Abbild der Zeiten

Matt geworden von der Zeiten Lauf
hängt er seit Jahren an der Wand. Ein Bild,
das keinen Inhalt trägt und nie verklärt,
nur spiegelt was sich neu ihm zeigt.

Ich seh’ ihn an und sehe mich, und um
mich rum nur wenig Welt, wie wenn ich ganz
alleine wär’ für alle Zeit, die dieses
Bild vor mir aufschlägt bis weit zurück.

Ich seh’ mich jung durch alle Falten, sehe
freies Walten, wenig Pflicht, nur einfach
tun. Ich sehe Leiden auch und Bangen,

Seh’ mich suchen, manchmal finden, alles
steht in dem Gesicht. Ich möcht’ nichts missen,
doch noch einmal jung sein möcht’ ich nicht.

©Sandra von Siebenthal

Theodor Fontane: Es kann die Ehre dieser Welt

Es kann die Ehre dieser Welt
Dir keine Ehre geben,
Was dich in Wahrheit hebt und hält,
Muß in dir selber leben.

Wenn’s deinem Innersten gebricht
An echten Stolzes Stütze,
Ob dann die Welt dir Beifall spricht,
Ist all dir wenig nütze.

Das flücht’ge Lob, des Tages Ruhm
Magst du dem Eitlen gönnen;
Das aber sei dein Heiligtum:
Vor dir bestehen können.

Fontane kann es, Fontane darf es, Fontane trauen wir, wenn er etwas sagt. Wieso? Er kommt nicht nur mit weisen Ratschlägen daher, er sagt uns die Dinge auf den Kopf zu, die wir eigentlich selber wissen, aber doch immer wieder dagegenhandeln. Er kommt nie überheblich oder abwertend daher, er nennt die Dinge schlicht beim Namen und wir sitzen da, lesen es und denken: Ich hätte es eigentlich wissen sollen.

Aber von vorne. Was immer wir im Aussen suchen an Ehre, an Ruhm – es wird uns nie genügen. Von aussen wird nichts so sein, dass es uns hält oder gar hebt, dazu müssen wir in uns gehen. Wenn da nichts ist an Halt, an Erhebung, dann können wir im Aussen suchen, was wir wollen, es wird nichts nützen. Selbst wenn alle laut klatschen: Unser Zweifel bleibt.

Was immer von aussen kommt, ist flüchtig, selten von Dauer. Es mag ein kurzer Freudenmoment sein, doch dann ist dieser auch schon wieder vorbei. So sehr man sich drin suhlt, am nächsten Morgen wacht man ernüchtert auf und es ist nichts besser als am Tag davor – im Gegenteil. Das kurze Lob dient nur dem Eitlen, der es sich auf die Fahnen streichen will – nach aussen. Tief drin bleibt alles wie gehabt. Es gibt also nur eins: Sei so, wie du für dich sein willst und kannst. Und tue alles dafür, deine eigenen Massstäbe zu erfüllen, dir selbst als das beste Ich, das du sein kannst und das du sein willst, zu sein.

Dann wirst du den Applaus von aussen nicht mehr brauchen, denn er könnte nichts hinzufügen. Und wenn das nicht ist, kann er ausbleiben, denn er könnte nichts bringen, das dir nützen könnte. Für dich.

#abcdeslesens – F wie Mascha Kaléko: Die frühen Jahre

Ausgesetzt
In einer Barke von Nacht
Trieb ich
Und trieb an ein Ufer.
An Wolken lehnte ich gegen den Regen.
An Sandhügel gegen den wütenden Wind.
Auf nichts war Verlaß.
Nur auf Wunder.
Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht,
Trank von dem Wasser das dürsten macht.
Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen,
Fror ich mich durch die finsteren Jahre.
Zur Heimat erkor ich mir die Liebe.*

Ein trauriges Gedicht, das von der Vertriebenheit, von der Fremdheit spricht. Das lyrische Ich befindet sich an einem Ort, an dem es nicht zu Hause ist, an einem Ort, den es nicht selber gewählt, sondern an welchem es ausgesetzt wurde. Es ist ein düsterer Ort, ein Ort der Dunkelheit, dafür spricht die Nacht. Die Barke deutet darauf hin, dass nicht wirklich auf ein Ziel hin treibt, mastlos, antriebslos liegt sie im Wasser, bis dieses sie an einem Ort an Land spült.

Die Welt selber zeigt sich von ihrer harten Seite mit Regen und Wind. Alle Orte, wo das Ich Zuflucht erhofft, zeigen sich als wenig vertrauenswürdig. Sie geben nach, sie geben nicht den gewünschten Schutz. Es gibt nur eines, was noch hilft: Ein Wunder.

Die Sehnsucht nach diesem Wunder ist gross, und es besteht Hoffnung. Beides wird geschürt, denn es ist alles, was ist in dieser Fremde, in diesem unbekannten Land. Die Fremdheit und die Einsamkeit lassen Kälte aufkommen, nichts ist da, was wärmt.

