auszusieben, wen wir genehm finden in unserem „Kampf“ und wer da keinen Platz hat? Vor allem: Geht es bei all dem wirklich um die Sache oder nicht doch auch um die eigene Profilierung als Experte?

Nachdem Bourdieu die Missstände der gesellschaftlichen Strukturen herausgearbeitet hat, kommt er zum Schluss, dass eine schlagartige Veränderung wohl nicht möglich ist, sondern diese fortwährender Arbeit bedürfe. Man müsse wegkommen von Kälte und Gewalt, hin zur Liebe und ihren Wundern:

„das Wunder der Gewaltlosigkeit, das durch die Herstellung von Beziehungen ermöglicht wird, die auf völliger Reziprozität beruhen und Hingabe und Selbstüberantwortung erlauben; das der gegenseitigen Anerkennung, die es gestattet, sich, wie Sartre sagt, „in seinem Dasein gerechtfertigt“, gerade in seinen kontingentesten oder negativsten Besonderheiten angenommen zu fühlen…“

Wenn wir dahin kommen, dann ist die Welt eine bessere. Davon bin ich überzeugt. Und ich bin genauso überzeugt, dass es machbar ist und eigentlich der Wunsch von vielen. Natürlich stehen Ängste da. Jeder fürchtet auch um seine Privilegien. Aber viele wären froh um Entlastung von Erwartungen. Männer wie Frauen. Und Rollenmustern, die erfüllt werden müssen. Männer wie Frauen. Und der eigenen Unsicherheit, wie man denn zu sein habe. Männer wie Frauen.

Wenn da ein alter weisser Mann kommt und mithelfen will, sollte man ihn mit lautem „Herzlich willkommen“ begrüssen und mit ihm diskutieren. Ihn auszuschliessen, nur weil er eben grad keine Frau, nicht schwarz, nicht schwul und erst noch heterosexuell ist, fände ich nicht nur höchst bedenklich, sondern schlicht daneben. Schlussendlich wollen wir ja genau das nicht: Menschen ausschliessen aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Hautfarbe, Religion, Herkunft, sexuellen Ausrichtung. Und ja: Auch ein weisser Mensch kann Rassismus erfahren, sowie ein Mann Opfer von Sexismus sein kann. Es mag nicht die Mehrheit sein, aber jeder einzelne Fall ist einer zuviel.


*Angaben zum Buch:

Pierre Bourdieu: Die männliche Herrschaft
Pierre Bourdieu entwickelt das Bild einer Gesellschaft, in welcher die männliche Dominanz in ökonomischer, wirtschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Sicht eine symbolische Herrschaft darstellt. Die dadurch gesteuerte Sicht unterwirft die Frau und zwingt sie in vordefinierte Rollen. Bourdieu plädiert für eine soziale Revolution mit dem Ziel, die gesellschaftlichen Verhältnisse umzugestalten und der Frau ihre rechtmässige Position als gleichberechtigter Mensch einzuräumen.

Zum Autor:
Pierre Bourdieu, am 1. August 1930 in Denguin (Pyrénées Atlantiques) geboren, besuchte dort das Lycée de Pau und wechselte 1948 an das berühmte Lycée Louis-le-Grand nach Paris. Nachdem er die Eliteschule der École Normale Supérieure durchlaufen hatte, folgte eine außergewöhnliche akademische Karriere. Von 1958 bis 1960 war er Assistent an der Faculté des lettres in Algier, wechselte dann nach Paris und Lille und wurde 1964 Professor an der École Pratique des Hautes Études en Sciences Sociales. Es folgten diverse Lehraufträge, Forschungsaufenthalte und Lehrstühle sowie vielzählige Publikationen und Auszeichnungen. Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 in Paris.

Ich und die Anderen

Kürzlich erinnerte ich mich daran, wie ich mal in Spanien war und tat, was ich immer tue: Lesen und Schreiben. Ich sass in meinem Zimmer, meine Bücher um mich, tauchte ein und fühlte mich wohl in der Welt. Ich stiess damit auf grosses Unverständnis: Wie kann man nur in Spanien sein und nicht an der Sonne liegen, baden, einfach nichts tun? Ich ertappte mich dabei, wie ich mich schlecht fühlte, unverstanden, anders, nicht passend – nicht in Ordnung. Es machte mich traurig. ich versuchte mich zu rechtfertigen, versuchte Gründe zu finden, die anerkannt und schlüssig klingen, Gründe, die in der normalen Welt, aus welcher ich mich durch diese Bemerkung geworfen fühlte, verstanden werden könnten. Und irgendwie machte mich das noch trauriger, weil ich mich dadurch so klein fühlte, dass ich mich verteidigen zu müssen glaubte. 

Ich und die Anderen. Ein Konstrukt, über das ich in letzter Zeit oft nachdenke. Im Singular ist es einfach: Der Andere ist der Andere, weil er nicht ich ist. Sobald es aber mehrere sind auf beiden Seiten, kommt ein neues Element dazu: Um als Gruppe zu bestehen und sich von anderen Gruppen zu unterscheiden, reicht nicht mehr nur die individuelle Existenz, sondern es gibt verbindende Elemente, die eine Gruppe ausmachen. Daraus entsteht in der Folge ein Wir-Gefühl, das die eigene Gruppe von der anderen abgrenzt. Man setzt diese Gruppen bestimmenden Eigenschaften in Kontrast zu denen der anderen Gruppe, meist in einer Form der Hierarchie: Wir sind besser als ihr. An diesem Punkt wird aus dem «Anders» ein «Schlechteres», weil die Anderen der eigenen Norm nicht entsprechen, ihr unterlegen sind. 

