Lieber Papa
Ich blättere mich weiter durch die Seiten des Albums. Ich arbeite mich von Bild zu Bild, stöbere in meiner Vergangenheit. Was mir auffällt: Ich lache kaum je auf den Bildern. Das deckt sich mit meinen Erinnerungen. Doch dann stosse ich auf ein Bild, auf dem ich glücklich aussehe. Ich stehe inmitten einer Schar von Kindern. Alle strecken die Arme zum Himmel, auf den Händen tragen wir einen grossen Drachen. Wir haben ihn, so erinnere ich mich, aus vielen Papieren zusammengesetzt und wollten ihn später fliegen lassen.
Das Bild ist in einem Sommerlager entstanden. Das Spielerlebnis fand jedes Jahr ganz in unserer Nähe statt und ich durfte hin. Zwei Wochen. Es war grossartig.
In der ersten Woche bauten wir in kleinen Gruppen Holzhütten. Das Material dazu, Holzlatten und -stangen gab es vor Ort. Die geübteren Baumeister schafften sogar doppelstöckige Häuser mit Leitern, die in den zweiten Stock führten. In einem Haus, ich erinnere mich genau, bauten wir sogar einen Balkon. Wie stolz wir waren. Unser Haus. Selbst gebaut.
In der zweiten Woche durften wir in diesen Hütten übernachten. Ich auch. Das gab es sonst nie. Ich war glücklich. Das Glück spricht aus dem Bild. Aus meinen Augen. Wie kaum sonst auf anderen Bildern.
Ich weiss noch, wie frei ich mich in diesen zwei Wochen fühlte. Da gehörte ich dazu. Da konnte ich sein, wie ich war. Da konnte ich ausleben, was in mir steckte. Ich konnte wild sein, konnte rennen, lachen, schreien, bauen, spielen. Wenn ich zurückdenke, jetzt beim Schreiben, merke ich, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht gebildet hat. Die Erinnerung bringt das Glück zurück. Wie schön.
Wir hatten grossartige Lagerleiter. Sie waren auch in der Pfadi aktiv. Da kam mir die Idee: Was, wenn ich dieses Sommerglück ins Jahr hineinziehen könnte? Ich wollte in die Pfadi. Jeden Samstag ein Stück Freiheit. Jeden Samstag wieder ein Stück vom Glück erleben. Das stellte ich mir schön vor.
Du hast es verboten. Du wolltest mich am Wochenende zu Hause haben. Das Wochenende gehört der Familie. Hast du gesagt. Mama schwieg. Wie immer. Was immer du geboten, verboten, kritisiert, bestraft hast. Sie schwieg. Und stimmte so zu. Das habe ich ihr übelgenommen. Wieso setzte sie sich nicht mal ein für mich. Wieso kämpfte sie nicht für mich? Gegen dich? Heute denke ich, sie fühlte sich wohl genauso hilflos wie ich. Weil auch sie deine Reaktion fürchtete.
Das zu schreiben fällt mir schwer. Weil du kein böser Mensch warst. Weil du mein Papa bist, den ich liebe.
(„Alles aus Liebe“, XXIV)
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Oh, weh. Erdrückend, diese Geschichten. Ich hoffe, sie sind für Dich befreiend. Big hug.
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Ach weisst du, ich muss mich eigentlich gar nicht befreien. Das Ganze entstand aus dem Impuls heraus, mal meinen Erinnerungen nachzuspüren, die so nicht fassbar waren. Ich begann zu schreiben und schrieb einfach immer weiter. Spannend war die eigene Entwicklung und die sich immer wieder verändernde Sicht über die Zeit hinweg. Ich habe knapp zwei Jahre geschrieben und überarbeitet. Lieben Dank für deine Anteilnahme.
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Ich finde es furchtbar, dass Dein Vater Dir die schönen Erlebnisse mit Gleichaltrigen verboten hat. Gerade nach dem Glück im Sommerlager hast Du wahrscheinlich darunter gelitten. Mich macht die Geschichte traurig und wütend, weil sie mich auch an meinen Vater erinnert. Vielleicht waren beide keine bösen Menschen, aber Herzensgüte und Empathie fehlten ihnen zuweilen, oder?
Meine Vater liebte seine Familie und tyrannisierte sie, weil er dachte, das wäre sein Rolle. Wenn wir nicht so wollten wie er, konnte er sich schnell in eine Wut steigern, die schrecklich war.
Ich habe meinen Vater immer verteidigt, auch als er mich einen Tag vor der ersten schriftlichen Abiturprüfung grün und blau geschlagen hat. „Dein Vater liebt dich so, dass er nicht anders konnte“, war die Erklärung meiner Mutter, die zuschaute, als er mich verprügelte. Diese Erklärung gab ich an meine Freundinnen weiter. Er konnte nichts für seine Wut, ich habe mich so benommen, dass er wütend werden musste. Ich hatte selbst schuld! Die Arbeit hatte ich versemmelt und musste in die „Mündliche“. Immerhin dann doch bestanden.
Ich weiß, warum meine Eltern wurden, was sie waren und kann alles gut nachvollziehen. Schön war es trotzdem nicht immer, auch in meinen Erinnerungen nicht.
Traurig macht es mich manchmal, das ich selbst nicht fähig war, eine liebevolle Partnerschaft zu leben und mir einen astreinen Narzissten aussuchte. Wir passten wunderbar im Negativen zusammen.
Leider haben dann auch unsere Kinder unter uns gelitten.
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Ich verstehe dich so gut. Geschlagen hat mich mein Vater nie, aber doch, vieles tat sehr weh. Das Schweigen. Die Ignoranz. Und doch: Ich verteidigte ihn auch. Immer. Und ja, ich verstehe, dass er war, wie er war. Ich weiss um seinen Schmerz. Um seinen Wunsch. Er machte alles sicher aus Liebe. Er wollte mir nie etwas Böses. Da bin ich mir sehr sicher. Und ja, ich liebte ihn. Weil er eben auch die lieben, guten Seiten hatte. Empathie gehörte sicher nicht zu seinen Stärken, nein.
Traurig ist es, wenn die Geschichte sich wiederholt. Die Erkenntnis hilft vielleicht, das zu durchbrechen.
Alles Liebe dir!
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Kontrolle. Das ging nach hinten los, als ich mit 19 auszog.
Obgleich die nicht sichtbaren Fäden lange blieben, die uns unheilvoll verbanden.
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Ja, manche Fäden haben sich dicht eingewoben.
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