In dieser Kälte, Dunkelheit und Fremdheit gibt es nur eines, das Zuflucht verspricht: Die Liebe. Sie ist der Hort, sie ist, worauf sich bauen lässt. In der Liebe liegt ein Gefühl von Heimat, von Aufgehoben-Sein.

Erst noch ohne Punkt und Komma gleitet das Gedicht dahin gleich dem Treiben der Barke auf dem Wasser. Dann die Versuche, Schutz zu finden, die Orte als einzelne Zeilen durch Punkte getrennt. Das Fazit, dass es vergebens ist, ebenso abgesetzt. Man spürt förmlich, wie bei jedem Ich eine Stagnation, eine Resignation steht. Es folgen neue, hoffnungsvolle Versuche, fast atemlos über zwei Zeilen hinweg. Und wieder ein Punkt, an dem die Hoffnung stockt, gefolgt von der Bilanz und wohl auch Hoffnungslosigkeit, das Gesuchte, Erhoffte im Aussen zu finden.

Was bleibt, ist die Liebe.

Zur Autorin
Mascha Kaleko war eineVertriebene und Heimatlose. Am 7. Juni 1907 als Tochter eines russischen Vaters und einer österreichischen Mutter in Chrzanow geboren, floh die Familie 1914 vor den Pogromen nach Westen. 1918, der Vater war grad aus Gefangenschaft (in die er wegen seiner russischen Staatsbürgerschaft gekommen war) freigekommen, zog Mascha mit ihren Eltern nach Berlin, wo sich Mascha endlich zu Hause fühlte. Nach der Schule begann sie eine Arbeit im Büro, belegte daneben Abendkurse an der Universität (das gewünschte Studium versagte ihr der Vater) las daneben viel und schrieb Gedichte. Sie heiratete 1928 den Philologen Saul Kaléko, veröffentlichte ein Jahr später erste Gedichte, 1933 ihren ersten Gedichtband und feierte grosse Erfolge, die 1935 ein jähes Ende nahmen, als das Regime ihre jüdische Identität bemerkte.

1935 lernte sie den Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver kennen. Als bald darauf das gemeinsame Kind unterwegs war, wollte sich Mascha scheiden lassen, erst ohne Erfolg, ihr Mann willigte nicht ein. Erst 1938 kam es zur Scheidung, die zweite Hochzeit und die Emigration in die USA. Mascha fühlt sich entwurzelt, vermisst die Sprache. Erst 1955 besucht Mascha erstmals Deutschland. 1960 der nächste Ortswechsel, Mascha und Chemjo ziehen nach Palästine, wieder eine Fremde für Mascha, die ewig Heimatlose. Der Tod des Sohnes 1968 stürzt die beiden Eltern in ein tiefes Loch, Chemjo stirbt nach schwerer Krankheit 1973, lässt Mascha einsam und noch melancholischer zurück. Sie rafft sich nochmals auf, geht auf Reisen nach Deutschland, in die Schweiz, wo sie 1975 stirbt.


*

[1] Zit. nach „Die paar leuchtenden Jahre“ © 2003 dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München Suchergebnis | dtv

#abcdeslesens – E wie Ein alter Tibetteppich (Else Lasker-Schüler)

Deine Seele, die die meine liebet,
Ist verwirkt mit ihr im Teppichtibet.

Strahl in Strahl, verliebte Farben,
Sterne, die sich himmellang umwarben.

Unsere Füsse ruhen auf der Kostbarkeit
Maschentausendabertausendweit.

Süsser Lamasohn auf Moschuspflanzenthron,
Wie lange küsst dein Mund den meinen wohl
Und Wang die Wange bunt geknüpfte Zeiten schon.

Dieses Gedicht (geschrieben 1906, erschienen 1910) ist wohl eines der schönsten von Else Lasker-Schüler und es trägt in sich all das, was ihre Poesie so herausragend, so einzigartig macht. Schon die ersten beiden Zeilen sind sinnbildlich für ihr Schreiben und ihre Fähigkeit, durch Worterfindungen neue Bedeutungsebenen zu machen, welche in einem Bild daherkommen, das die Sprache übersteigt. Ebenfalls typisch ist das orientalisch-exotisch Anmutende und die Symbolsprache.

Formal haben wir vier Verse, dreimal zwei Zeilen, einmal drei, alles im Trochäus mit ansteigender Zahl der Hebungen. Der Reim ist paarweise, bis auf den letzten Vers, da ist quasi ein Störfaktor durch die mittlere Zeile, welche sich nicht wirklich reimt, man könnte höchstens eine Assonanz anbringen. Zufall? Nein, da wusste eine Dichterin ganz genau, was sie tut, dazu später mehr. Das soll auch genügen als Formanalyse.  

Zwei liebende Seelen, die miteinander verbunden sind. Schon das Bild des Tibetteppichs mit den Seelen als Fäden wäre grossartig, durch die Umstellung des Worts wurde aus dem Teppich ein ganzes Land, quasi eine neue Welt nur für die beiden Liebenden. Damit verlässt Else Lasker-Schüler das Bild des Teppichs, sucht neue Metaphern und Symbole, um die Liebe auszudrücken. Aus Fäden werden Strahlen, Farben bringen sich ein, der Sternenhimmel wird dazu genommen, alles, um immer wieder das gleiche Bild zu beschwören: Zwei Seelen, die miteinander verbunden sind. Die Sprache kann es allein nicht ausdrücken, es braucht Bilder.