Jeder Mensch lebt in einer Welt mit anderen und bildet mit diesen Gemeinschaften. Kein Mensch kann sich völlig aus der sozialen Umgebung herausnehmen. Würde man versuchen, durch totale Einkehr und unter Ausschluss der Welt, sich selber finden zu wollen, wäre das eigentlich ein Gang ins Leere, da wir als Menschen immer Mitglieder einer sozialen Gemeinschaft sind, die uns prägt und die wir wieder prägen. Daraus folgt, dass wir die Anderen brauchen, um Ich zu sein. Es folgt weiter, dass die Anderen nur in unseren Augen die Anderen sind, in Ihren sind sie ihr eigenes Ich und wir die Anderen. Daraus, dass jedes Ich immer auch ein Anderer ist, stellt sich die Frage der Macht des Einen über den Anderen. Eine Vormachtstellung kann es nur geben, wenn sich einer diese zuspricht. Mit welchem Recht?

Nun passieren diese Dinge natürlich meist unbewusst, sie sind unter anderem auch Resultat der Gesellschaft und deren prägenden Werte und Normen. Indem wir in dieser Gesellschaft leben, nehmen wir diese Werte und Normen in uns auf, stellen uns dazu und verhalten uns entsprechend. Gibt es nun in einer Gesellschaft höher bewertete Eigenschaften und Merkmale, so sind die Menschen, welche diese aufweisen, in einer machtvolleren Stellung als andere, denen diese fehlen. An der Stelle fängt die Abwertung des anderen an, worauf Diskriminierung folgt. Aufgrund von vordefinierten Massstäben kommt es also zum Ausschluss derer, die über weniger Privilegien aufgrund von (sachlich gesehen willkürlich) festgelegten Eigenschaften verfügen.  

Wollen wir Diskriminierung jedwelcher Form den Kampf ansagen, gilt es, das Ich als gleichwertig zu sehen wie den Anderen, im Wissen, dass er genauso ein Ich ist wie ich, ich genauso ein Anderer wie er. Die Einsicht, dass die Andersartigkeit nur eine Vielfalt von Möglichkeiten aber keine Hierarchie darstellt, hilft, (strukturelle und individuelle) Abwertungen zu vermeiden, da sie als willkürliche Handlungsweisen, die keinem realen und sachlich gültigen Massstab entsprechen, enttarnt wurden. Das Bewusstsein all dessen ist der erste Schritt. Der zweite ist, die gesellschaftlichen Strukturen daraufhin zu analysieren, wo sie diese Hierarchien befeuern und zu sehen, was wir aktiv dagegen tun können – als Einzelne und als Gemeinschaft.

Corona, Gedanken und eine Utopie

Ich bin ein Mensch, der schnell zu viel hat. Zu viel Lärm, zu viele Termine, zu viel Müssen, zu viel von aussen, zu viel Einfluss, zu viel Druck. Vieles von all dem mache ich selber, vieles kommt einfach. Durch die Welt, wie sie ist. Ich suchte mir mein Leben lang Nischen und entzog mich. Das klappte mehrheitlich gut. Das Unverständnis ebenso. 
Es passt nicht in unsere Welt, gerne allein zu sein. In unserer Welt muss man präsent sein, man muss sich zeigen, man muss dabei sein, man braucht Termine, man stellt was dar. In unserer Welt repräsentiert man, fügt sich in Schubladen ein, ist nur genehm, wenn man darin Platz findet. In unserer Welt leistet man, und zwar immer das, was an Leistung gefordert ist aktuell. In unserer Welt ist man, wie man ist, weil man eben so ist und zu sein hat. Wie könnte man nur anders sein?

Und ja in unserer Welt ist man sehr tolerant, man spricht über alles und das soll so sein dürfen. Nur wenn jemand spricht, wie man das nicht möchte, dann grenzt man ihn aus. Das fällt in unserer Welt ja auch so leicht: Ein Klilck, er ist weg. Unsere Welt ist geprägt. Von genau dem. Von diesem Leben in einer pluralistischen und liberalen Gesellschaft, das man sich gross auf die Fahnen schreibt, von dem aber wenig zu spüren ist, da schlussendlich doch nur ein kleiner Teil des Pluralismus genehm und nur ein noch kleinerer Teil vom Liberalismus gedeckt ist. Über den Rest diskutieren wir bevorzugt nicht. 

Und nun sitzen wir in diesem Lockdown. Und mir ist es – um es in meiner Sprache zu sagen – vögeliwohl. Ich bin wohl der Profituer eines Umstandes, den ich mir in meinen wildesten Träumen nie gewünscht hätte. NIcht mal geträumt. Nein, schlicht nicht gewollt. Was aber wertvoll ist: Ich muss nirgends hin. Ich darf nicht. Keiner fragt mich, wieso ich nicht will. Es ist klar: Ich kann nicht. Endlich ist die Ruhe da, die mir gut tut. Endlich darf ich so leben, wie es für mich passt, ohne schräg angeschaut zu werden. Endlich bin ich kein Exot, sondern halt einfach so wie alle anderen. Etwas, das ich nicht kenne. Endlich muss ich mich nicht rechtfertigen – auf Arten und Weisen, die dann doch keiner versteht. 
Und langsam kommt die Angst auf: Es wird ein Nachher geben. Kommt dann alles doppelt und dreifach zurück? Was kommt auf mich zu? Kann ich dem bestehen? Was, wenn nicht? Was mir auffällt ist, dass sich meine schon vorher so ausgeprägten Züge nach Rückzug nicht nur gestillt, sondern verstärkt haben. Was vorher noch mal so ging, ist in der Vorstellung nun schon viel. Ich komme mehr als gut klar mit dem Rückzug (auch wenn sogar mir das Eine oder Andere durchaus fehlt), aber ich merke eine immer grössere Angst, dass ich mit einer Umkehr Mühe haben würde. 

Wird nachher mehr Verständnis da sein? Ich denke, dass eher das Gegenteil der Fall sein wird. Jeder, der Mühe hatte, wird umso mehr darauf bedacht sein, einen Zustand hinzukriegen, der all dem entgegen wirkt. Er wird kompensieren wollen. 

