„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“
So lautet der erste Absatz des ersten Artikels des Deutschen Grundgesetzes. Neu ist der Begriff der Würde nicht, er lässt sich historisch durchaus zurückverfolgen, Was ich hier aber nicht ausführlich tun möchte. Nur noch soviel: In der Aufklärung schrieb der Naturrechtsphilosoph Samuel von Pufendorf:
„Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.“
Er verknüpft die menschliche Würde mit der Vernunft und der (Entscheidungs-)Freiheit, eine Verbindung, die sich auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 findet:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“
Kürzlich hörte ich eine Sendung über Menschenwürde. Im Grundgesetz gilt diese – wir sahen es oben – als unanstastbar und zwar für alle Menschen ohne Unterschied allein aufgrund ihres Mensch-Seins. Ferdinand von Schirach hat diese Unantastbar bezweifelt und ein Buch mit dem Titel „Die Würde des Menschen ist antastbar“ geschrieben, in dem er ausgeführt, sie würde täglich angetastet durch unsere gesellschaftlichen Umstände, welche mehr auf Profit als auf Mitmenschlichkeit ausgerichtet sind.
Die Würde wird oft herbeigeholt, wenn es darum geht, Argumente für etwas zu finden, manchmal für verschiedene Standpunkte. Man denke zum Beispiel an die Sterbehilfe: Beide Seiten argumentieren mit der menschlichen Würde, um ihre Position zu begründen. Und manchmal kommt es mir so vor, als wäre die Würde ebenso ein Konjunktiv wie das entsprechende Verb in der Form: Sie würde schon jedem zukommen, die Würde, aber darum können wir uns gerade nicht kümmern…
In dieser Sendung wurde argumentiert, dass Würde nur bei entsprechenden kognitiven Fähigkeiten verletzt werden könne, da jemand, der eine Erniedrigung nicht als solche empfinde, könne gar nicht verletzt werden. Schlimmer noch: Mangels dieser kognitiven Fähigkeiten und auch der Möglichkeit auf freie (politische) Entscheidungen sprach man Babies und Kleinkindern, zudem entsprechend Behinderten und Dementen Würde ab (was nicht hiess, dass man sie nicht trotzdem gut behandeln müsse). Und ich merkte, wie sich alles in mir sträubte.
Auf den ersten Blick könnte man denken, diese Argumentation stimmt überein mit Pufendorf und in der Menschenrechtserklärung, wo Würde mit Vernunft und freier Entscheidung zusammenfällt. Sich auf Pufendorf zu berufen, wäre in meinen Augen keine hinreichende Begründung für das Absprechen von Würde in der heutigen Zeit. Pufendorf attestiert dem Menschen durchaus Würde aufgrund einer Seele, welche er als vernunftbegabt und zu Entscheidungen fähig sieht. Wenn man allerdings die rassistische und frauenabwertende Sicht der Philosophen der Aufklärung kennt, ist mit einer solchen Begründung wohl auch Schwarzen und Frauen eine entsprechende Seele und damit die Würde abgesprochen worden. In der Menschenrechtserklärung heisst der erste Satz ganz klar:
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Alle. Frei und gleich geboren. Mit Würde und Rechten. Die nachfolgende Beschreibung macht das nicht rückgängig. Sie ist auch nicht als nachträglich einschränkende Bedingung formuliert. Insofern behält der erste Satz seine Gültigkeit. Das muss so sein, denn: Könnte man Würde all denen absprechen, die keine ausgebildete Kognitionsfähigkeit zum Erfassen der eigenen Würde haben, wäre Würde eine reine Zuschreibung. Diese erfolgte aufgrund verschiedener Fähigkeiten und Möglichkeiten und wäre in der Form eher beliebig, da Fähigkeiten und Möglichkeiten in unterschiedlichen Kulturen und zu unterschiedlichen Zeiten verschieden bewertet werden.
Würde hat aber eine tiefere Bedeutung. Würde ist etwas dem Menschen immanentes, das schreibt keiner nach irgendwelchen Kriterien zu. Wir haben uns Wesen gegenüber so zu verhalten, dass ihre ihnen eigene Würde nicht verletzt wird – egal, ob sie von ihrer Würde wissen oder eine Verletzung derselben empfinden (können). Wenn wir Würde von individuellen Befindlichkeiten abhängig machen, siegt die Willkür, was dazu verleiten kann, moralische Pflichten des (eigenen) Verhaltens zu vernachlässigen – man kann sich immer darauf berufen, dass man nicht hätte ahnen können, wie der andere etwas empfindet und sich mit Unabsichtlichkeit herausreden: „Mich würde das nicht stören, man wird ja wohl noch sagen/tun dürfen…“
Ich möchte es vorläufig mit Schiller halten:
„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“
Die Würde steht jedem Menschen zu. Es ist an jedem Einzelnen, Menschen dementsprechend zu behandeln. Menschen verlieren ihre Würde nicht durch fehlende Fähigkeiten oder Möglichkeiten, andere Menschen sprechen sie ihnen ab durch ihr falsches, unwürdiges, entwürdigendes Verhalten – und das tun sie zu Unrecht. Jeder Mensch besitzt eine Würde und wir haben uns Menschen gegenüber so zu verhalten, dass diese gewahrt ist. Weil sie Menschen sind und damit wie wir das Recht darauf haben.