Im nächsten Vers kehrt Else Lasker-Schüler zum Teppich zurück, nun ist er die Grundlage, auf welcher die Liebenden stehen. Nicht nur im Moment, sondern «maschentausendabertausendweit» – ein Bild der Unendlichkeit. Daraus spricht der Wunsch, dass die Liebe halten möge, ein Wunsch, den Else Lasker-Schüler zeitlebens hatte, der ihr aber nie erfüllt werden sollte. Sie war eine ewig nach Liebe suchende, sie sich Ersehnende, aber sie nie wirklich auf Dauer Findende.

Der vierte Vers bringt nochmals eine neue Symbolsprache. Mit dem Lamasohn wird quasi ein Prinz angesprochen – landläufig gilt der Lama als Oberhaupt einer buddhistischen Schule, was nicht stimmt, aber dem Bild keinen Abbruch tut. Da die Erbfolge durch Wiedergeburt funktioniert, könnte man den Nachkommen als Sohn bezeichnen. Moschus wiederum wurde früher als Sexuallockstoff eingesetzt. Hier kommt zur seelischen Ebene die körperliche dazu. Und dann der oben erwähnte Reim-Bruch. Die mittlere Zeile des vierten Verses stört das Reimmass. Hier schweift Else Lasker-Schüler ab, sie geht vom Beschrieben der Verbundenheit hin zur Hoffnung und auch Angst: Wie lange wird das dauern? Und wie lange hält das schon an?

Man hätte sich diese Interpretation wahrlich leicht machen können: Da schreibt eine über ein lyrisches Ich, das durchaus autobiographisch zu werten ist, wie so vieles in Lasker-Schülers Lyrik, das sich Liebe wünscht, sie sucht, sie findet, und zu verlieren befürchtet. Aber die Bilder, welche sie zum Aufzeigen dieser Verbundenheit durch die Liebe wählt, sie sind grossartig. Und drum sind Analysen teilweise so toll: Man geht nicht einfach mit dem Gefühl «Ist das schön» über ein Gedicht hinweg. Man schaut hin und merkt, wieso es so schön ist. Ab und an hilft das, zu erkennen, was man selber gerne hätte. Und wieso. Man lernt, hinzuschauen. Dafür danke ich der Lyrik und dafür mag ich so grossartige Dichterinnen wie Else Lasker-Schüler. Sie lehren einen das Sehen.

Zur Autorin
Else Lasker-Schüler wurde am 11. Februar 1869 in ELbertfeld geboren. Schon früh konnte sie lesen und schreiben, es scheint ihr wurde das Talent in die Wiege gelegt. 1899 veröffentlichte sie erste Gedicht mit Styx folgte 1901 ihr erster Gedichtband. 

Wie viele andere Juden war auch Else Lasker-Schüler eine Vertriebene des Nationalsozialismus. Um ihr Leben fürchtend, ging ihr Weg zuerst nach Zürich, später nach dem von ihr sehr geliebten Jerusalem. Geblieben ist sie dort allerdings nicht aus freien Stücken, ihr wurde die Rückreise verwehrt. Aus dem einst geliebten Land wurde ein schwieriger Ort: Deutsch war eine verpönte Sprache, so dass sie neben der Heimat Deutschland und all ihren Freunden da auch noch die Heimat der Sprache verlor.  Else Lasker-Schüler starb am 16. Januar 1945 und wurde auf dem Ölberg in Jerusalem begraben. Sie hinterlässt ein umfangreiches lyrisches Werk, Erzählungen und Dramen.


Auftanken

Die Möwe fliegt mit weiter Spanne, zieht
in Kreisen übers Meer. Mit heis’rem Ruf,
der um sich greift, durchschweifend Raum und Zeit,
im Wolkenweit des Himmelsfelds; und wer

ihr mit dem Blicke folgt weit übers Meer,
verliert sich hinterm Horizont und kommt
dann wieder her. Er zieht ganz einem Engel
gleich und lässt zurück das Erdenschwer.

So ziehen oft Gedanken auch in ferne
Welten weit hinweg, verlassen diese
schwere Zeit und suchen einen Hort,

wo sie sich tief geborgen fühlen, Frieden
finden für sich selbst; wo sie vom Trubel
Zuflucht suchen, einen Heimatort.

©Sandra von Siebenthal

#abcdeslesens – D wie Du bist wie eine Blume (Heinrich Heine)

Du bist wie eine Blume,
So hold und schön und rein;
Ich schau dich an, und Wehmut
Schleicht mir ins Herz hinein.

Mir ist, als ob ich die Hände
Aufs Haupt dir legen sollt,
Betend, dass Gott dich erhalte
So rein und schön und hold.

