Lesemonat August

Der Monat glich eher einem April als einem August. Nach einer unsäglichen Hitze in strahlendem Sonnenschein, tobten bald schon Unwetter und das Grau in Grau der verregneten Umwelt verschleierte den Blick aus dem Fenster. Immerhin war es das passende Wetter, mich in die Bücher zu versenken, so dass ich teilweise wenig davon mitkriegte. Der Monat war – im Gegensatz zu den meisten anderen – thematisch konzentriert, die gelesenen Bücher behandelten Themen der Politik und der Gesellschaft, sie handelten von Herkunft und deren prägendem Charakter für den Menschen und die Gesellschaft, von Macht und Herrschaft und damit einhergehender Diskriminierung derer, welche nicht den Normen des dominanten Herrschaftsmehrs entsprechen.

Das erste Buch war ein Abgesang an die romantische Liebe, im zweiten sollten wütend Wände eingerissen werden. Danach ging es sachlicher zu und her, Mittel und Wege gegen Klassismus wurden aufgezeigt, die Fremde und ihre Grenzen wurden beleuchtet, das Gefühl der Entfremdung in der Gesellschaft erforscht. Ich befasste mich mit dem Liberalismus, um dann wieder zum Klassismus zurückzukehren. Ich beschäftigte mich mit Bildung und Ungerechtigkeit und der Frage, was das Gute ist. Und dann….

Dann kam das Highlight wohl nicht nur des Augusts, sondern einer langen Lesegeschichte – und es wird nachhallen: Didier Eribons «Rückkehr nach Reims» und dessen Fortsetzung «Gesellschaft als Urteil». Selten, dass mich ein Buch so gepackt hat. Selten, dass ich aus einem Buch so viel mitgenommen, so viel für mich erkannt habe. Selten, dass mich ein Buch so begeistert hat und ich daraus so viel Inspiration für eigene Projekte gewann.

Was waren eure Highlights im August?

Die ganze Liste:

Andrea Newerla: Das Ende des Romantikdiktats. Warum wir Nähe, Beziehungen und Liebe neu denken solltenUnsere Liebesbeziehungen sind nicht Privatsache, sondern soziale Konstrukte, die wir verinnerlicht haben. Die Herausstellung der romantischen Liebesbeziehung ist eine neue, konventionelle Errungenschaft und sie unterliegt patriarchalischen und gesellschaftsrelevanten Normen. Dieses Bewusstsein sollte dazu führen, unsere Beziehungen neu zu denken, Freundschaft einen anderen Stellenwert einzuräumen, Sexualität aus der romantischen Beziehung zu nehmen und Intimität vielfältiger lebbar zu machen, um zu neuen Formen des Miteinanders zu kommen, die Individualität, Autonomie und Gemeinsamkeit besser vereinbaren lassen. Viele Wiederholungen, viele Gemeinplätze und Altbekanntes, wobei ein Aufruf zur Anerkennung vielfältiger Lebensformen und -gestaltungen durchaus wichtig ist. 3
Pia Klemp: Wutschrift. Wände einreissen, anstatt sie hochzugehenEin wichtiges, ein dringendes Thema (soziale, strukturelle und systematische politische Entscheidungen, die Flucht und Migration zu einem menschenunwürdigen und oft tödlichen Unterfangen machen), doch ich musste das Buch abbrechen. Die Sprache ist dermassen mündlich, fast vulgär, dass ich das so nicht lesen möchte. Es ist vielleicht des wirklich brennenden Themas wegen in Wut und Rage geschrieben, was zum Titel passen würde, doch hier verleidet mir die Form den Inhalt und wende mich lieber anderen Büchern zu dem Thema zu. 
Francis Seek, Brigitte Theißl: Solidarisch gegen Klassismus. organisieren, intervenieren, umverteilenKlassismus ist überall, und doch kaum ein Thema. Klassismus grenzt Menschen aus, führt in die Isolation, macht krank. Klassismus muss diskutiert werden, muss sichtbar werden, muss als Problem mit all seinen vielen Ausprägungen bewusst werden. Und wir brauchen Lösungen. 26 Texte, teils sachlich, teils Interviews, teils persönlich aus der Betroffenheit heraus zeigen die verschiedenen Aspekte von Klassismus. Das Ziel ist, das Problem sichtbar zu machen, Projekte vorzustellen, die Lösungen anstreben, Strategien zu erläutern, die wir ergreifen können, um etwas zu verändern.