Noch ist es nicht so weit. Und noch behalte ich die Hoffnung, dass diese Zeit, die trotz allem nicht einfach ist und war, etwas bewirkt hat in den Köpfen. Und ich wünsche mir, dass wir mit mehr Miteinander daraus hervor gehen. Vielleicht ist das eine Utopie. Nur: Schon ganz viele Staatsphilosophien gründeten auf Utopien, die Amerikanische Verfassung war eine, um nur ein Beispiel zu nennen… und vieles konnte umgesetzt werden. Wieso nicht auch das?

Richard David Precht: Jäger, Hirten, Kritiker

Eine Utopie für die digitale Gesellschaft


„Dieses Buch möchte einen Beitrag dazu leisten, aus dem Fatalismus des unweigerlichen Werdens aus- und zu einem Optimismus des Wollens und Gestaltens aufzubrechen. Es möchte helfen, ein Bild einer guten Zukunft zu malen.“


Unsere Welt ist in einem schnellen Wandel und manchmal scheint es, alle schauen gespannt zu. Es gibt verschiedene Lager der Zuschauer, die, welche die Entwicklungen als Fortschritt hochjubeln, und die, welche auf Ängsten gegründete Horrorszenarien an die Wand malen.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die fortschreitende Digitalisierung unser Leben stark verändern wird, dass wir uns in vielen Lebensbereichen mit neuen Umständen auseinandersetzen müssen. Berufe werden wegfallen, neue werden kommen, wie die genau aussehen, steht noch in den Sternen, was aber sicher ist: Diese Veränderungen werden sich sicher nicht zugunsten von den jetzt schon sozial Schwachen auswirken, die Schere zwischen Arm und Reich wird sich vergrössern, wenn wir nicht dagegen steuern und in einer humanen Weise auf die neuen Möglichkeiten reagieren.


„Die Digitalisierung wird bereits von allen Volkswirtschaften als Macht anerkannt. Und es ist hohe Zeit zu zeigen, wo die Weichen liegen, die wir jetzt richtig stellen müssen, damit sie sich in einen Segen und nicht in einen Fluch verwandelt. Denn die Zukunft KOMMT nicht! […] die Zkunft wird von uns GEMACHT! Und die Frage ist nicht: Wie WERDEN wir leben? Sondern: Wie WOLLEN wir leben?“


Richard David Precht zeichnet ein sehr realistisches Bild der aktuellen Situation, der vierten industriellen Revolution, welche in vollem Gange mit noch offenem Ausgang ist. Er ruft dazu auf, sich nicht hinter Fortschrittglauben und Ängsten zu verstecken, sondern aktiv die Idee einer wünschenswerten Welt zu schaffen, in welcher Maschinen nicht zur Optimierung oder zum Ersatz von Menschen werden, sondern diese unterstützen.

Er weist weiter auf die Chancen der Digitalisierung hin, welche es dem Menschen ermöglichen könnte, vom Arbeiten im Lohnhamsterrad zu einem selbstbestimmteren und erfüllteren Leben zu kommen, was allerdings nur mit einem bedingungslosen Grundeinkommen zu verwirklichen wäre, da gerade die wegfallenden Berufe in vormaligen Ausbildungsberufen ein würdevolles Leben ansonsten verunmöglichen würden. Precht nennt seine Lösungsansätze selber eine Utopie, beklagt aber den negativen Klang, den dieses Wort heute hat. Wenn wir den Begriff der Utopie als das sehen, was wir uns wünschen würden, könnten wir es uns aufs Papier schreiben und damit anfangen, das Leben und dessen Bedingungen und Umstände so zu gestalten, dass aus der Utopie die nächste Wirklichkeit wird.

„Jäger, Hirten, Kritiker“ greift ein aktuelles Thema auf und vermittelt auf gut lesbare und verständliche Weise Hintergründe und Aussichten. Die Sprache ist ab und zu etwas gar plakativ und flapsig, die Ausführungen zu umfassend, doch die Grundbotschaft ist eine durchaus gute und bedenkenswerte.

Fazit:
Ein gut lesbares Buch über ein aktuell brennendes Thema, bei dem weniger mehr gewesen wäre, das aber viele bedenkenswerten Ansätze für den Umgang mit einer noch unsicheren Zukunft vermittelt.

Zum Autor:
Richard David Precht wird 1964 in Solingen geboren. Nach dem Abitur studiert er Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte und promoviert 1994 in Germanistik mit der Dissertation Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Precht arbeitet fünf Jahre als Wissenschaftlicher Assistent in einem kognitionspsychologischen Forschungsprojekt, hält danach Vorträge und Vorlesungsreihen an unterschiedlichen Universitäten und Kongressen und wird 2011 Honorarprofessor für Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg, 2012 Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik an der Musikhochschule Hanns Eisler in Berlin. Daneben schreibt er für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften Essays, moderiert seit 2012 die Sendung „Precht“ im ZDF. Von ihm erschienen sind unter anderem Wer bin ich – und wenn ja, wieviele? (2007), Liebe . Ein unordentliches Gefühl (2010), Die Kunst, kein Egoist zu sein (2010), Warum gibt es alles und nicht nichts (2011), Anna, die Schule und der liebe Gott (2013).


Angaben zum Buch:
Gebundene Ausgabe: 288 Seiten
Verlag: Goldmann Verlag; Originalausgabe Edition (23. April 2018)
ISBN-Nr: 978-3442315017
Preis: EUR 20; CHF 29.90

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Wer bin ich?

Wenn mich jemand fragt, wer ich bin, liegt die Antwort meist auf der Hand. Es ist nicht immer die gleiche, sie passt sich ein wenig dem Fragenden und seiner Intention an, aber doch: Ich bin…

  • Sandra
  • Philosophin
  • Malerin
  • Zeichnerin
  • Mutter
  • Frau
  • Schweizerin
  • Schreibende
  • Fotografin
  • Liebende
  • ….

und vieles mehr. Und nein, die Reihenfolge ist keine Rangliste, sie ist rein beliebig.