Die Würde des Menschen ist unantasbar, es sei denn, es geht um Geld, dann ist es Auslegungssache, auch beim Staat. Wer seine Würde haben will, muss sich persönlich darum kümmern können. Wer dies nicht kann, muss auf seine Würde verzichten. Dieser Artikel unseres Grundgesetzes wird täglich missbraucht …
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Sehe es genau wie du! Wir haben noch viel zu tun, um eine gerechtere Welt zu erreichen. Nun kann man sagen, das klappt eh nie, lassen wir’s. Und doch bin ich nicht bereit, alles zu schlucken. Zumindest versuchen kann man es.
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Wir beide werden einen Baum pflanzen, egal ob wir das Auswachsen erleben und nur darum geht es liebe Sunny!
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Würde. – Ein schönes Thema.
„Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben,
bewahret sie! Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!“
― Friedrich Schiller
🌱
Die Formulierung seines Zeitgenossen
Immanuel Kant klingt etwas strenger:
„Die Pflicht gegen sich selbst besteht darin,
daß der Mensch die Würde der Menschheit
in seiner eigenen Person bewahre.“
― Immanuel Kant
🌷
Hier noch mein Beitrag zur Menschenwürde:
https://philosophischereplik.home.blog/2022/02/10/menschenwurde/
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Lieben Dank für deine Gedanken!
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Ein sehr anregender Text, vielen Dank. Anregend zum Beispiel Deine Aussage:
Mangels dieser kognitiven Fähigkeiten und auch der Möglichkeit auf freie (politische) Entscheidungen sprach man Babies und Kleinkindern, zudem entsprechend Behinderten und Dementen Würde ab (was nicht hiess, dass man sie nicht trotzdem gut behandeln müsse). Und ich merkte, wie sich alles in mir sträubte.
Keine Ahnung, wer sowas tut oder behauptet. Würde ist nicht etwas, das man hat sondern das man einerseits beanspruchen darf und andererseits etwas, das ich – insofern ich Mensch bin – zu geben habe. Mag sein, dass ein Kleinkind kognitiv nicht fähig ist, Würde zu beanspruchen, aber es sollte doch selbstverständlich sein, dass ich sie auch ihm wie jedem Lebewesen zukommen lasse. Also Frage: Wer ist man?
Ein anderer Gedanke kam mir im Zusammenhang mit folgender Aussage:
Wenn wir Würde von individuellen Befindlichkeiten abhängig machen, siegt die Willkür, was dazu verleiten kann, moralische Pflichten des (eigenen) Verhaltens zu vernachlässigen – man kann sich immer darauf berufen, dass man nicht hätte ahnen können, wie der andere etwas empfindet und sich mit Unabsichtlichkeit herausreden: „Mich würde das nicht stören, man wird ja wohl noch sagen/tun dürfen…“
Es ist möglich, dass ich die Aussage nicht richtig verstehe, nur was hat es mit (Un)Würde zu tun, wenn ich gestehe, dass ich es nicht ahnen konnte, wie der andere etwas empfindet? Das ist doch sozialer Alltag, ehrlich und nichts von „herausreden“. Klar steckt in der Aussage: „Man wird ja wohl noch sagen dürfen…“ eine latente Aggression und es wäre konstruktiver, die Frage zu formulieren: „Darf ich das nicht sagen?“ Und jeder Würdige müsste die Frage wahrscheinlich mit „Doch, das darfst du selbstverständlich“ beantworten.
Ich habe grad vorhin in einem Buch ein Zitat des argentinischen Schriftstellers und Hafenarbeiters Antonio Porchia gelesen:
Meine Stimme sagt mir: „So ist alles“
Und das Echo meiner Stimme sagt mir: „So bist du“
Ein würdevoller Gedanke, wie ich finde.
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Ich danke dir für deine Gedanken und das in der Tat schöne Zitat.
