Politisches: Wir müssen reden!

Kürzlich sprach ich mit einem Freund über das Thema «Klassismus», weil ich gerade ein Buch darüber lese. Als ich von den Erkenntnissen erzählte, die ich bislang hatte, kam sofort: «Das ist ja alles bekannt, was nun?» Und ich merkte, wie mich das verletzte. Ich merkte, wie mit einer solchen Aussage eine Thematik schon fast abgehakt ist, die zwar in den offensichtlichen Teilen wirklich bekannt ist, in den subtilen strukturellen Prägungen aber als normal läuft und tagtäglich praktiziert wird, ohne Thema zu sein. Und wenn etwas nicht Thema ist, immer wieder, fehlt die Sprache der Benennung, vor allem bei den Betroffenen. 

Betroffene erleben dann, wie Zeitungen über die «faulen Arbeitslosen» berichten, wie in den Medien Stereotypen direkt «vom Brennpunkt» plakatiert werden, wie in Schulen die einen schon früh aussortiert werden, weil in ihnen kein Potential gesehen wird und man keine unnötige Liebesmüh verschwenden will. Dass die Eltern der anderen in einem solchen System sich vehement gegen Gesamtschulen aussprechen (alle Volksentscheide in D sprechen die Sprache), liegt auf der Hand, sehen sie doch in den so gesehen Schwachen eine Bremse für ihre ach so aussichtsreichen Kinder. Erhebungen in den verschiedenen Bereichen (Politik, Schule, Journalismus, etc.) zeichnen ein deutliches Bild: Herkunft entscheidet. Die Betroffenen aus sozial schwachen Familien, Migranten – sie alle sind untervertreten und von vielem (auch Wissen um Aufstiegschancen, Möglichkeiten, nützlichen Verbindungen…) ausgeschlossen. 

Nein, es ist nicht alles bekannt. Und vor allem nicht allen. Klassismus ist ein Thema, das wir dringend auf der Agenda haben müssen. Menschen werden diskriminiert und ihrer Chancen und Möglichkeiten beraubt, ihre wirklichen Fähigkeiten zu entdecken und zu verwirklichen. Also reden wir darüber! Immer wieder. Und ja: Suchen wir nach Lösungen und setzen sie um. Utopien brauchen wir, ein Schwanken zwischen Realität und Wunsch, dem die Machbarkeit doch eingeschrieben ist.

Buchempfehlung:

Francis Seek, Brigitte Theißl (Hg.) Solidarisch gegen Klassismus. Organisieren, intervenieren, umverteilen, Unrast Verlag, Münster 2023.


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18 Kommentare zu „Politisches: Wir müssen reden!

  1. Utopien brauchen wir, ein Schwanken zwischen Realität und Wunsch, dem die Machbarkeit doch eingeschrieben ist.

    Ein großes Satz. Wunderbare Worte. Wasser auf meine Mühle.

    Danke für Text und Buchempfehlung liebe Sandra.

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  2. Soziale und wirtschaftliche Unterschiede sind systematisch bedingt und allseits bekannt. Vorurteile, Diskriminierung und Stigmatisierung sind Phänomene, an denen wir alle durch unser Verhalten anderen gegenüber beteiligt sind. Doch darin können wir alle etwas ändern – wir müssen es nur wollen.
    Vielen Dank für, Ihren Beitrag. Meine aktuelle Lektüre:
    Chaterine Liu, Die Tugendpächter Wie sich eine neue KLASSE mit MORAL tarnt und SOLIDARITÄT verrät.

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  3. Und bitte nicht vergessen: Man kann NICHT alles schaffen, wenn man „nur WILL“. Es starten nicht alle auf dem gleichen Level, und nicht alle haben die gleichen Hindernisse.
    Danke für deinen Artikel.
    Morgenkaffeegrüße 🌦️🌳🌼☕🍪

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    1. Das Thema wird wohl vermehrt vorkommen hier und dein Punkt ist ein zentraler, wie ich finde: Das Bild in der Öffentlichkeit. Wer es nicht „schafft“, ist nur zu faul, hat zu wenig getan… nein, das stimmt nicht. Es ist, wie du auch sagst: Manche können nicht, manchen ist der Zutritt verwehrt (auch wenn nach aussen kommuniziert wird, das sei nicht so…), etc. Da muss man hinschauen!

      Grüsse zu dir

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  4. Solange die Gesellschaft national und international als GANZE nach „Klassen“ organisiert ist und die Plätze in den oberen Rängen wenige, bleibt die Forderung nach Chancengleichheit leer. Ein Beispiel: ich kenne etliche Frauen, die zwar ein Philologiestudium erfolgreich absolviert haben, aber seither in allen möglichen Jobs zu überleben versuchen. Eine junge Frau aus unserer Gruppe hat in diesem Jahr schon den sechsten, u.a. Verkäuferin in einem Weinladen, Hilfskraft in einem heilpädagogischen Kindergarten, Büroarbeiten, Mithilfe bei der Organisation eines Ladens… Ein zweimonatiger Job wurde durch das Jobcenter vermittelt, die anderen fand sie selbst.
    Um eine Stelle an einer Schule zu ergattern, muss sie mindestens zehn Jahre warten, es sei denn, sie habe irgendwelche besonderen Benachteiligungen (alleinerziehend, gehandicapt, aus kinderreicher Familie, Vater beim Militärdienst zu Tode gekommen etc) . Hier kehrt sich das Benachteiligungsprinzip gegen die „normalen“ Bewerber um.