Doch: Stimmt das? Was ist es, was ich preisgebe, wenn ich sage, wer ich bin? Und was verdecke ich? Würde ich alles sagen oder gibt es Tabus? Ist eine Beschreibung überhaupt ausreichend oder reicht das, was ich bin, nicht über alle Worte hinaus? Und wenn nicht, hätte das Gegenüber Zeit, all die Worte, die ich zu sagen hätte, anzuhören? Interessieren sie überhaupt?

Wer bin ich? Oft hilft es einem selber, sich in Schubladen zu sehen, da diese auch gefordert sind. Wohin man auch kommt, gibt es Formulare, in denen man ausfüllen muss, wer man ist – vieles vom oben Genannten kommt da vor. Nur: Bin ich das wirklich? Nur eines? Die Kombination?

Schubladen sind hilfreich, aber sie sind auch einengend. Wenn ich mich für eine entscheide, passe ich in die anderen nicht mehr rein. Und: In einer sitzend, lässt es sich oft schlecht rausschauen, was es noch alles gäbe. Und oft versagt man sich das andere bewusst, da es in der Schublade so komfortabel ist, das Draussen Gefahren bieten könnte.

Aber: Im Wissen, dass die Frage kommt, suche ich immer wieder nach Schubladen. Und keine passt auf Dauer. Weil eine einzige schlicht zu wenig ist. Denn: ich bin nicht nur eines, ich bin ganz viel. Und all die Facetten gehören zu mir – die hellen und dunkeln, die griffigen und die schwammigen, die emotionalen und die sachlichen, die genehmen und die unangenehmen. Ich bin ich. Schlussendlich. Mit allem, was dazu gehört.

Nur schon das zu sehen, ist nicht immer einfach. Es zu leben erfordert oft auch Mut. Zu sagen: Ich bin ich und eben keine einzelne Schublade, kann auf Unverständnis treffen. Die Angst, nicht akzeptiert zu sein, wenn man nicht in der richtigen Schublade sitzt, lässt oft zurückschrecken, verdecken, verstecken. Und gerade damit wohl auch anecken – wenn ich sofort bei anderen, so doch irgendwann bei einem selber. Und dann bald auch bei anderen. Weil man selten auf Dauer Teile versteckt. Und Verstecktes oft irgendwann, ganz unvermittelt, in ungemeiner Wucht ans Licht tritt.

Ich bin ich. Und ich bin viel. Und das ist gut so.

„Freiheit“ hat ihre Grenzen…

Ich finde Rap grundsätzlich gut (Sprachgefühl, Lyrik, Rhythmus, Prägnanz). Ich finde künstlerische Freiheit wichtig. Und richtig. Aber darum geht es hier nicht. Wir haben hier zwei Individuen, die darüber Sprechgesang abliefern, oft mit Bildern markig untermalt, dass Frauen unterworfen werden sollen. Sie labern davon, von welchen Seiten man gegen jeglichen Willen vorgehen sollte, sie drohen, spotten, verhöhnen. Und wie sie es mit den Frauen tun, so verfahren sie auch mit anderem. Antisemitismus, Terrorismus, Hass gegen Minderheiten – alles da, alles wird glorifiziert.

Das also will man nun ehren? Es ist nicht schlimmer, dass es in Deutschland passiert, es wäre in jedem Land eine Schande. Ich finde, wir sollten dringend mal davon weg kommen, dass D eh nicht dürfe – KEINER darf. Keiner sollte dürfen können. Es hinnehmen ist schon schlimm genug, es noch auszeichnen? Ich hoffe, das wird nicht passieren. Das hat nichts mit künstlerischer Freiheit zu tun. Das ist schlicht KEINE OPTION und eine SCHANDE!

Hier mal ein „nettes“ Beispiel:

Artikel zur Verleihung des Echo HIER
Und wenn wir schon dabei sind: Die beiden sollen im Mai in Schaffhausen auftreten. Man fühlt sich „geehrt“, dass man sie dazu bewegen konnte…
Wir finden also toll, dass solches Gedankengut hochgehoben wird:
«Dein Chick ist ne Broke-Ass-Bitch, denn ich f**k sie, bis ihr Steissbein bricht»
Man könnte nun einwenden, wenn es schon keine Kunst sei, so doch Meinungsäusserungsfreiheit. Nur: Das hier Beschriebene stellt einen Straftatbestand dar, wenn denn die „Broke-Ass-Bitch“ nicht sagte, er solle doch bitte machen, bis alles bricht. Ich möchte das hier nun nicht mehr weiter ausführen, ich hoffe noch immer, dass genügend gesunder Menschenverstand durch die Welt fliegt, solchen Exemplaren nicht noch mehr Bühne zu geben.

Schattenkrieger

Gestern Nacht kämpfte ich gegen den Schlaf für einen Film gegen Apartheid. Heute schrieb ich gegen Hitler. Dann schrieb ich gegen die katholische Kirche und die Verdeckungspolitik bei Missbrauchsfällen, eingestehend, dass ich grundsätzlich ein Befürworter der Kirchen war, aber solche Misstände nicht mehr decken möchte. Dann schrieb ich zu einem unserer Bundesräte, welcher Steuerflüchtlinge an den Pranger stellte, selber aber die Lücken im Gesetz nutzte. Ja, ich habe ihn gedeckt, denn: Er hat nach geltendem Gesetz gehandelt, wenn auch für das Land nachteilig. Wer würde anders handeln? Würde wirklich jemand da draussen dahingehen und sagen: Ok, ich müsste diese Steuern nicht zahlen, aber ich hau die einfach oben drauf. Weil es so schön wäre für andere?!?

So gehen wir alle durch die Welt und jeder zeigt auf den anderen und findet, er selber wäre grad noch so ok, aber der – DER!!!!! – wäre daneben.

Wann denken wir wirklich an die anderen, wann an uns? Ist es nicht einfacher, an die anderen zu denken, wenn man selber nicht den Preis zahlt? Es ist verdammt einfach, vom bequemen Sofa aus zu politisieren. Da kann man sie alle anklagen, alle handeln daneben. Man selber wüsste es besser. Nur ist man nicht dort. Drum steht man auch nie in der Schusslinie. Man schiesst nur selber mal raus. Ohne Konsequenzen.