Kann man mit einer Aussage die Würde des anderen verletzen? Ich denke schon. Und ich denke, dass es vor allem in den sozialen Medien auch oft darauf angelegt ist oder zumindest in Kauf genommen.
Nicht zu ahnen, dass man den anderen mit etwas verletzt, mag passieren, je besser man den anderen kennt, desto weniger ist das wohl so. Da stellt sich dann die Frage: Nehme ich das in Kauf oder schweige ich einfach. Die weitere Frage, die sich stellt ist, ob man das Schweigen als Mundkorb versteht, als Behinderung der eigenen Meinungsäusserungsfreiheit. Nur stellt sich da wiederum die Frage, wieso es einem so wichtig ist, etwas Verletzendes sagen zu können.
Gehen wir davon aus, dass man ahnungslos verletzt und der Andere das sagt: Stellt sich dann die Frage, ob man das nicht sagen dürfe, wirklich noch? Dürfen natürlich, wer könnte es verbieten, aber: Sollen? Wirklich wollen im Wissen, dass es verletzt? In meinen Augen erübrigt sich hier jede Nachfrage, man könnte sich höchstens darauf einigen, dass es nicht so intendiert war.
Dies nur meine spontanen Gedanken zu deinem anregenden Kommentar (wofür ich danke).
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Meiner Ansicht nach gilt dieser Artikel des Grundgesetzes ausdrücklich und vor allem für die Wehrlosen – also für Kinder, Kranke, Behinderte. Für die anderen braucht es solch einen Artikel in einem demokratischen Gemeinwesen nicht. Denn als Souverän ist er derjenige, der Gesetzgeber und Exekutive einsetzt und kontrolliert, also für seine eigene Würde einstehen kann und soll. Wenn er es nicht tut, ist es seine eigene Schuld.
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Ich denke, es gibt durchaus diskriminierte Menschen, denen es nicht so leicht fällt (aus verschiedenen Gründen), für ihre Würde einzustehen, weil sie ihnen (strukturell bedingt) nicht zugestanden wird. Ich denke drum, der Artikel ist wichtig und richtig.
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Selbstverständlich, Sandra, wir sind uns da einig. Ich wollte nur meine Ansicht zur Frage, ob Kindern und kognitiv eingeschränkten Menschen Würde zuzusprechen ist , darlegen und sagen: Ja, gerade für sie ist dieser Artikel wichtig, denn sie können ihre Würde, die sie selbstverständlich wie jedes lebendige Wesen haben, nicht selbst verteidigen. Die mündigen Bürger können und sollen dafür Sorge tragen, dass ihre eigene Würde und die Würde der Hilflosen nicht verletzt wird. Sie sind der Souverän, und als solcher müssen sie auch den Staat immer wieder daran erinnern, was seine Pflicht ist: die Würde eines jeden Wesens zu respektieren. Ich möchte den Begriff der Würde übrigens auch auf die Tiere ausweiten.
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Ja, wir sind uns einig – auch mit deinem letzten Punkt.
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gkazakou: „Ich möchte den Begriff der Würde übrigens auch auf die Tiere ausweiten“
Damit sind wir beim Respekt und der
„Ehrfurcht vor dem Leben“ angelangt.
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Samuel von Pufendorf: „Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.“
Samuel: „Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat“
Demnach ist auch jedes Tier „von höchster Würde“.
Denn ohne Seele könnte es ja wohl nicht existieren.
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Samuel: „Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes“
Die Seele soll durch den (lichten?) Verstand ausgezeichnet sein?
Auch die Wasserstoffbombe und andere Auswüchse sind
Ergebnisse dieses Verstandes. Viel Licht sehe ich da nicht.
Der Verstand hat seine praktischen Fähigkeiten,
das Licht… sollten wir besser woanders suchen.
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Samuel: „Der Mensch ist von höchster Würde … durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen“
Das ist ein Steckenpferd des Verstandes, urteilen, beurteilen, verurteilen
und aburteilen zu wollen. Mit Würde hat das eher wenig bis nichts zu tun.
Die Würde ist von Anfang an gegeben – ohne eine bestimmte Fähigkeit.
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Samuel: „Der Mensch ist von höchster Würde … durch die Fähigkeit, … sich frei zu entscheiden“
Kann er (der Mensch) sich denn frei entscheiden?
Gut, er kann Bomben bauen. Können andere nicht.
Hinge die Würde an der vermeintlichen Entscheidungs-
Freiheit, sähe es wohl nicht besonders gut für sie aus.
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Samuel: „Der Mensch ist von höchster Würde, weil er … sich in vielen Künsten auskennt.“
Danach wäre es mit der Würde
des Nirmalo nicht weit her. 😲
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