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    1. Danke für diesen Aspekt, den ich auch kenne und den ich wichtig finde, ihn zu beleuchten. „Du hast doch studiert, du findest immer was.“ Man hört es oft, es ist in vielen Köpfen, und man kriegt es bei den entsprechenden Menschen kaum durch, dass dem eben nicht ist – schon lange nicht mehr.

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  5. Hallo liebe Sandra,

    Finde ich großartig von dir, wie du allgemein, aber besonders mit Tiefgang verbunden, das Thema des Klassismus entfaltest.

    Insbesondere die Akzente zu den unterschiedlichen Start – oder Weiterbildungsmöglichkeiten sind wesentlich hervorzuheben, so meine ich.
    Ohne Berücksichtigung des Gesamtgefüges, lässt sich die einzelne Situation niemals alleine für sich erklären.

    Dein angegebener Bekannter irrt sowieso, das selbst wiederholtes sprechen mit gleichen Inhalten über selbiges Thema, in jedem ich immer wieder anders wahrgenommen wird.
    Damit es nicht zu theoretisch wird: wenn ich mit einem Menschen spreche, ist es immer wieder ein neues Erlebnis, auch wenn das Thema wiederholt wird. Ihr geht es ja nicht um Endlosschleifen!
    Wenn der angegebene Freund Alles für besprochen oder ausgeführt hält, braucht er nicht mehr weitermachen: das meiste ist bereits gesagt, aber gerade um die feinen und kleinen und gefühlten Akzentuierung in geht es doch! Und im Gespräch auch an der Freude im Miteinander!

    Habe mich auch gefreut, dass das Thema des Klassismus hier viel Anklang findet.

    Liebe Grüße an dich.
    Matthias

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    1. Lieber Matthias, mich freut das Interesse und die vielen Rückmeldungen auch sehr, zumal ich Klassismus als eines der zentralen Themen der Zeit sehe und mich mehr damit befassen werde in Zukunft hier – mit Diskriminierung allgemein, aber mit Klassismus im Besondern auch. Liebe Grüsse, Sandra

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  6. Das ist ein wichtiges Thema, aber ich fühle mich nicht imstande, etwas Substantielles final beizutragen.
    Es gibt viele Hindernisse, vielerart, die Chancen vereiteln.
    Ich schaute heute in weiten Teilen ein Video eines Gesprächs einer Schachspielerin mit einem Interviewer. Schachspielerinnen haben es schwerer als Männer.
    Veränderungsprozesse dauern oft ungemein lange. Auch das gilt es zu bedenken.
    Man muß oft in Jahren, Jahrzehnten, manchmal in Jahrhunderten denken. Nicht nur weil Widerstände herrschen.
    Nur ein Beispiel: Im 19. Jahrhundert hat ein US-Amerikaner vorgebracht, daß Pflanzen über Sinne verfügen. Bis heute ist das gemeinhin nicht anerkannt.

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    1. Das ist (leider) schon so: Strukturelle Ungerechtigkeiten und Diskriminierungskriterien haben sich oft tief eingeschrieben. Gerade drum ist es auch wichtig, die Missstände immer wieder sichtbar zu machen und auch im Kleinen mit Veränderungen anzufangen aus einem wachsenden neuen Bewusstsein heraus. Nur zu sagen, es geht nicht so schnell und nie anzufangen, würde bedeuten, dass es nie geht. Prozesse sind ofr langsam und oft auch mit zwei Schritten nach vorne und einem zurück verbunden.

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  7. Hallo Sandra, mich beschäftigt das Thema „Klassismus“ auch, aber eher in einem Sinne wie in Bourdieus „Die feinen Unterschiede“. Ich habe ein Germanistikstudium abgeschlossen, aber ich komme aus einer Familie, in der die meisten Verwandten Nichtakademiker*Innen sind. Da ich mich weiterbilden möchte, versuche ich seit einiger Zeit Zugang zum „legitimen Geschmack“ und zur Hochkultur zu bekommen. Das ist aber schwieriger als ich gedacht habe. Auch ist es mir nur teilweise gelungen, den Code der Oberschicht zu verstehen.

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    1. Ich kenne das, was du sagst, gut. Ich war die einzige in der ganzen Familie, die ein Gymnasium besucht und studiert hat. Bourdieus Habitus-Theorie kann ich gut nachvollziehen, man sitzt zwischen den Welten, weil man zur einen nicht mehr, zur anderen nicht gehört – so ganz. Man kann sich viel erarbeiten, aber es ist wohl immer anders, wenn man damit aufgewachsen ist.

      Mittlerweile habe ich mich versöhnt mit der Position, zwischen den Stühlen sitzt es sich auch gut. Aber es hat seinen Preis.

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