Heute hat man es noch einfacher. Früher musste man auf den Marktplatz oder an den Stammtisch. Man musste dem Gegner in die Augen schauen. Heute schriebt man. Hinter dem Bildschirm. Die anderen sehen einen nicht. Man ist viel ungehemmter. Man kann sagen, was gut ist. Man muss es selber nicht leben.

Ein Halleluja für einen Klick

Social Media boomt. Wir bewegen uns darin und definieren uns darüber. Facebook, Twitter, Instagram – drei Programme, dasselbe Muster: Wer am meisten Klicks kriegt, ist der Sieger. Social Media ist das absolute Extrem der menschlichen Leistungsgesellschaft. Und: Social Media entlarvt sie auch – wenn man hinschaut.

Es gewinnt nie der Beste. Es gewinnt auch nicht der, welcher Sinn, Wert oder Inhalt hat. Es gewinnt der, welcher am besten netzwerkt. Wie netzwerkt man gut? Indem man liefert, was gefragt ist, verkauft, was gesucht ist. Qualität ist kein Merkmal. Wirklich begnadete Künstler haben gerade mal 100 Follower, Menschen mit Schminktipps und den ewig gleichen Einrichtungsbildern eine Million.

Nun kann man sagen: Das ist im Leben auch so, das ist doch nicht der Fehler von Social Media. Ich stimme dem zu. Es legt den Mechanismus einfach gnadenlos offen. Wenn man ihn denn sehen will.

Bedenklich wird er, wenn Menschen sich über diese Klicks definieren. Sie scrollen täglich durch die Bilder ähnlicher Kategorien und prüfen deren Klicks. Sie vergleichen und sehen sich im Rückstand. Und sie bewerten sich danach. Sie sind minderwertig. Offensichtlich. Es muss so sein, sonst klickten mehr. Dieses Kriterium könnte bei nicht mal sehr tiefer Recherche und Bewertung widerlegt werden, nur geht es schon lange nicht mehr um Sachlichkeit. Es sind Emotionen, die spielen – und: an diesen Emotionen hängen Bilder, Selbstbilder.

Junge Frauen stellen immer freizügigere Bilder ins Netz, hungern sich auf Kleidergrössen im bald Minusbereich, um mithalten zu können. Menschen verbiegen sich, basteln sich ein Image zurecht, um vor einem Haufen eigentlich fremder Menschen bestehen zu können, da nur deren Bestätigung den eigenen Wert definiert.

Man kann nun sagen, das sei nichts Neues, Menschen hätten schon immer anderen gefallen wollen. Das stimmt wohl. Wollte man früher aber der Gesellschaft der Menschen gefallen, die man kannte, sind es heute Millionen da draussen, für die man kaum weniger als ein kurzer Text oder eine gezielt positionierte Summe von Bildern ist. Ab und an geht es tiefer, keine Frage, und das ist wunderbar und das wirklich Tolle an Social Media. Gefährlich wird es, wenn wir unser Sein und unseren Wert auf diesen Klicks aufbauen – oder vernichtet sehen.

Wem muss ich genügen?

Das Leben ist kein Ponyhof. Ich denke, die meisten Menschen können das unterschreiben. Vielleicht gibt es einige, bei denen alles im Rosa-Brillen-Bereich bewegt. Ich gönne es ihnen. ich denke aber nicht, dass es die Mehrheit ist. Die Kriterien, die ausschlaggebend sind, sind schwer zu definieren. Geld kann es nicht sein, denn die meisten der Meistverdienenden sind ständig in den Schlagzeilen, weil sie sich in ihrem Unglück in irgendwelche Abgründe stürzten . Die ohne Geld sind in den Medien, weil sie – um an Geld zu kommen – etwas wagten, das schief ging. So suchen wohl alle ihren Weg. In diesem Leben.

Wenn wir leben, treffen wir immer wieder auf Erwartungen. Wir wollen ihnen genügen. Weil wir denken, es zu müssen. Wir wollen gute Kinder sein, drum gehen wir zu Familienessen – grad an Weihnachten stehen einige an. Wir wollen gute Partner sein, drum lassen wir uns auf Dinge ein, die uns nicht entsprechen. Wir rechtfertigen es mit „jeder muss Kompromisse eingehen“. Wir wollen gute Bürger sein. Drum gehen wir wählen. Wenn nicht schimpfe wir hinterher, wieso die Demokratie zugrunde geht.

Wir wollen so viel sein. Weil wir denken, es sein zu müssen. Doch: Was sind wir wirklich? Können wir die Welt retten? Ein aktuelles Lied will es beschwören – oder eben grad entlarven. Wir singen mit und retten weiter. Wir werden die Welt nicht retten können. Wir können auch den Schein nicht endlos wahren. Ja, wir leben dieses Leben. Und oft lebt das Leben uns. Und wir machen mit. Weil wir müssen. Wir hadern, opponieren. Dann atmen wir durch und laufen stramm. Was wäre die Alternative?

Wir können nicht allen genügen. Es ist – gerade durch die Omnipräsenz des weltweiten Leids – zuviel. Und doch fühlen wir uns in der Pflicht. Man kann ja nicht wegsehen. Man muss ja helfen. Was für ein Ignorant wäre man sonst. Was für ein herzloser Mensch? Nur: Meist haben wir das Leid er Welt nicht mitverursacht. Wir wurden nur in diese Welt geboren. Wir können sie nicht retten.

