Gedankensplitter: Unverzeihlich?

Ich habe in der letzten Zeit zweimal einen Beitrag über einen Menschen geschrieben, den ich durch einen Vortrag zum Gedenken an den Holocaust für mich neu entdeckt hatte. Wie immer, wenn das passiert, fange ich an nachzuforschen, wer das ist, wie sein Lebensweg war, was er geschrieben hat – und mehrheitlich endet es mit Buchbestellungen und dem Eintauchen in jegliche Form von Beiträgen. Natürlich blieb mir in dem Zusammenhang nicht verborgen, dass dieser Mensch in der Vergangenheit in einen Skandal verwickelt war, der menschlich-moralisch bedenklich war und im Zuge dessen er sich selbst aus der Öffentlichkeit nahm – um nun, doch viele Jahre später, wieder in ebendieser zu erscheinen und zu tun, was er eben kann: Moderieren, diskutieren, schreiben.

Die Reaktionen auf meine zwei Beiträge hätten unterschiedlicher nicht sein können. Von Freude über die Bücher und Gedanken über Neugier, sich selbst damit zu beschäftigen bis hin zur kategorischen Ablehnung war alles dabei. Und: Bei der Ablehnung ging es nicht nur um den betreffenden, dessen Vergehen man als dermassen unvertretbar ansah, dass er besser nie mehr in der Öffentlichkeit hätte erscheinen dürfen. Auf Ewigkeit verdammt in die Schamesecke quasi, wo er sein Sündenbrot (am besten zu spärlich, um satt zu werden) hätte essen dürfen. Man warf mich gleich mit in den Topf, fand «bedenklich» (sic!), dass ich mich einem solchen Menschen (also um ehrlich zu sein mehr seinem Tun) zuwandte.

Und da sitze ich dann und frage mich: Hat nicht jeder Mensch eine zweite Chance verdient? Spricht man nicht sogar bei Schwerverbrechern von Rehabilitation und einer zweiten Chance, sollen sie doch wieder Teil der Gesellschaft werden, aus der man niemanden ausstossen darf? Haben wir nicht im Grundgesetz das Menschenrecht von der unantastbaren Würde? Oder hört die da auf, wo uns ein Mensch in Ungnade gefallen ist?

Ich finde es legitim, wenn man für sich entscheidet, dass man bestimmten Menschen im eigenen Leben keinen Platz einräumt, denn man hat nur das und sollte es sich möglichst passend einrichten. Ich merke aber, dass ich Mühe habe, wenn man andere Menschen abwertet, ausgrenzt, verurteilt, marginalisiert, diskriminiert, nur weil sie den eigenen Massstäben nicht entsprechen. Konsequenterweise müsste man dann aufhören über Ethik und Moral nachzudenken, da man den Wert des Menschen nicht mehr universal betrachtet, sondern nur noch an Bedingungen geknüpft, die eigenen Massstäben entsprechen.

Eine Frage, die sich in dem Zusammenhang aber auch stellt, ist die alte Frage nach Werk und Urheber: Wenn der Urheber sich eines Unrechts schuldig gemacht hat, fällt damit sein Werk auch in Ungnade und ist in der Folge zu ignorieren? Würde uns da nicht sehr viel entgehen? All die Bilder von Caravaggio (ein Mörder), Picasso (Frauenheld), die Gedanken von Kant (Rassist und Frauenverachter), Voltaire (ebenso), Heidegger (Nazisympathisant), etc.?

Wie seht ihr das?


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8 Kommentare zu „Gedankensplitter: Unverzeihlich?

  1. Niemand ist ohne Fehl und Tadel und somit hat niemand das Recht, den ersten Stein zu werfen. Jeder Mensch hat Licht und Schatten in sich vereint, die Moralisiererei dieser Zeit geht mir auf die Nerven. Solange ein Werk nicht vor Menschenverachtung und Zynismus trieft, sollte man es nicht sofort verteufeln oder – wie es heute gerne geschieht – abgeändert neu auflegen.

    Ein guter Kompromiss sind klärende Hinweise ohne inhaltliche Manipulationen, auch wenn selbst das teils lächerlich wirkt, siehe die Ausstrahlung der „Otto-Show“ aus den 70ern zu Ottos Geburtstag neulich.

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  2. Was mich dabei vor allem stört ist, dass es sich dabei oft um Menschen handelt, die selbst keinen Hehl daraus machen, andere Menschen zu verurteilen, abzulehnen, zu verunglimpfen. Sie stellen sich selbst auf eine höhere Stufe. „Ich bin ein guter Mensch – der andere nicht.“ Nein, Vergleice zum Holocaust darf man natürlich nicht ziehen, trotzdem sind manche Menschen mir persönlich ein bisschen zu überzeugt von ihrer eigenen Unfehlbarkeit.

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    1. Ich staune auch oft, wie hoch sich Menschen über andere erheben. Oft auch solche, die sich selbst als sensibel einschätzen und darstellen, die von Menschen unter Menschen und einer friedlichen Welt reden, dann aber selbst solche Ablehnung, Abwertung, solchen Ausschluss praktizieren.

      Man muss Menschen nicht mögen, man muss auch nicht gutheissen, was sie tun/getan haben. Und doch denke ich, ein wenig Grossmut und Grosszügigkeit steht jedem gut zu Gesicht.

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  3. Ich finde ja den Begriff „evidenzbasierte Moral“ spannend (Franz Jedlicka): demnach müsste sich die Wirkung einer Moral auch in sozialwissenschaftlichen Statistiken (z:B. zur Friedlichkeit eines Landes) nachweisen lassen.

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