Da ist dieses lyrische Ich, das ein Du gefunden hat und es schön findet – schön wie eine Blume. Und nicht nur das: Schön und hold und rein. In damaliger Zeit sind das alle gewünschten Tugenden einer anzubetenden Frau. Man würde denken, das wäre Glück pur für dieses Ich – aber weit gefehlt. Er (ich gehe hier von der Zeit und dem Leben des Dichters aus und möchte keine anderen Möglichkeiten aus irgendwelchen anderen Gründen ausschliessen) schaut sie an und spürt nicht Glück, sondern Wehmut.

War da noch erst dieses Schwärmen ob der Vollkommenheit, schleicht – quasi durch die Hintertür – ein Pfeil ein und dringt mitten ins Herz. Ihm wird die Vergänglichkeit bewusst. Und er möchte sie schützen. Ihr die Hände aufs Haupt legen und zu beten anfangen. Im Wissen, dass die Welt ist, wie sie ist, und es schafft, fast jeden zu verderben. Das, dies der Wunsch des lyrischen Ich, soll nicht das Schicksal dieser schönen Blume sein. Er möchte das abwenden.

Nun sind das in der Tat keine wirklich neuen Erkenntnisse, dass Lieben enden können, wusste man schon vor Heine, dass Menschen auf Abwege geraten können, ebenfalls, dass die Welt nicht einfach schön, sondern eher grausam ist, war auch kein Novum. Und: Heine wurde nie müde, all das Schwarze, Schwere, Hässliche zu benennen. Dies meist in derben, klaren, harten Worten. Dieses Gedicht mutet dagegen harmlos und sanft an. Und es besticht in einer Zartheit, die eigentlich nicht typisch für Heine ist. Egal! Es ist schön, es ist tief, es ist wahr, es besteht auch nach mehrfachem Wiederlesen immer wieder.

Zum Autor
Harry Heine, wie er mit Geburtsname hiess, wurde am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf als Sohn eines jüdischen Kaufmanns und dessen Frau geboren. Nach einem Ausflug in die Bankenwelt beginnt er ein Studium der Rechtswissenschaft, publiziert schon da Gedichte, promoviert, konvertiert zum Christentum für bessere Berufschancen – vergeblich. Er wender sich dann der Literatur zu, schreibt zwar auch Feuilletons, politische Betrachtungen und Reiseberichte, bis heute bekannt ist er aber für seine Gedichte. Auch in diesen ist seine Kritik an den sozialen und politischen Verhältnisse immer wieder präsent, überhaupt göänzt er oft durch Scharfzüngigkeit, welche bis zur Bösartigkeit werden kann. Zu seinen bekanntesten Werken zählen wohl «Das Buch der Lieder» und «Deutschland. Ein Wintermärchen». Heine stirbt am 17. Februar 1856 in Paris.

Mascha Kaléko: Blatt im Wind

Lass mich das Pochen deines Herzens spüren,
Daß ich nicht höre, wie das meine schlägt.
Tu vor mir auf all die geheimen Türen,
Da sich ein Riegel vor die meinen legt.

Ich kann es, Liebster, nicht im Wort bekennen,
Und meine Tränen bleiben ungeweint,
Die Macht, die uns von Anbeginn vereint,
Wird uns am letzten aller Tage trennen.

All meinen Schmerz ertränke ich in Küssen.
All mein Geheimnis trag ich wie ein Kind.
Ich bin ein Blatt, zu früh vom Baum gerissen.

Ob alle Liebenden so einsam sind?

Schon der Titel weist darauf hin, dass hier jemand ist, der herumgeworfen wird durch eine grössere Macht, durch etwas, das dieses Ich bewegen kann. Es folgt gleich in der ersten Zeile eine Bitte: «Lass mich das Pochen deines Herzens spüren.» Dieses Pochen soll vom eigenen ablenken, welches sich gerade in Angst befindet. Man kennt das ja, wenn die Angst das Herz bis zum Hals schlagen lässt, es schlägt schneller, lauter, treibt die Angst gerade nochmals an.

Das Ich vermisst die Offenheit der Welt, des Blicks, da es selber Riegel vorgelegt hat. Wohl aus Angst, dass die eigenen Gedanken überborden, vielleicht auch in der Hoffnung, so bewahren zu können, was ist. Nun aber bittet es das Du, die Türen aufzutun, da es vermutlich auf die Türen des Du mehr vertraut als auf die eigenen.

Das Ich kann nicht sagen, was genau in ihm vor sich geht, es unterdrückt die Tränen, um sich nicht in seiner Angst mitzuteilen. Doch dann wird die Angst formuliert: Das Schicksal kann tun und lassen, was es will. Zwar hat es dem Ich eine Liebe geschenkt, doch kann es diese auch sofort wieder nehmen. Der Schmerz über diesen Gedanken ist gross, das Ich versucht, sich mit Küssen davon abzulenken – es gelingt wohl nicht, sonst gäbe es dieses Gedicht nicht. Das Geheimnis wird tief drin verschlossen, es soll nicht nach aussen dringen.

