Svenja Gräfen: Radikale Selbstfürsorge Jetzt!

Eine feministische Perspektive

Inhalt

«Anhaltende Unterdrückung und Diskriminierung wirken sich direkt auf die mentale wie psychische Gesundheit aus – weshalb es bereits eine Form von Widerstand darstellt, sich um genau diese zu kümmern.»

Einfach mal innehalten, durchatmen, zu sich schauen – ist das egoistisch? Müsste man, statt sich Ruhe zu gönnen, nicht besser an forderster Front kämpfen oder zumindest die anstehenden Aufgaben des alltäglichen Seins erfüllen? Svenja Gräfe dachte lange so, kommt nun aber in dem Buch zu dem Schluss: Nein! Gerade in anstrengenden Zeiten ist es wichtig, gut zu sich zu schauen, das eigene Wohlbefinden und die eigene Gesundheit wichtig zu nehmen.

Sie geht sogar noch weiter: Es ist sogar ein feministischer Akt, Selbstfürsorge zu praktizieren, denn man distanziert sich damit von all den Erwartungshaltungen und Rollenzuschreibungen des ständig genügen Müssens, des immer im Einsatz sein Sollens.

Weitere Betrachtungen

«Für Menschen, die von Diskriminierung und struktureller Gewalt betroffen sind, geht es also darum, die eigene Widerstandsfähigkeit zu bewahren und zu stärken»

Kämpfen ist anstrengend, vor allem, wenn man denkt, an allen Fronten kämpfen zu müssen. Genau das passiert Menschen, die unterdrückt werden, wenn sie sich das nicht einfach gefallen lassen wollen und können, sondern aufstehen und aufbegehren. Dass diese Anstrengungen Kraft kosten, liegt auf der Hand. Umso wichtiger ist es, zu den eigenen Kräften zu schauen, damit sie ausreichen für den Kampf und dieser nicht auf Kosten der Gesundheit ausgefochten wird.

«Denn ironischerweise funktionieren wir in unserer Gesellschaft genau dann ‘absolut richtig’, wenn wir uns an diesen Apell halten. und uns bemühen, uns auch ja nichts anmerken zu lassen von unseren Gefühlen und einfach so weiterzumachen, als wäre nichts.»

Oft denkt man, man sei schwach, wenn man Ruhe braucht, mal nicht funktioniert, wie andere es erwarten. Und Schwäche ist das letzte, das man zeigen will, man müsste sich schämen. Genau darauf bauen viele Systeme, die Menschen ausnutzen: Sie rechnen damit, dass sie Menschen bis ans Limit und darüber bringen, sie förmlich ausquetschen können. Sich das nicht gefallen zu lassen, ist eine Form des Widerstands. Er zeugt von Stärke, nicht von Schwäche.

«Aber wir funktionieren eben innerhalb eines Systems, das uns ausbeutet, in dem Kapital und Profit einen höheren Stellenwert haben als das Wohlergehen der Menschen und das deswegen auch zutiefst ableistisch ist. Der Wert der Person wird an ihrer körperlichen und intellektuellen Leistungsfähigkeit festgemacht, an ihrer psychischen Immunität.»

Es gilt also, die systemischen Mechanismen zu durchbrechen, ein realistischeres Menschenbild zu schaffen, eines, das davon lebt, dass Menschen nicht Rädchen im System und Objekte des Marktes sind, sondern Wesen mit Rechten und Bedürfnissen.

Leider fehlen dann doch wirkliche Strategien oder Tipps, das Ganze kommt in ziemlich bekannten Lebensweisheiten und einer oft sehr flapsigen, für mich etwas zu schnoddrigen Sprache daher. Trotz alledem ist das Thema wichtig, dass das Bewusstsein darauf gelenkt wird, nötig.

Persönlicher Bezug

«Dich mit deinen Bedürfnissen zu befassen. Dich um dich selbst zu kümmern. Das bedeutet nämlich in erster Linie, dass du dir selbst Raum zugestehst, der dir von der Gesellschaft nicht unbedingt auf dem Silbertablett serviert wird. Schon ihn dir einfach zu nehmen, kann eine Form von Protest sein. Kann feministische Praxis sein.»

Jede alleinerziehende Mutter kennt es wohl, dass man einfach funktionieren muss. Da ist keiner, der dir etwas abnimmt, es hilft nichts, wenn du krank bist, es muss alles weiterlaufen wie immer. Ich habe das perfektioniert, ich war nie krank und wenn, zeigte ich es nicht. Ich funktionierte wie das sprichwörtliche Rädchen im System mit Kind, mehreren Jobs und Studium. Dass das nicht gesund war, ist keine Frage.

Ich bin schon früh damit aufgewachsen, dass man Erwartungen erfüllen muss, um nicht unterzugehen. Ich hörte immer, dass ich keine Schwäche zeigen dürfe, das wolle keiner sehen, das interessiere «im wirklichen Leben» nicht – also galt das schon als Kind, schliesslich musste ich ja vorbereitet werden. Ich hörte auch oft, was sich für ein Mädchen gehört und was nicht, wo ich nicht ins normale Rollenbild passte und dergleichen mehr. Selbstfürsorge befand sich nicht in meinem Wortschatz und damit auch nicht im Handlungsrepertoire. Der Preis ist zu hoch.

Wenn wir etwas an diesen Strukturen und Rollenbildern ändern wollen, müssen wir darauf aufmerksam machen. Nur wenn die Missstände im Bewusstsein sind, man Worte dafür hat, was falsch läuft, und Strategien, wie man all das durchbrechen kann, wird etwas ändern.

