Wer liest, sollte liebevoll auf Einzelheiten achten. Gegen den Mondschein der Verallgemeinerung ist nichts einzuwenden, vorausgesetzt, er zeigt sich, nachdem die sonnigen Kleinigkeiten des Buchs liebevoll zusammengetragen wurden. Wer mit einer fertigen Verallgemeinerung an ein Buch herangeht, beginnt am falschen Ende und bewegt sich von ihm fort, bevor er angefangen hat, es zu verstehen.
Literatur lesen bedeutet für Nabokov, mit Liebe an ein Werk heranzugehen und zuerst unbedarft und ohne Erwartungen aufzunehmen, was das Buch einem bietet. Nur so sei es möglich, die neuen Welten, die in einem Werk drin stecken, zu erfassen, sie zu erleben. Jede vorgefasste Meinung über ein Buch und Erwartung daraus stellt nach Nabokov einerseits eine Ungerechtigkeit dem Autor gegenüber dar und nimmt einem andererseits die wahre Freude an dem Buch, weil man sie so nie auf das Buch selber einlässt.
Wir sollten immer daran denken, dass mit jedem Kunstwerk, ausnahmslos, eine neue Welt erschaffen wird und diese stets als erstes so gründlich wie möglich erforschen, uns ihr als etwas völlig Neuem nähern, als einer Sache, die keine offensichtliche Verbindung mit den uns bereits bekannten Welten hat.
Romane sind so gesehen immer Märchen, sie stellen nie die Wirklichkeit dar, sondern sind erfundene Geschichten in erfundenen Welten. Dabei liefert immer die Realität den Rohstoff, aus denen man die Kunst schafft, die uns am Schluss als Roman entgegen tritt. Um dies zu erfassen, muss auch der Leser Eigenschaften mitbringen, die es ihm möglich machen, so zu lesen, dass sich die neuen Welten eröffnen.
Selbstverständlich ist ein guter Leser, wie Sie es sich schon gedacht haben, jemand, der über Vorstellungskraft, ein Gedächtnis, ein Wörterbuch und eine gewisse künstlerische Einfühlungsgabe verfügt.
Nachdem Vladimir Nabokov diese Grundzüge des Lesens und Lesers geklärt hat, geht er über, grosse Werke der europäischen Literatur auf diese Weise zu durchleuchten. Er zeigt, wie in Jane Austens Mansfield Park die einzelnen Personen eingeführt werden, wie man nach und nach in die Welt eintaucht, die Jane Austen zeichnet. Er analysiert den Aufbau, die Einleitungen von Szenen, die Darstellung von Gefühlen, die Beschreibung von Situationen, weist auf Austens Stilmittel hin. Neben aller wohlwollenden Liebe zu dem Werk zeigt er auch auf dessen Schwachstellen, die sich besonders am Schluss zeigen, indem er der Autorin einen gewissen Überdruss am eigenen Werk zuschreibt, welchen er an der zerfasernden Struktur desselben festmacht.
Als nächstes Wendet sich Nabokov Dickens zu, setzt das Leseerlebnis bildlich von dessen Bleakhaus in Beziehung zu dem des Mansfield Parks. Wieder sticht er in die Tiefe des Werkes, beleuchtet die Kernmotive, analysiert sie und zeigt ihren Gang durch den Roman. Er beleuchtet die Beziehungen der Figuren untereinander, zeigt, wie diese lebendig wirken und geht auf so manches Detail der Dickenschen Romanschreibung ein. Ebenso verfährt er mit Flauberts Madame Bovary, Stevensons Dr. Jeckyll und Mr. Hyde und Kafkas Verwandlung.
Doch wieso soll man überhaupt lesen, vor allem in Anbetracht der Umstände, die das reale Leben mit sich bringen? Lesen wird, so Nabokov, nicht helfen, das Leben zu meistern oder mit seinen Umständen besser zurecht zu kommen. Es kann aber, wenn es auf die richtige Weise und mit Liebe zum Kunstwerk geschieht, ein gutes Gefühl und eine Befriedigung über einen bringen, so dass es im Leben nicht nur Widrigkeiten, sondern auch Vollkommenheit und Inspiration gibt.