Nun kommt ein neues Bild, in nur einer Zeile, doch dieses Bild erklärt die ganze Angst und ihren Boden: Das Ich ist ein Blatt, das zu früh vom Baum gerissen wurde. Es fehlen ihm noch die letzten Tage Kraft, die es am Baum hätte tanken können. Dem Ich (und man darf es hier wohl mit der Autorin gleichsetzen, da Mascha Kaléko immer wieder ihr eigenes Leben in ihre Gedichte verwob) fehlt wohl das Urvertrauen in das eigene Sein, in die Beständigkeit, weil es nicht lange genug in Ruhe wachsen konnte, sondern immer auf der Flucht war – schon von Kindesbeinen an.

Trotz allem fand dieses Ich ein Du, eine Liebe, vom Schicksal geschenkt, ängstigt sich nun vor dessen erneutem Zuschlagen, indem es diese wieder nimmt. Und das Ich verschliesst sich, nimmt sich so also schon während der noch dauernden Zweisamkeit in die Einsamkeit zurück. Und fragt sich: Kennen andere das auch?

Ein melancholisches Gedicht, ein Liebesgedicht, aus dem viel Angst, Trauer und Einsamkeit spricht. Und doch auch ein tröstliches Gedicht für all die, welche genau das auch kennen und beim Lesen merken, dass sie nicht allein sind damit. Und oft braucht es auch einen Anstoss von aussen – zum Beispiel dieses Gedicht -, um das eigene Verhalten zu erkennen und es vielleicht auch ändern zu können. Man kann die Gedanken vielleicht nicht immer ganz ausschalten, aber gerade dann kann ein Mitteilen etwas (noch mehr) Verbindendes haben, das dann wiederum die Liebe zusätzlich stützt – und vielleicht dadurch auch die bösen Gedanken ausräumt. 

#abcdeslesens – Else Lasker-Schüler: Chaos

Die Sterne fliehen schreckensbleich
Vom Himmel meiner Einsamkeit,
Und das schwarze Auge der Mitternacht
Starrt näher und näher.

Ich finde mich nicht wieder
In dieser Todverlassenheit!
Mir ist: ich lieg’ von mir weltenweit
Zwischen grauer Nacht der Urangst…

Ich wollte, ein Schmerzen rege sich
Und stürze mich grausam nieder
Und riss mich jäh an mich!
Und es lege eine Schöpferlust
Mich wieder in meine Heimat
Unter der Mutterbrust.

Meine Mutterheimat ist seelenleer,
Es blühen dort keine Rosen
Im warmen Odem mehr. –
…Möchte einen Herzallerliebsten haben!
Und mich in sein Fleisch vergraben.

Die ersten zwei Zeilen offenbaren eigentlich alles. Die Einsamkeit tropft förmlich aus ihnen. Nicht nur ist keiner da, auch die Sterne ziehen sich zurück. In den nächsten Zeilen senkt sich das Dunkel. Es kommt näher und näher, erdrückt förmlich.

Als wäre das nicht genug, doppelt die nächste Strophe nach: Nicht nur ist da keiner, sich selber hat sich die Einsame auch verloren. Was für eine schöne Wortschöpfung: Todverlassenheit. Wo wäre man mehr allein als im Tod? Man ist gegangen, während die anderen bleiben. Und so sitzt sie nun in der sternengeflohenen dunklen Nacht. Und findet nicht mal mehr sich selber. Als ob das nicht genug wäre, kommt nun auch noch die Angst dazu. Die Urangst ist immer die vor dem Tod. Auf sie greifen alle anderen Ängste zurück.

Was kann da noch helfen? Man findet sich selber nicht mehr, man hat keinen Menschen mehr… der eigene Schmerz. Er führt einen immer zu sich zurück. Wenn man gar nichts mehr fühlt, hilft der Schmerz zu zeigen, dass man noch lebt. Heute würde man das Borderline nennen, Else Lasker-Schüler machte aus diesem Gefühl ein Gedicht. Sie möchte den aufweckenden Schmerz spüren, der sie sich wieder näher brächte. Egal wie grausam, die Gefühllosigkeit, das sich selber nicht mehr Spüren scheint grausamer. Der Wunsch, zurückzukehren in den Mutterschoss, als sie noch geborgen und nichts ausgeliefert war, folgt sogleich. Hier spielt ein autobiographischer Teil mit: Der Tod der Mutter bedeutete für Else Lasker-Schüler das Ende einer Welt, die sie bislang die ihre fand. Haltlosigkeit bieb zurück. Der Garten ist quasi verdorrt, keine Rose blüht mehr, das Leben ist ausgehaucht.

Aus diesem Gefühl heraus kommt die Sehnsucht nach Liebe. Wenn es nur einen Herzallerliebsten gäbe, in den man sich – dem Mutterschoss gleich -eingraben könnte. Geborgen wäre, aufgehoben. Leider hat Else Lasker-Schüler eine solche Liebe nie kennenlernen dürfen. Sie war eine ewig nach Liebe suchende, eine verzweifelt lieben und geliebt werden Wollende. Wäre es anders gewesen, wären uns wohl ganz viele Gedichte entgangen. Aber der Preis war hoch. Für sie selber wohl zu hoch. Sie starb schliesslich auch an einem Herzanfall. Ob dieser auf ein gebrochenes Herz zurückzuführen sei, wäre Spekulation, vielleicht ein wenig an plakativ klingend, aber wohl durchaus in ihrem Sinne.