Ich plädiere nicht zur Gefühlslosigkeit. Das Leben ist ungerecht, es ist hart. Global eh, aber auch sonst. Nur hilft es niemandem, wenn wir uns aufopfern, um den umgefallen Sack Reis in China aufzurichten, wenn wir selber am Boden liegen. Ich denke nach wie vor, dass es wichtig wäre, bei sich zu bleiben. Stehe ich? Dann kann ich Halt sein. Für mein Umfeld. Steht das? Kann es halt sein. Für sein Umfeld. Und so ginge es weiter. Das ist kein Egoismus. Das ist realistische und von Menschenverstand geprägte Überlebenspraxis. Am Schluss hilft nur die. Würde jeder mitmachen, wären alle sicher. Wieso nicht mal anfangen? Bei sich?

Das Skandalöse stirbt – und wir damit

Ich lese viel. Und ich schaue auch gern fern. Kriterium: Es muss gut sein – für mich. Es muss eine Botschaft haben, Inhalt, mich berühren. Es muss Tiefe haben, eine Geschichte, und Personen, die mich fesseln. Ich muss mich einfühlen können und mitfiebern. Sie dürfen mir fremd sein, aber nicht irreal. Ich mag keine Eierköpfe und auch keine mit allen Problemen dieser Erde beladenen Charaktere. Ich mag das Leben, wie es ist – und ich will etwas darüber erfahren.

Vor einigen Jahren war ich an einer Vernissage. Ausgestellt waren die Bilder von Veit Relin, Exmann von Maria Schell. Einer der Besucher war Franz Xaver Kroetz, zwar schon geschieden von der Tochter des Künstlers, trotzdem noch im Kreis. Ich kam mit ihm ins Gespräch und wir diskutierten darüber, was die Literatur und das Erzählerische in heutigen Tagen so schwer macht. Wir fanden bald einen Nenner:

Die Skandale von gestern sind heute zum Gähnen.

Wir schaukeln uns hoch in unserem Blutrausch. Krimis werden immer brutaler. Reichte vor einigen Jahren ein Toter, müssen es heute 10 sein. Sah man damals einen Blutsee, ist es heute ein Massaker – drunter wirkt es nicht. Verfolgt man die Staffen von Criminal Minds, waren die Verbrechen schon immer perfid, aber die Blutmenge und die Perversion steigerten sich von Staffel zu Staffel.

Wir sind Junkies und wir stumpfen ab. Was früher Nervenkitzel war, weckt heute kaum noch ein müdes Gähnen. Und wer mithalten will, springt auf den Zug auf. Will man das nicht, bleibt nur noch, eine neue Form zu finden. Man setzt Zeit und Raum ausser Kraft oder irritiert den Leser sonst auf eine Weise, die er noch nicht kennt.

Wir streben nach Neuem, wir werden immer schneller müde und gelangweilt von dem, was wir kennen. Wir schauen nicht mal mehr genau hin – ein kurzer Blick, abgehakt, durchgewunken. Schliesslich sehen wir schon in den Nachrichten und all den Medien genug Leid – da muss Fiktion einen drauf setzen. Und so töten wir langsam die Fiktion – weil wir uns selber töten. In unserem Empfinden.

Wie wir unsere Welt an die Wand fahren

Ich bin ja bei Facebook. Ab und an frage ich mich selber, wieso. Aber nun denn. Jüngst lese ich fast nur noch Stimmen gegen Trump. Ach was, es sind keine Stimmen, es sind ganze Chöre. Es sind Jammergesänge. Man könnte Nabucco neu vertonen. Es wäre gewaltig. Die Chöre entspringen dem Frust. Die Singenden kriegten nicht, was sie wollten. Nun jammern sie. Wozu? Hilft das was?

Kaum! Es sind schlicht Parolen, die nun plakativ ins Auditorium geworfen werden. Was soll das helfen? Und wem? Wo ist da IRGENDETWAS Konstruktives? Es ist schlichtes Jammern aufgrund gemachter Aussagen des Herrn Trump, die zwar dumm und doof und unter aller Sau waren, aber damit nur ein Spiegel des Wahlkampfes, der hier geführt wurde. Den hat er nicht alleine geführt. Und schon wieder wird man mich als Trump-Befürworter lesen. Meine erste Reaktion nach seiner Wahl war „holy shit“ – und ich bleibe dabei. Ihre [Clintons – Anmerkung der Redaktion] Wahl wäre aber nicht viel gewinnbringender gewesen. Ich sah ihn immer plastisch als Kandidaten (die Medien sahen das wohl anders und hatten nur Spott und Häme sowie vorgedruckte Siegesartikel für Clinton in der Hand). Der Mechanismus hat ihm in die Hände gespielt. Vielleicht sollte man sich mal echt hinterfragen, was man überhaupt tut?! Einfach einen Kandidaten als Nonsens abzutun, weil er so unter allem ist (aber genau die Ängste und Sorgen derer anspricht, die offensichtlich zur Urne gehen. Der Rest polemisiert ja offensichtlich lieber mit grossen Worten auf FB oder hinterher auf der Strasse), führt offensichtlich in die Irre. Wir können was draus lernen und vor allem begreifen, was Demokratie wirklich wäre: Einen Diskurs zu führen, der alle zu Wort kommen lässt und nicht von oben herab diktieren will, was nun gut und schlecht ist – oder wir werden noch ganz oft solchen Wahlen gegenüber stehen.

Es ist verdammt einfach, nun Trump den Schwarzen Peter zuzuschieben (und ich sage es nochmals: Ich mag ihn nicht, er ist nicht mein Wunschpräsident). Das führt uns einfach schlicht nirgends hin.

Aktuell ist die Demokratie mehr als gefährdet. Daran sind weder Trump noch die AfD schuld. Das ist dem Umstand geschuldet, dass wir das, was eine Demokratie ausmacht, verlernt haben: den offenen Diskurs. Früher ging man hin, sprach miteinander, zoffte auch. Man traf sich auf dem Markt, im Wirtshaus, man setzte sich auseinander. Heute sitzt jeder zuhause, liest sich in den sozialen Medien und bei Gratiszeitungen was an, schart die um sich, die gleicher Meinung sind, degradiert die anderen. Man ruft übers Netz zum Aufstand auf und es treffen sich Menschen, die sich nicht kennen, aber virtuell befeuern.

