Corona, Gedanken und eine Utopie

Ich bin ein Mensch, der schnell zu viel hat. Zu viel Lärm, zu viele Termine, zu viel Müssen, zu viel von aussen, zu viel Einfluss, zu viel Druck. Vieles von all dem mache ich selber, vieles kommt einfach. Durch die Welt, wie sie ist. Ich suchte mir mein Leben lang Nischen und entzog mich. Das klappte mehrheitlich gut. Das Unverständnis ebenso. 
Es passt nicht in unsere Welt, gerne allein zu sein. In unserer Welt muss man präsent sein, man muss sich zeigen, man muss dabei sein, man braucht Termine, man stellt was dar. In unserer Welt repräsentiert man, fügt sich in Schubladen ein, ist nur genehm, wenn man darin Platz findet. In unserer Welt leistet man, und zwar immer das, was an Leistung gefordert ist aktuell. In unserer Welt ist man, wie man ist, weil man eben so ist und zu sein hat. Wie könnte man nur anders sein?

Und ja in unserer Welt ist man sehr tolerant, man spricht über alles und das soll so sein dürfen. Nur wenn jemand spricht, wie man das nicht möchte, dann grenzt man ihn aus. Das fällt in unserer Welt ja auch so leicht: Ein Klilck, er ist weg. Unsere Welt ist geprägt. Von genau dem. Von diesem Leben in einer pluralistischen und liberalen Gesellschaft, das man sich gross auf die Fahnen schreibt, von dem aber wenig zu spüren ist, da schlussendlich doch nur ein kleiner Teil des Pluralismus genehm und nur ein noch kleinerer Teil vom Liberalismus gedeckt ist. Über den Rest diskutieren wir bevorzugt nicht. 

Und nun sitzen wir in diesem Lockdown. Und mir ist es – um es in meiner Sprache zu sagen – vögeliwohl. Ich bin wohl der Profituer eines Umstandes, den ich mir in meinen wildesten Träumen nie gewünscht hätte. NIcht mal geträumt. Nein, schlicht nicht gewollt. Was aber wertvoll ist: Ich muss nirgends hin. Ich darf nicht. Keiner fragt mich, wieso ich nicht will. Es ist klar: Ich kann nicht. Endlich ist die Ruhe da, die mir gut tut. Endlich darf ich so leben, wie es für mich passt, ohne schräg angeschaut zu werden. Endlich bin ich kein Exot, sondern halt einfach so wie alle anderen. Etwas, das ich nicht kenne. Endlich muss ich mich nicht rechtfertigen – auf Arten und Weisen, die dann doch keiner versteht. 
Und langsam kommt die Angst auf: Es wird ein Nachher geben. Kommt dann alles doppelt und dreifach zurück? Was kommt auf mich zu? Kann ich dem bestehen? Was, wenn nicht? Was mir auffällt ist, dass sich meine schon vorher so ausgeprägten Züge nach Rückzug nicht nur gestillt, sondern verstärkt haben. Was vorher noch mal so ging, ist in der Vorstellung nun schon viel. Ich komme mehr als gut klar mit dem Rückzug (auch wenn sogar mir das Eine oder Andere durchaus fehlt), aber ich merke eine immer grössere Angst, dass ich mit einer Umkehr Mühe haben würde. 

Wird nachher mehr Verständnis da sein? Ich denke, dass eher das Gegenteil der Fall sein wird. Jeder, der Mühe hatte, wird umso mehr darauf bedacht sein, einen Zustand hinzukriegen, der all dem entgegen wirkt. Er wird kompensieren wollen. 

Noch ist es nicht so weit. Und noch behalte ich die Hoffnung, dass diese Zeit, die trotz allem nicht einfach ist und war, etwas bewirkt hat in den Köpfen. Und ich wünsche mir, dass wir mit mehr Miteinander daraus hervor gehen. Vielleicht ist das eine Utopie. Nur: Schon ganz viele Staatsphilosophien gründeten auf Utopien, die Amerikanische Verfassung war eine, um nur ein Beispiel zu nennen… und vieles konnte umgesetzt werden. Wieso nicht auch das?

11 Kommentare zu „Corona, Gedanken und eine Utopie

  1. Ich frage mich. liebe Sandra, ob die Welt stillstehen muss, damit jemand, dem sie zu schnell ist, zur Ruhe kommen kann? Möchte ich, dass alle rundum sterben, wenn es mit mir zu Ende geht? Warum nicht einfach sich zurückziehen oder mitmachen, je nach Bedürfnis? Zum Glück gibt es ja überall die Möglichkeit zum Rückzug. Das „Schiefangesehenwerden“ ist doch wirklich nichts, um das man sich kümmern muss.