Was aber hat es nun mit dem Titel auf sich? Wo ist das Chaos? Es ist die verkehrte Welt, in welcher Schmerz plötzlich gewünscht ist, weil das Gefühl nicht mehr da ist. Damit haben die Lebensum- und zustände veränderte Vorzeichen erhalten, man steht als Mensch da und versteht quasi die Welt nicht mehr, sieht aber nur noch den Schritt aus dem Gewöhnten hinein ins Verkehrte, da das andere nicht mehr greift.

Das Gedicht erschien 1919. Else Lasker-Schüler war gerade mal 50 Jahre alt. Die Hoffnung, den Geliebten noch zu finden, könnte also durchaus noch intakt gewesen sein. Man möchte es ihr wünschen, dass sie diese noch nicht aufgegeben hat. Der Lebenslauf spricht diese Sprache.  

Zur Autorin
Else Lasker-Schüler wurde am 11. Februar 1869 in ELbertfeld geboren. Schon früh konnte sie lesen und schreiben, es scheint ihr wurde das Talent in die Wiege gelegt. 1899 veröffentlichte sie erste Gedicht mit Styx folgte 1901 ihr erster Gedichtband. 

Wie viele andere Juden war auch Else Lasker-Schüler eine Vertriebene des Nationalsozialismus. Um ihr Leben fürchtend, ging ihr Weg zuerst nach Zürich, später nach dem von ihr sehr geliebten Jerusalem. Geblieben ist sie dort allerdings nicht aus freien Stücken, ihr wurde die Rückreise verwehrt. Aus dem einst geliebten Land wurde ein schwieriger Ort: Deutsch war eine verpönte Sprache, so dass sie neben der Heimat Deutschland und all ihren Freunden da auch noch die Heimat der Sprache verlor.  Else Lasker-Schüler starb am 16. Januar 1945 und wurde auf dem Ölberg in Jerusalem begraben. Sie hinterlässt ein umfangreiches lyrisches Werk, Erzählungen und Dramen.

Rainer Maria Rilke: Wenn es nur einmal so ganz stille wäre…

Wenn es nur einmal so ganz stille wäre.
Wenn das Zufällige und Ungefähre 
Verstummte und das nachbarliche Lachen,
wenn das Geräusch, das meine Sinne machen,
mich nicht so sehr verhinderte im Wachen -:

Dann könnte ich in einem tausendfachen
Gedanken bis an deinen Rand dich denken
und dich besitzen (nur ein Lächeln lang),
um dich an alles Leben zu verschenken
wie einen Dank.*

Das lyrische Ich sehnt sich nach Stille, möchte fast die Welt anhalten, dass alles, was so reinkommt in die eigene Welt, ruhig wäre und auch die Geräusche rundherum verstummen. Und dann, wenn all das weg wäre, wären da noch die Geräusche der Sinne, alles, was es so landläufig hört, sieht, fühlt, riecht und auch denkt, alles sind mehrheitlich automatische Abläufe, welche mehr einnebeln als wirklich wach und sehend machen. Wie oft laufen wir doch durch die Welt und sehen so wenig wirklich mit neuen Augen, sehen wirklich hin, sondern nehmen alles einfach als gegeben, lassen es an uns vorbeiziehen? All das, möchte das lyrische Ich beenden, um wach zu sein. Um zu sehen.

Hier schwingt das mit, was Rilke das «neue Sehen» nannte, und das ihm ein grosses Anliegen war. Er wollte die Welt wirklich wahrnehmen, wie sie ist, er wollte sie mit allen Sinnen erkunden und geniessen.

Dann wendet sich das lyrische Ich dem Du zu. Es will ganz zu ihm durchdringen, es mit allen Facetten vor dem geistigen Auge sehen, an alles, was dieses Du ausmacht, möchte das Ich denken. Und nur dann, wenn alles gesehen, gefühlt, bedacht ist, gehört es für einen kleinen Augenblick ihm, weil es ganz in ihn überging – in einem Lächeln. Und dann wäre es ein Geschenk fürs Leben, ein Geschenk, das dankbar macht.

Was für eine schöne Art, einem Menschen zu sagen, dass man sich ganz auf ihn einlassen möchte. Und was für eine Hingabe an dieses Einlassen. Doch dieses Einlassen, dieses wirkliche Sehen, dieses Wahrnehmen dessen, was wirklich ist, mit wachen Sinnen bedarf der Stille. Nur wenn die äusseren und inneren Ablenkungen zum Schweigen kommen, sind wir in der Lage, zum Kern der Dinge durchzudringen. Dann fangen wir an, nicht einfach alles schnell zu benennen und abzuhaken: Haus, Baum, Mensch. Erst dann, wenn wir uns die Zeit nehmen (können), wirklich hinzuschauen, werden wir das Wesen der Dinge und das Wesen der Welt erkennen. Wir werden nicht mehr blind durchs Leben gehen, sondern als Sehende. Und das wird dem eigenen Leben eine ganz neue Tiefe geben. Weil wir dann auch in unserem eigenen Wesen ruhen.