In einem zweiten Teil wendet sich Vladimir Nabokov Meisterwerken der russischen Literatur zu, er spricht über Gogols Der Mantel, Tolstois Anna Karenina und Tschechows Die Dame mit dem Hündchen. Auch ein Kapitel über Dostojewski findet sich, zu dem er sich eine eigentümliche und schwierige Haltung attestiert. Er sieht in schwanken zwischen brillantem Humor und literarischen Plattheiten. Dass Nabokovs Verhältnis zur Literatur Dostojewskis gespalten ist, zieht sich durch den ganzen Text, der sich stark auf die Schwächen des Schreibens konzentriert und diese auch gut belegt. Trotz alledem hat er ihn seine Auswahl der russischen Meisterwerke aufgenommen, dies wohl eher wegen der begeisterten Rezeption als wegen des in seinen Augen mangelhaften literarischen Werts.
Aus Nabokov spricht eine grosse Liebe zur und Kenntnis der Literatur. Diese Liebe geht beim Lesen dieses Werkes auf einen über, man möchte hingehen und alle vorgestellten Bücher nochmals lesen, sie noch genauer lesen.
Fazit:
Ein wunderbares Buch über die Liebe zum Lesen. Sehr empfehlenswert.
Zum Autor
Vladimir Nabokov
Vladimir Nabokov wurde am 22. April 1899 in St. Petersburg als Kind einer russischen Adelsfamilie geboren. Er kam wegen seines westlich orientierten Vaters schon als Kind in Kontakt mit der Weltliteratur, sprach französisch und englisch. Bereits mit 17 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Gedichtband. Das politische Engagement des Vaters bringt diesem verschiedene Inhaftierungen und führt schliesslich zur Flucht nach London. Nabokov studiert an der Universität Cambridge Romanistik und Russische Literatur und zieht nach dem Studium nach Berlin. Er publiziert unter dem Pseudonym V. Sirin, kann aber nicht leben von der Literatur und hält sich mit Tennis- und Boxunterricht über Wasser. 1937 folgt die Emigration nach Paris, 1940 die Flucht in die USA, wo er als Kurator des zoologischen Museums an der Harvard University arbeitet und wissenschaftlich schreibt. 1948-1958 hat er eine Professur für russische und europäische Literatur an der Cornell Universität inne. 1955 erscheint sein Roman Lolita, der für Aufruhr sorgte, aber grosse Erfolge einfuhr. Er kann in der Folge vom Schreiben leben. 1961 folgt die Übersiedlung in die Schweiz, nach Montreux, wo er 1977 stirbt. Werke Nabokovs sind unter anderem Die Mutprobe (1932), Verzweiflung (1934), Lolita (1955), Ada oder das Verlangen (1969).

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 253 Seiten
Verlag: Fischer Taschenbuch Verlag (Juli 2010)
Übersetzung aus dem Englischen: Karl A. Klewer
ISBN: 978-3596902804
Preis: EUR 12/ CHF 17.90
Vladimir: „Selbstverständlich ist ein guter Leser, wie Sie es sich schon gedacht haben, jemand, der über Vorstellungskraft, ein Gedächtnis, ein Wörterbuch und eine gewisse künstlerische Einfühlungsgabe verfügt.“
Damit allein können Weisheit und
Schönheit… nicht erkannt werden.
Ein guter Leser…
Hier geht es nicht um den Leser, sondern um einige seiner Eigenschaften, um Fähigkeiten.
Idealerweise sollte er Unterscheidungsvermögen mitbringen und einen Sinn Wahrheit und Wahrhaftigkeit.
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Sandra: „Romane sind … immer Märchen, sie stellen nie die Wirklichkeit dar, sondern sind erfundene Geschichten in erfundenen Welten.“
Das ist wahr.
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Sandra: „wieso soll man überhaupt lesen“
Ich selber lese nahezu gar nicht.
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Vladimir: „Wir sollten immer daran denken, dass mit jedem Kunstwerk, ausnahmslos, eine neue Welt erschaffen wird“
Das ist nicht zutreffend, Vladimir. Mit keinem Buch der Welt wird „eine neue Welt erschaffen“. Lauten muß der Satz:
„Wir sollten immer daran denken, dass mit jedem Menschen, ausnahmslos, eine neue Welt erschaffen wird.“ ― Das ist die Wahrheit.