So fahren wir alle unsere Welt an die Wand. Dazu brauchen wir keinen Donald.

„Stop“ – oder: Unverbindlichkeit als Konzept

Migros eröffnet das Konzept der Zukunft. „Welle 7“ heisst es, ist beim Bahnhof Bern. Am Morgen kann man – wann immer man will – ein Fitnessprogamm wählen – woher auch immer. Man muss aber nicht, man ist nicht verpflichtet. Man entscheidet so aus Lust und Laune.

Danach kann man einen „Workingspace“ mieten. Wenn man ihn grad braucht. Wenn nicht, kann man es auch lassen. Auch hier: Freiheit pur. Alles ist frisch aufgebaut, mit markigen Wörtern, unverbindlichen Angeboten. Das zieht heute. Wir leben in einer Gesellschaft, in der man sich nicht mehr verpflichten will. Schliesslich steigen auch die Scheidungsraten. Und wenn schon nicht hält, was man auf ewig schwört, wie will man noch in andern Bereichen hinstehen und bleiben?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der man einfach mal nimmt, was man kriegt. Und dann sagt: Aber so ganz weiss ich das eigentlich noch nicht. Darf ich mal probieren? Und oft trifft man auf solche, die Leute brauchen, die kommen. Und sie hoffen, dass die dann bleiben. Und straucheln, weil die nur mal schauen wollen. Um eventuell zu bleiben. Es ist nicht so klar. Man weiss es nicht. Aber man kann es ja. Man ist schliesslich Kunde. Egal, was das für einer ist, der das Angebot gibt. Es ist ein Angebot. Man muss es nicht nehmen.

Die Angebote spriessen. Immer mehr. Weil viele nicht mehr wissen, wie überleben, ohne ein Angebot zu liefern. Und die andern sind froh: Sie haben die Wahl. Und sie nutzen sie. Unbarmherzig. Denn: Sie können es. IN ihrem Bereich sind sie dann wieder die, die warten. Weil andere auch nutzen. Weil sie es können. Und so geht der Kreislauf weiter und malmt Menschenseelen nieder. Jeder, der kann, drückt einen anderen nieder. Schliesslich wird er ja auch niedergedrückt. Von anderen, die können. Das geht so endlos weiter. Bis einer „Stop“ sagt. Und dann hadert. Was, wenn er untergeht, weil andere drüber laufen?

Was aber, wenn keiner „stop“ sagt?

Im Restaurant – eine Geschichte

Die beiden Männer sassen im Restaurant des Supermarktes an einem Tisch. Sie sassen da jeden Tag und unterhielten sich. Ich verstand nicht, was sie sagten, sie sprachen in einer mir fremden Sprache. Ab und an erhob einer die Stimme, der andere stimmte gleich mit ein. Sie schienen aber nicht zu streiten, viel mehr engagiert zu diskutieren.

Sie waren schon älter. Weisse Haare und zerfurchte Gesichter zeugten von einem gelebten Leben. Braune Augen blickten beim einen sanft und etwas fragend, beim anderen gewitzt und interessiert. Sie tranken Kaffee.

Wo sie wohl herkamen? Vermutlich irgendwo aus dem Süden. Jetzt sprach einer von Italien. Vermutlich, weil am selben Abend Italien im Viertelfinal der Fussball-EM stand. Ich war auch für Italien. Das wussten die beiden aber nicht und ich traute mich nicht, es Ihnen zu sagen. Zwar konnte ich mir vorstellen, dass sie sich gefreut und mich ins Gespräch einbezogen hätten – sofern wir eine gemeinsame Sprache gefunden hätten. Meine eigene Zurückhaltung liess es nicht zu.

Gedanken wie „nicht stören“, „niemandem zur Last fallen“, „mich nicht aufdrängen“ schossen mir durch den Kopf. Zudem redete ich mir ein, dass es unhöflich sei, anderen zuzuhören – wobei sie unüberhörbar laut redeten. Aber: Mit einem Votum hätte ich mich geoutet als Zuhörerin.Zwar war mir bewusst, dass in südlichen Ländern genau das üblich war: Man sass beisammen, Leute kamen und gingen und alle redeten miteinander – und durcheinander.

Zumindest war das früher so, heute hatten sich die Zeiten wohl auch in den Ländern ein wenig geändert, zumindest bei den jüngeren Generationen. Wobei ich das nicht so genau wusste, ich war nie im Süden gewesen. So oder so waren die Männer hier vor mir aus einer Generation, die genau das gekannt hatte: Die Stühle auf der Piazza, die angeregten Gespräche, das Zusammensein. Noch während ich das alles dachte, kam ein dritter älterer Herr, brachte gleich seinen Stuhl mit und setzte sich dazu.

Während draussen trotz des Sommermonats nur Regen und Grau herrschte, kam bei mir ein wenig Ferienstimmung auf. Ich fühlte mich selber wie in einer italienischen Pizzeria, lauschte den fremden Tönen und liess meine Gedanken schweifen, während ich meinen Kaffee trank. Ich stellte mir vor, wie es wäre, einfach alle Bedenken über Bord zu werfen, mich dazuzusetzen und mitzureden, dazuzugehören.

Dann war ich fertig mit meinem Kaffee. Ich packte meine Sachen, stand auf und lief in Richtung ihres Tisches. Als ich kurz davor war, blickte mich der Mann mit den sanften Augen an. Ich lächelte ihn an und er lächelte zurück.

Facebook – Make New Friends

Ich war vor vielen Jahren einen Monat lang in Chicago, da in Unikreisen. Die Redewendung, die mir am meisten auffiel, war: Make new friends. Auf jedem Aushang stand es, jeder, der dich traf und dich zu irgendwas einladen wollte, sagte es. „Make new friends“ schien sowas wie das oberste Gebot, das, was man machen soll, will und wozu man ganz viele Gelegenheiten geboten kriegt.