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    1. Nun, ich hatte mir da ja weder je gewünscht noch erträumt, wie ich auch schrieb. Liebe Gerda, für mich klingt dies nach einer Unterstellung, die in eine Frage verpackt ist, auf welche die Antwort so klar ist, dass das Fragezeichen ziemlich obsolet ist. Aber vielleicht ist es auch einfach ein Aufzeigen einer Möglichkeit, welche ich durchaus auch so sehe wie du – aber nicht immer einfach finde.

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  2. An die Utopie von mehr Miteinander mag ich nicht glauben, wenn alle doch zurück zur sog. Normalität wollen und diese so herbei sehnen. Alle wollen doch jetzt wieder Sicherheit, und das verträgt sich nicht mit Umdenken, neu denken. Ich bin da sehr skeptisch.

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  3. Lesen ist nicht jedermanns Sache, (ver)urteilen schon…
    Die Krise konfrontiert uns mit vielen Fragen. Eine davon: Was ist wirklich wichtig?
    Lernen wir daraus? Geht danach alles weiter wie bisher, oder sogar noch forcierter?
    Liebe Sandra, Du stellst die richtigen Fragen und gibst nicht vor, die Antworten zu kennen.
    Ich entziehe mich auch gerne in eine selbst gewählte Einsamkeit.
    Was bleibt?
    Vielleicht die Einsicht, wie verletzlich wir alle sind.
    LG Michael

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  4. Ach Sunny, du schreibst meine Gedanken und ja, auch mir fehlt etwas der Kaffee an der frischen Luft und Menschen die bunt gekleidet ihrer Wege gehen, während ich eine Insel bin. Einige Wenige werden an der Situation wachsen und nachhaltige Änderungen erfahren, doch die meisten Menschen wollen ihr vermeintlich sicheres und oberflächlich betrachtet, perfektes Leben zurück, ohne Rücksichten nehmen zu müssen oder zu wollen. Wir werden sehen, ob uns das künftige Gewusel ins einsame Kämmerlein treibt oder wir dem ewig neuen Gestrigen wieder gewachsen sein werden …

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  5. Genau so! Dieser sogenannte Lockdown und dieses Homeoffice seit über einem Jahr ist das Beste, was mir passieren konnte. Vom Lockdown zum Calmdown. Und allen Menschen mit ihrer Schnappatmung habe ich mich entfremdet. Das Nachher wird nie mehr wie ein Vorher sein. Wir sind mittendrin in der Klimakatastrophe; wir werden müde lächelnd an Corona denken. Ich überlege mir ganz genau, wie ich in ein Nachher hineingehen werde. Sicherlich nicht nachholend und sicherlich nicht wie vorher. Diese neu gewonnene (innere) Ruhe werde ich mir bewahren. Liebe Grüße, Bernd

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    1. Danke für deinen Kommentar, um den ich doch froh bin. Es scheint doch verständlich, was ich geschrieben habe. Ich habe mich doch ein paar Tage hinterfragt, weil ich mich so verstanden sah, dass ich Todesopfer in Kauf nähme, um länger meine Ruhe zu haben. Was NIE der Fall war. Aber ja, die Ruhe und das Bewusstsein, sie zu brauchen, die möchte ich gerne in ein Danach (wie auch immer das aussehen mag) mitnehmen.

      Liebe Grüsse
      Sandra

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      1. Wir sind nicht froh, dass es diese Pandemie gibt, doch empfinden wir den Lockdown und die damit verbundene erzwungene Ruhe als Glücksfall. Natürlich wäre es uns lieber, alle Toten lebten noch und wir hätten die Erfahrung der Ruhe anders machen können, z.B. in einem Retreat. Liebe Grüße, Bernd

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      2. Liebe Sandra!
        Ich habe Dich ganz anders verstanden.
        Es gibt die Pandemie und es gibt den Lockdown, um Menschenleben zu schützen und zu retten.
        Viele zeigen sich unsolidarisch und bekämpfen die Maßnahmen im Namen ihrer Freiheit.
        Du zeigst Dich solidarisch und wirbst für Lockdown und Rettung, indem Du aufzeigst, wie wir konstruktiv damit umgehen können.
        Wir können dem Lockdown, der gut ist für die Gesundheit aller, etwas abgewinnen, das gut ist für uns.
        Mit dieser Haltung erweist Du Dich als haushoch überlegen.
        LG Michael

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        1. Lieben Dank Michael. Ich bin froh, dass es doch verständlich ist, worum es mir ging.

          Überlegen würde ich mich nicht sehen wollen, aber ich finde Solidarität wichtig in einer Gesellschaft. Nur so lässt sich ein MIteinander wirklich leben. Gerade in schwierigen Zeiten.

          LG
          Sandra

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