Acht Milliarden Menschen = ebenso viele Welten. Und keine ist einer anderen gleich.
Mit Büchern werden bloß Sichtweisen, Phantasiewelten, Perspektiven verbreitend geteilt.
Bücher sind nicht an sich gut.
– Es kommt auf den Geist an.
Maßgebend ist einerseits die Reife des
Autors und andererseits die des Lesers.
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Sandra: „die Liebe zum Lesen“
• Die Liebe zum Lesen
• Die Liebe zur Weisheit.
Welche Neigung bietet den größeren Wert?
Die Liebe zur Weisheit oder die zur Wahrheit ermöglicht uns doch überhaupt erst, die Spreu vom Weizen zu trennen.
Phantasmen haben nur Unterhaltungs- und Ablenkungswert.
Nicht solche Literatur, die den Geist einlullt, ist wirklich von Wert, sondern eine, die die Kapazität in sich birgt, den Geist des Menschen zu erweitern, zu erheben, aufzuwecken.
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Freudige Weihnachten! 🎄
…wünscht Nirmalo
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Weihnachten sind vorbei, dir eine gute Endjahreswoche.
Ich kann zu diesem wie zu vielen deiner Kommentare wenig sagen, nur danken, dass du deine Gedanken teilst. Für mich klingen sie immer als absolute Wahrheit gesetzt. Das mag nicht so gemeint sein, das weiss ich nicht, aber klingen tut es so und damit kann ich wenig anfangen, da mir die Dialogbereitschaft nicht gegeben scheint.
So nehme ich sie als deine Gedanken, die ich spannend finde.
Liebe Grüsse
Sandra (wie du heisst, weiss ich leider nicht, was auch irgendwo eine Ungleichheit herstellt)
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Hi Sandra,
dazu kann ich wenig bis fast gar nichts sagen, weil die Art, wie und warum ich auf ein Text-Element antworte, vom Impuls abhängt, der mir die Energie dafür liefert, der mich bewegt, zu antworten.
Ohne Impuls – keine Antwort.
Ich kann auch sagen, daß mich ein Satz
oder ein Absatz inspiriert, zu antworten.
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Hallo Sandra,
danke für die guten Wünsche.
🎄
Zitat: „wie du heisst, weiss ich leider nicht“
Wieso nicht?
▶ Nirmalo ◀
Meine Freunde nennen und meine Briefträger kennen
mich so. Der Vorname (sanskrit) bedeutet „Unschuld“.
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Wer ohne Schuld sei, werfe den ersten Stein … interessant, aber ich kenne das aus früheren Umfeldern, in welchen auch oft Sanskritnamen übernommen wurden. Das hat wohl für jeden eine andere Bedeutung, zumindest habe ich von vielen solchen erfahren. Irgendwie hat es für mich doch immer etwas von einer Maske, einem Schutzschild, hinter dem man sich versteckt. Zwar gibt man auch etwas preis, durchaus, es sind wohl verschiedene Deutungen und Beweggründe vorhanden.
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Sandra: „Wer ohne Schuld sei, werfe den ersten Stein“
Nicht überall wo „Unschuld“ draufsteht,
steckt auch ein Steinewerfer drin. 🌾
💥
Sandra: „hat es für mich doch immer etwas von einer Maske, einem Schutzschild“
Vielleicht solltest du dich mal um einen
Sanskrit-Namen für dich kümmern. 😉
Übrigens darfst du mich gerne beim Namen nennen.
Noch einen schönen
Weihnachts-Sonntag
wünscht Nirmalo
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Ergänzung zu meiner Art zu antworten…
Niemand kann mehr… als sein Bestes
geben. Immerhin das können wir alle.
Das ist auch mein (anstrengungsloses) Bestreben.
Und das Schreiben macht mir Freude. Das heißt, es ist
permanent eine unterschwellige Heiterkeit gegenwärtig.
Ich sage das, weil es durch den Text
vielleicht nicht immer bemerkbar ist.
Schönen Tag! 🌿
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Dem kann ich nur zustimmen. Das verbindet uns, die Freude am Schreiben.
Auch dir einen schönen Tag!
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