______
*erschienen im „Stundenbuch. Vom Mönchischen Leben“, zit. nach Rainer Maria Rilke: Gesammelte Gedichte, Goldmann Verlag, München 2006.

In fremden Gewässern

Ein Blatt auf weiter See, getrieben, blass und
klein, nicht unbeschrieben, leer nur, schwimmt es
schweigend vor sich hin, kaum sichtbar, ohne
Sinn, verloren in der fremden Welt.

Fische ziehen, Vögel fliegen, ab
und zu ein Boot bemannt, und alle mit
dem Ziel vor Augen, Flossen und auch Flügel
weit, die Segel nach dem Wind gesetzt.

So sitz ich einsam unter Menschen, kenne
mich hier gar nicht aus; so fühl ich mich
allein im Sein und um mich rum Tumult.

So schweig ich gegen weisse Wände, berge
bebend meine Hände in den Taschen,
da sie keiner halten will – mich nicht.

@Sandra von Siebenthal

A room of one’s own

Ich bin auf der Flucht
Und immer zuviel.

Ich mag nicht so sein,
mich drückt das Gefühl.

Es fehlt mir der Raum,
ich selber zu sein.

Es fehlt mir der Ort,
der mir ein Daheim.

Es fehlt mir die Zeit,
das Meine zu tun,

Es fehlt mir Stund’,
mal in mir zu ruh’n.

Ich bin auf der Flucht,
vor euch und auch dir,

ich zieh mich zurück,
verkriech mich in mir.

Da scheint einzig Schutz,
vor zu grossem Schmerz,

doch bin ich allein,
verlor das Deinwärts.

©Sandra von Siebenthal, 8. 8. 2021

Interview

Menschen fragen:
«Zahlen, Fakten,
wann, wohin und
wieviel Wert?»

Was du hast und
wer du bist,
zählt mehr als
was du willst.

Was du bringst und
wie du nützt,
zählt mehr als
wie’s dir geht.

Dann stehst du da
mit allen Fragen,
fragst dich selber:
«Wo bin ich?»

Dann stehst du da
und bist alleine,
weil – der Frager
sieht nur sich.

@Sandra von Siebenthal

Ingeborg Bachmann: Die große Fracht

Die große Fracht des Sommers ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die grosse Fracht des Sommers ist verladen.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Gallionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Westen der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

Ingeborg Bachmann hat gerade in Wien ihr Studium abgeschlossen, als sie dieses Gedicht 1952 geschrieben hat. Ingeborg Bachmann war eine intellektuelle Schriftstellerin, was man ihren Gedichten anmerkte. Bachmanns Gedichte sind komponiert, durchdacht, an ihnen wurde gefeilt bis zum letzten Wort. Sinnzusammenhänge finden sich zu den verschiedensten Gebieten. Ingeborg Bachmann war mit ihren hermetischen Gedichten eine typische Vertreterin der Nachkriegszeit. Sie versuchte, durch ein neues Sprachverständnis eine neue Wirklichkeit zu schaffen, was zuweilen zu einer schwierigen Verständlichkeit führt. Doch ist es den Aufwand wert, hinter die Bilder und Sprachchiffren zu dringen, um den Sinn eines Gedichts herauszuschälen.

Auch das vorliegende Gedicht ist beladen (überfrachtet?) mit symbolischen Bedeutungen und Anspielungen. Das grosse Thema des Gedichts ist die Vergänglichkeit, der Tod. Der Tod ist oft ein Thema, das wir meiden, weil der Tod vielen Menschen Angst macht. Wir wollen uns nicht damit auseinandersetzen, wir sehen ihn als Bedrohung, als etwas, das dunkel und düster über uns schwebt wie ein Damoklesschwert. Ingeborg Bachmann hat den Tod in vielen ihrer Gedichte thematisiert, in diesem aber auf eine wunderschöne, tröstliche Weise. Für diese Wirkung sorgt auch die von ihr gewählte Form des durchgängigen 5-hebigen Jambus, welche das Gedicht ruhig fliessen lässt. Der umarmende Reim, es sind alles reine Reime, führt zu einer Geschlossenheit der einzelnen Strophen, was einen Halt gibt, trotzdem ist eine Verbindung zwischen den einzelnen Strophen da durch die Wiederholungen der einzelnen Zeilen der ersten Strophe.

Es ist Herbst, die Blütezeit ist vorbei und die Früchte des Sommers werden als Fracht verladen. Das Sonnenschiff steht im Hafen (der steht symbolisiert den Anfang und das Ende von etwas) für diese Ladung bereit. In der ägyptischen Mythologie (sowie auch in anderen Mythologien des Mittelmeerraums) ist das Sonnenschiff das Schiff, auf welchem der Sonnengott mit den Seelen der Toten übers Meer fährt, um in der Nacht in die dunkle Unterwelt einzutauchen und den Toten das Licht zu bringen. Auf dieses Schiff wird also die Fracht des Sommers verladen, welche als Metapher für das Leben des Menschen steht. Er steht am Übergang von Leben und Tod.