Fazit
Ein wichtiges Thema für all die, welche sich in den alltäglichen Kämpfen des Alltags zu schnell selber vergessen und über ihre Grenzen gehen. Locker und leicht lesbar geschrieben, allerdings ohne wirkliche Hinweise auf konkrete Veränderungsmöglichkeiten. Empfehlenswert.

Autorin
Svenja Gräfen, geboren 1990, lebt in Leipzig und ist Autorin für Prosa, Essays und Drehbücher. Sie veröffentlichte bisher zwei Romane, »Das Rauschen in unseren Köpfen« und »Freiraum«, sowie Texte in diversen Anthologien und Literaturzeitschriften. Für ihr Schreiben hat sie bereits zahlreiche Stipendien erhalten. 2018 wurde sie zum Klagenfurter Literaturkurs eingeladen und war Alfred-Döblin-Stipendiatin der Akademie der Künste Berlin. 2019 war sie Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses. Sie leitet außerdem Schreibkurse und arbeitet als freiberufliche Redakteurin, Lektorin und Kreativberaterin.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ Eden Books – ein Verlag der Edel Verlagsgruppe; 1. Edition (8. April 2021)
Taschenbuch: 200 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3959103329

Zu kaufen in jeder Buchhandlung vor Ort und online u. a. bei AMAZON.DE und ORELLFUESSLI.CH

4 Kommentare zu „Svenja Gräfen: Radikale Selbstfürsorge Jetzt!

  1. Vielen Dank für den Einblick ins Buch und in Deine Gedanken. Mir scheint der Titel schon ziemlich reisserisch. Ich glaube, dass Radikalität auf keinen Seiten eine Lösung sein kann. Und so wie Du schreibst, sehe ich auch keine Radikalität, genau so wenig, wie ich die Forderungen des Buches in eine feministische Perspektive einordnen kann. Sie treffen auf mich, mein Verhalten und meine Intentionen genau so zu. Gut, ich muss auch gestehen, dass mich viele feministische Forderungen überfordern, weil ich sie oft nicht nur als feministische Anliegen sehe oder sie z.T. übertrieben finde. Passe ich damit ins Bild des alten weissen Mannes? Aber dass alle Menschen auf Selbstfürsorge achten, kann ich nur unterstützen.

    Gefällt 1 Person

    1. Der „alte weisse Mann“ ist ja eher ein Narrativ, ein kultureller Vertreter einer Haltung in unserer Gesellschaft, der von sich annimmt, dominant zu sein ökonomisch, als Verteter seines Geschlechts und der daraus resultierenden Vorzüge. Es gibt sie sicher, bewusst und unbewusst, Männer, die denken, sie wissen die Dinge besser, weil XXX und die dann (bevorzugt) Frauen davon zu überzeugen versuchen. Sie stehen in einer Struktur und sind in einem System erwachsen geworden, welches diese Sicht unterstützt hat, um das System als System von Männern am Laufen zu lassen.

      Ich sehe den feministischen Impetus dieses Aufrufs für Selbstfürsorge auch nicht, sehe den aber bei vielen nicht, da ich immer noch davon ausgehe (naiv, idealistisch?), dass wir nicht um Geschlechter, Rassen, Klassen kämpfen müssen, sondern um das Menschsein eines Jeden mit seinen Eigenheiten, die er als gleichberechtigte Eigenheiten neben denen seiner Mitmenschen haben darf und soll.

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  2. Svenja Gräfen: „Radikale Selbstfürsorge…“

    Das klingt ein wenig grob, herrisch.

    Selbst der Begriff „Selbstfürsorge“ klingt
    nach Amt, irgendwie technisch, kantig.

    Gemeint ist vermutlich „Wohlwollen“, ein
    wohl-meinendes Umgehen mit sich selbst.

    ❄️

    Sandra: „Müsste man, statt sich Ruhe zu gönnen, nicht besser an forderster Front kämpfen oder zumindest die anstehenden Aufgaben des alltäglichen Seins erfüllen?“

    Wenn man sich als Krieger sieht, muß man
    das so machen, dann muß man kämpfen.

    Weiblichkeit hat viele andere
    Möglichkeiten des Ausdrucks.

    ❄️

    Zitat: „Es ist sogar ein feministischer Akt, Selbstfürsorge zu praktizieren, denn man distanziert sich damit von all den Erwartungshaltungen und Rollenzuschreibungen des ständig genügen Müssens, des immer im Einsatz sein Sollens.“

    Wer möchte, kann mal für einen Moment
    -fürsorge gegen -befriedigung tauschen. 😉

    ❄️

    Svenja: „…kann eine Form von Protest sein. Kann feministische Praxis sein“

    Feministische Praxis und ein emanzipiertes Leben feiern… schließen sich aus. Erstere setzt Widerstand voraus, Gegnerschaft, andauernden Kampf.

    Protest geht von unten nach oben,
    Souveränität… ist auf Augenhöhe.

    ❄️

    Zitat: „ein feministischer Akt…“

    Feminismus oder Emanzipation?
    Sie sind nicht das Selbe.

    Es heißt, das Wort „Emanzipation“ stamme vom lateinischen Wort emancipatio ab: Der „Entlassung des Sohnes aus der väterlichen Gewalt“ oder der „Freilassung eines Sklaven“.

    Emanzipation ist nicht Sache nur eines Geschlechts, sondern die andauernde Bereitschaft, die persönliche Freizügigkeit in möglichst vielen Bereichen, so weit wie erforderlich zu erweitern und zu bewahren.

    Eine Voraussetzung ist die geistige Souveränität,
    ist die Nutzung des unabhängigen, selbständigen,
    ungesteuerten, freien Denkens und Wahrnehmens.

    Die Emanzipation kommt ohne Kampf aus;
    sie hat eher mit dem Erkennen der eigenen
    inneren Stärke zu tun.

    Gefällt 1 Person

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