Ich bin schon lange zurück in der beschaulichen Schweiz, der Schweizer hat es eher nicht so mit neuen Freunden, er ist skeptisch, zurückhalten, wenig outgoing und schon gar nicht aufgeschlossen Fremden gegenüber (was ich oft bedaure). Aber: Zum Glück gibt es Facebook. Da kann man viele neue Freunde finden und die nicht nur vor der Haustür, sondern auf der ganzen Welt. Da ich vielseitig interessiert und sehr kommunikativ bin, bleibt es nicht aus, dass ich doch einige Freunde auf Facebook habe. Täglich kommen auch neue Anfragen hinzu, die ich mehrheitlich annehme, ausser….

Immer wieder kriege ich Anfragen von Menschen, die meine Sprache nicht sprechen. Da ich fast ausschliesslich auf Deutsch schreibe, frage ich mich, was die bei mir gefunden haben, ausser die Aussicht auf eine Nummer mehr in der Freundesliste. Wenn sie sogar nur mit Zeichen schreiben, die ich nicht mal lesen kann, vermehren sich die Fragezeichen in meinem Kopf.

Was mich aber auch immer wieder erstaunt, ist, mit welcher Ignoranz sogenannte Freunde für ihre Seiten werben. Wenn mich jemand für eine Seite begeistern will, die Fleischesser an den Pranger stellt, hat er sich wohl noch nie damit beschäftigt, wer ich wirklich bin und was ich mag (ein Blick in meine Fotos würde ausreichen). Auch interessiert mich Ortspolitik in Ostdeutschland nicht und der Immobilienmarkt irgendwo in der deutschen Pampa ist auch nicht meins.

Bin ich zu fordernd, wenn ich denke, Facebook sei eine Kommunikationsplattform? Von einer solchen erwarte ich, dass man miteinander spricht. Und ich tue das nach bestem Wissen und Gewissen (und klar den zeitlichen Möglichkeiten). Klar kennt man nicht alles von allen, aber so ein bisschen? Ist Facebook nur ein Spiegel der Gesellschaft, in der sich auch kaum mehr wer interessiert, wer du wirklich bist, sondern nur, wozu er dich brauchen kann? Der moderne Strich in der Bettkante quasi?

Nackte Zahlen und Statistiken – ein Fluch

100 Flüchtlinge haben bei Zalando gewildert. Sie haben auf Rechnung bestellt und nie bezahlt. Gross prangt die Schlagzeile in der ach so gerne plakativ schreibenden Zeitung der Nation. Über ein Jahr lang habe Zalando Waren für über 100’000 Euro geliefert, ohne dass je eine Rechnung beglichen wurde.

Das ist natürlich Öl ins Feuer aller Flüchtlingsgegner. Da haben sie den Beweis: Flüchtlinge sind Schmarotzer, sind kriminell, sind einfach nur schlimm. Super. Beweis erbracht. Schauen wir alles mal genauer an. 100 Flüchtlinge sind es, die so handelten. Wären 100 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, wäre wohl kaum die Rede von einer Flüchtlingskrise. Die Rede war von 6-stelligen Zahlen an Flüchtlingen, die teilweise nur mal übers Wochenende nach München kamen. In welcher Relation als stehen da 100 Flüchtlinge?

Ich will nicht in Abrede stellen, dass nicht nur die ehrlichen, lieben, tollen, wunderbaren Menschen hierher fliehen. Alle, die irgendwie können (und wollen), werden versuchen, dem Schrecken zu entkommen, den sie in ihrem Heimatland aktuell erdulden müssen. Vielleicht ist die Wahrscheinlichkeit, dass solche mit mehr Ellenbogen etwas eher fliehen, weil sie mehr Mittel und Wege finden (das nur eine Annahme, mit keiner Statistik belegt) etwas grösser, im Grundsatz wird aber die Verteilung von gut und böse etwa gleich sein wie in unserer Gesellschaft hier vor Ort auch. Ich hätte gerne die Zahl derer, die hier leben und ihre Rechnung bei Zalando auch nicht zahlen. Und dann wüsste ich gerne, wieso Zalando an eine Adresse liefert – ein Jahr lang – , von der noch nie eine Rechnung bezahlt wurde.

Zalando ist mir relativ egal, was mich immer wieder nervt, sind nackte Zahlen und es sind auch Statistiken. Ich mag sie nicht. Statistiken gaukeln Objektivität vor, sind aber nur ein Resultat einer (oft) willkürlich gewählten Selektion. Klar, es gibt Parameter, die eine Statistik als aussagekräftig qualifizieren. Nur: Was hilft es mir, wenn ich an Krebs sterbe, obwohl die Statistik sagt, 75% überleben meine Art von Krebs? Ich hatte vielleicht vorher ein bisschen mehr Hoffnung, als wenn die Aussicht auf Überleben bei 25% gewesen wäre. Nur… dann hätte ich ja nun doppelt verloren.

Ich gehe noch viel weiter: Statistiken helfen, Menschen zu manipulieren. Egal, was man sagen will: Man kann es mit einer Statistik belegen. Wenn man diese auch noch geschickt auswertet, hat man quasi gewonnen. Das Rezept? Man stelle die Frage auf eine Weise, dass das Ergebnis so rauskommt, das es den eigenen Zwecken dient. Dann packe man das Resultat so in Sprache, dass es bei den Lesern die Punkte trifft, die man treffen will, um die Reaktion auszulösen, die einem dient.

Nackte Zahlen sind etwa gleich. Man wirft sie in den Raum und sie sind relativ (!!) hoch. Man rechnet damit, dass Leser direkt auf die Grösse der Zahl anspringen und gar nicht die Relation dahinter prüfen. Und oft klappt das ganz gut.

Drum: 100 Flüchtlinge betrogen Zalando… das klingt nach viel, das lässt Blut kochen, das lässt Wut aufkommen und Widerstand gross werden. Würde man sich schnell besinnen, sich dann an Onkel Einstein erinnern, dann wüsste man: Alles ist relativ. Das gilt auch für statistische Daten und nackte Zahlen.