Ein wichtiges Buch, ein Buch, das Pflichtlektüre werden sollte. 
5
Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginntGedankenräume über erfahrenen Rassismus, Nachdenken über blinde Flecken bei sich und in der Gesellschaft, eine persönliche Lebensreise durch verschiedene Stationen der eigenen Biografie, pendelnd zwischen Spanien und Deutschland, zwischen verschiedenen Identitäten und Zuschreibungen. Ein persönliches, ein augenöffnendes Buch, ein Buch über systemische, strukturelle und individuelle Diskriminierung. 5
Peter v. Zima: Entfremdung. Pathologien der postmodernen GesellschaftEine Untersuchung der verschiedenen Bereiche der Entfremdung wie Arbeit, Familie, Konsum, Psyche, Medien, etc. sowie das Aufzeigen der Verbindung derselben untereinander. Der Mensch in seinem Fremdsein im Umfeld wird beleuchtet, die Rolle von Geld, Tauschwirtschaft und immer grösser Partikularisierung aufgezeigt, welche den Menschen unter einen Leistungsdruck in zunehmender Anonymisierung der Umwelt treiben, so dass er versucht, ein Image aufrechtzuerhalten, um wenigstens auf Bewunderung zu stossen, so dass er (vermeintlich) seinen Selbstwert bewahren kann. Das Kranken der Gesellschaft an immer grösserer Indifferenz, in welcher sich der Einzelne, auf sich selbst zurückgeworfen und als dieser nicht wirklich anerkannt, von sich und der Welt entfremdet.  5
Elif Özem: Was ist Liberalismus?Was macht den Liberalismus aus, auf welchen Grundsätzen beruht er und wie lassen sich die in der Praxis durchsetzen, so dass eine Gesellschaftsform aus freien, gleichen und individuell pluralistischen Bürgern entsteht? Elif Özem diskutiert fundiert und tiefgründig vor dem Hintergrund von Rawls Gerechtigkeitstheorie, Hannah Arendts Ansätzen zum Pluralismus und anderen philosophischen Wegbereitern bis zurück in die Antike die Idee des Liberalismus und zeigt, wieso die liberale Demokratie «die schlechteste Regierungs- und Lebensform – abgesehen von allen anderen» ist. 5
Andreas Kemper, Heike Weinbach: Klassismus. Eine EinführungKlassismus als Begriff für individuelle, institutionelle und kulturelle Diskriminierung und Unterdrückung ist kaum bekannt als Form der Diskriminierung, dabei wirkt sie auf dieselbe Weise auf Menschen und Menschengruppen wie die besser erforschten Formen des Sexismus, Rassismus und anderer. Das Buch will die verschiedenen Formen des Klassismus aufzeigen, will die Stereotypen offenlegen, mit denen Menschen konfrontiert wird und den Blick auf das Unrecht lenken, das zu oft ignoriert wird sowohl von der Politik wie auch von der Gesellschaft. 5
Maria do Mar Castro Vaerla & Bahar Oghalai: Freund*innenschaft. Dreiklang einer politischen PraxisEs soll eine Vermittlung zwischen rechten Strömungen und linker Identitätspolitik sein, doch ich fand sie nicht. Das Thema der Fraundschaft in seiner Abhandlung bei anderen Philosophen, Begriffe wie Allyship und Solidarität oder Sisterhood wurden behandelt und es fehlte schlicht der rote Faden oder das Ziel, wohin das alles führen soll. 2
Meike Sophia Baader, Tatjana Freytag (Hrsg.): Bildung und Ungleichheit in DeutschlandArtikel zum Thema, welche eine Vielzahl an Studien kommentieren und zusammenfassen, Soziologen zitieren, Artikel nennen. Oft bleibt ein wirkliches Fazit aus, die Aussage, dass gewisse Bereiche noch zu wenig erforscht seien, findet sich nicht selten, und wirkliche Umsetzungsvorschläge sucht man vergeblich. So bleibt man mit vielen Fragezeichen zurück und hat keine Ahnung, wozu das Buch nun wirklich gut war. Vielleicht für angehende Bildungssoziologen, die den Stand der aktuellen Forschung kennenlernen wollen, wobei das Buch dazu wohl einen Anhaltspunkt, aber sicher keine abschliessende Antwort liefern kann. 3
Didier Eribon: Rückkehr nach ReimsDie autobiografische Erzählung von Didier Eribon, welcher zu seinen Wurzeln im Arbeitermilieu zurückkehrt, aus dem er für lange Zeit geflohen war – körperlich und geistig. Eribon verwebt autobiografische Erlebnisse mit politischen, soziologischen und psychologischen Erklärungen, er zeichnet das Bild einer Zeit und einer Gesellschaft, erläutert politische Gesinnungen und Gesinnungswechsel, legt eigene Gedanken und Verhaltensmuster offen. Ein kluges, ein tiefes, ein bewegendes, ein wichtiges Buch. Ein Herzensbuch.6 von 5
Iris Murdoch: Die Souveränität des GutenIris Murdoch geht der Frage nach, was das Gute wirklich ist. Sie beruft sich auf Kant, Platon, Kierkegaard, setzt sich von den Existenzialisten ab, indem sie deren Ansatz als zu wenig weit reichend darlegt. Das Gute ist in sich nicht fassbar, doch liegt es allem sonst zugrunde, ist es das, wonach alles strebt, allen voran die Liebe. Das Buch lässt einen roten Faden vermissen, es hat keine abschliessende Antwort, es ist ein Suchen und sich Annähern, dessen letzter Schritt offen bleiben muss. 4
Didier Eribon: Gesellschaft als UrteilDie Fortsetzung zu «Rückkehr nach Reims», eine weitere Innenschau und Analyse der äusseren Verhältnisse, der Klassenkämpfe und anderer Herrschaftskämpfe in der Gesellschaft. Die Aufschlüsselung verschiedener Macht- und Unterdrückungsstrukturen, die Beschreibung der eigenen verinnerlichten Muster und Zwiespältigkeiten, vor allem auch nach Klassenwechseln. Ein weiteres grossartiges Buch, das neben den Bezügen auf das eigene Leben auch vielfältige Verweise zu soziologischen, philosophischen und literarischen Werken macht. 5

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2 Kommentare zu „Lesemonat August

    1. Bei mir füllen Lesen und Schreiben viel des Tages, sie sind Beruf und Lebenssinn, weil sie mich ausmachen. Es ist sicher auch eine Priorisierung dabei, da ich halt schlicht kaum anderes mache. So entgeht mir sicher manch anderes, das andere Menschen tun oder erleben, aber für mich ist das kein Verlust, was es für einen anderen vielleicht wäre.

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