Es ist kein grausamer Übergang, es ist kein Leiden in diesem Gedicht. Auf den Gesichtern der Lemuren, also den Geistern der Verstorbenen, liegt ein Lächeln. Sie sind die Gallionsfiguren des Schiffs und deuten somit auf einen friedlichen Weg hin.

Das Ernten der Früchte und das Verladen kann man als Herbst des Lebens lesen, in welchem irgendwann der Zeitpunkt des Aufbruchs auf die letzte Reise kommt. Hier wird dieser durch die Möwe als Todesvogel verkündet, welche hinter dem lyrischen Ich, welches hier als zweite Person vorkommt, stürzt und schreit. Nun ist es also Zeit, den letzten Weg zu gehen, den in den Tod, in die Unterwelt. Dass dieser Zeitpunkt kommt, ist unausweichlich, es ist quasi der Befehl aus dem Westen, welchen man mit dem Sonnenuntergang übersetzen könnte. Der Gedanke, dass es ein lichtvoller Weg ist, kein dunkler, düsterer, nimmt diesem Weg die Schwere, lässt ihn hell erscheinen.

Das Gesicht wahren

Grillen zirpen zirrilierend, stellen
ihre Flügel auf. Sie zeigen eifrig
ihr Begehren, nehmen dazu gern
in Kauf von allen, auch von völlig Fremden,

So gehört zu werden; nehmen gerne
auch in Kauf, dass and’re sich dran stören,
Ruhe wünschen, sie auslachen ob
Der just entfachten, jubelschwang’ren Lust.

Wäre ich doch auch so mutig, wäre
ich doch auch so frei, und könnte die
Gefühle zeigen, wie sie sind, und nicht

mich schämen, weil ich fürchte, anzustehen,
statt Erhören, Spott zu ernten und drum
mein Begehren still in mich zu kehren.

©Sandra von Siebenthal

Else Lasker-Schüler: Mein blaues Klavier

Ich habe zu Hause ein blaues Klavier
Und kenne doch keine Note.

Es steht im Dunkel der Kellertür,
Seitdem die Welt verrohte.

Es spielten Sternenhände vier –
Die Mondfrau sang im Boote.
– Nun tanzen die Ratten im Geklirr.

Zerbrochen ist die Klaviatur.
Ich beweine die blaue Tote.

Ach liebe Engel öffnet mir
– Ich aß vom bitteren Brote –
Mir lebend schon die Himmelstür,
Auch wider dem Verbote.

Das Gedicht «Mein blaues Klavier» ist das titelgebende Gedicht für den letzten veröffentlichten Gedichtband Else Lasker-Schülers. Die 32 enthaltenen Gedichte thematisieren noch mehr als die vorhergehenden Einsamkeit, Schmerz und Trauer über den Verlust der Heimat, so auch dieses Gedicht, welches Else Lasker-Schüler 1937 geschrieben hat. Man kann es von der Form her als Elegie bezeichnen, es ist ein Klagegedicht, ein Gedicht, in welchem die Melancholie und das Leid aus jeder Zeile drängt.

Das Gedicht handelt vom Verlust nicht nur der Heimat, sondern auch der Kindheit und dem verlorenen Ideal der Kunst. Das Instrument der Kindheit ist verloren, ins Dunkel des Kellers entschwunden, es lässt sich nicht mehr bespielen. Geblieben ist nur die Erinnerung an das schöne Spiel, mehr als das ist, da es das Zuhause in sich trägt. Wo vorher Sternenhände spielten, sogar vier, so dass sie nicht alleine war, und die Mondfrau sang, tanzen heute nur noch klirrend Ratten. Was war, ist zerbrochen, geblieben sind die Tränen der Trauer und die Einsamkeit.

Das Klavier steht gleichzeitig synonym für die deutsche Sprache, welche Else Lasker-Schüler Mittel der Kunst ist, die aber durch die grausame Geschichte entweiht wurde und ihr auszugehen droht im Exil. Zurück bleiben die Trauer über das Zerbrochene, unwiderbringlich Verlorene, und der Wunsch, schon lebend dieser Welt, in welcher ihr die Publikation verboten, sie also nicht nur aus dem Zuhause, sondern auch aus der Sprache vertrieben worden war, in eine bessere Welt, das Jenseits, zu entfliehen.

Bei all der Klage, bei all dem thematisierten Leid liegt doch eine Schönheit in dem Gedicht und damit ein Trost. Die Schönheit überlebt auch die grössten Schrecken, sie ist nicht auszurotten, nicht aus der Welt zu verdammen, nicht zum Schweigen zu bringen. In diesem Sinne schrieb auch der Arzt und Schriftsteller Paul Goldschneider am 12. Juni 1944 in einem Brief aus London an Else Lasker-Schüler:

«Vor mir liegt Ihr Blaues Klavier, und ich trinke seine sternenhellen Akkorde gierig wie ein Verdurstender. Es ist gut zu wissen, daß, was immer Häßliches geschehen mag, Schönheit ist und bleibt. Mir wurde es Trost und Offenbarung und dafür wollte ich Ihnen danken.»