Inhalt
«Schleichend verfestigte sich ein Selbstbild, gegen das ich nicht ankam, weil ich den Zuschreibungen von aussen nichts mehr entgegensetzen konnte. Ein Selbstbild, das nicht nur sagte: Ich kann nichts, sondern auch: Ich bin nichts.»
Am Rande des Ruhrgebiets wächst Anfang der neunziger Jahre ein Mädchen auf. Es ist eine Kindheit, wie man sie keinem Kind wünscht: Ein gewalttätiger Stiefvater, Ausgrenzungen in der Schule und Alltagsrassismus prägen ihr Leben. Während sie heranwächst, fühlt sie sich immer kleiner, rechnet immer und überall mit Gefahren. Als sich plötzlich ein Mann ernsthaft für sie interessiert, übersieht sie die Alarmzeichen, begibt sich in eine Beziehung, die bald zum Gefängnis wird. Und wieder prägen Gewalt und Herabsetzungen ihren Alltag. Sie weiss nur eines: Sie muss einen Ausweg finden, denn sonst wird sie das alles nicht überleben.
Weitere Betrachtungen
«Meine Oma, mein Onkel und meine Tante, mein Cousin und meine Cousine, wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Wenn sie mir das Gefühl gaben, anders zu sein, dann nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil sie es nicht besser wussten. Oft war ihr Vergalten eine Strategie, um mit den eigenen Kränkungen umzugehen, die das Leben bereithielt.»
Jasmina Kuhnke erzählt einerseits eine Geschichte, andererseits deutet sie auf gesellschaftliche Strukturen. Sie zeigt auf, wie Menschen mit anderen Menschen umgehen, wenn die nicht ihrer Norm entsprechen. Die Schwarze Hautfarbe ist dabei ein deutlich sichtbares Zeichen für eine Abweichung derselben, der Umgang damit vielfältig, im besten Falle gut gemeint oder schlecht durchdacht, im schlimmsten Fall ausgeprägter und verachtender Rassismus. Während der zweite offensichtlich ist, sind es die anderen Formen nicht. Das macht sie umso gefährlicher, weil sie unter der Oberfläche ein Milieu bereiten, auf welchem der Rest wachsen kann.
«Das Gefühl, richtig zu sein, wie ich war, ist mir schon als Kind abhanden gekommen. Als Teenagerin richtete ich mich nur darin ein, falsch im Leben zu sein.»
Wenn man von klein auf spürt, dass man anders ist, richtet das etwas mit einem an: Sich nicht dazugehörig zu fühlen gibt das Gefühl der Einsamkeit, des Alleingelassenseins in einer Welt, in welcher die anderen nicht nur zusammenstehen, sondern sich als solche Gemeinschaft auch noch gegen einen richten. Es ist schwer, wenn nicht fast unmöglich, in einem solchen Umfeld ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen, das hilft, das Unrecht, das einem widerfährt, tatkräftig zu bekämpfen. Einerseits ist die Angst, alles noch schlimmer zu machen, wohl gross, andererseits herrscht wohl auch das Gefühl vor, dass einem das nicht zusteht.
Jasmina Kuhnke ist ein eindringliches Buch gelungen, ein Buch, das berührt, erschüttert, aufrüttelt. Es ist ein Buch, das aufzeigt, was man in einem Leben als weisser Mensch nicht mal erahnen kann. Es ist dem Buch und der Menschheit zu wünschen, dass sich viele davon bewegen lassen, genauer hinzuschauen und Teil einer Veränderung werden zu wollen.
Beim Lesen des Buches passierte es leicht, die Protagonistin mit der Autorin gleichzusetzen. Zwar weiss man als professioneller Leser, dass man dies nicht tun sollte, selbst wenn die Geschichte in der Ich-Form erzählt wird, und doch fiel die Trennung bei dem Buch schwer. Und da liegt ein mögliches Problem: Die Geschichte ist in gewissen Details sehr extrem, weit weg von dem, was wohl viele der Leser selbst erfahren haben. Ist das Buch wirklich «nur» Roman, stellt sich die Frage, was Übertreibung, was wirkliche Realität ist. Das ist bei anderen Büchern unproblematischer, bei der Behandlung eines so aktuellen und brennenden Themas stellen sich mehr Fragen.
Die verwendete Sprache ist wenig literarisch, sondern oft sehr hart und teilweise vulgär. Das mag vor allem am Anfang durchaus zum Inhalt und dem sozialen Milieu der Geschichte passen, wirkt manchmal aber als zuviel und erscheint gegen den Schluss mit der Entwicklung der Protagonistin immer unpassender. Man hätte erwartet, dass sich die Sprache an die Entwicklung anpasst. Störend wirkten sehr viele Wiederholungen. Ein Lektorat hätte diese streichen müssen, um den Erzählfluss weniger zu stören.
Persönlicher Bezug
«Ohne den Druck, sich Gedanken darüber zu machen, was die Gesellschaft von mir hält, war ich frei. Sie hat mich eh nie als vollwertiges Mitglied betrachtet. Nun gibt es keine Zwänge mehr. Keine Anspruchshaltung oder die Angst vor Verurteilung. ich weiss, es liegt nicht in meiner Hand, ob man mich respektiert. Ich muss anfangen, mich selbst zu respektieren, und mein Selbstwertgefühl nicht weiter von aussen bestimmen zu lassen.»
Sätze wie dieser machen das Buch für mich zu einer Entdeckung. Nicht dass die Botschaft neu wäre, nur wirkt sie im Kontext dieser Geschichte nochmals deutlicher. Ich kenne von mir selbst das Gefühl (wenn auch zum Glück aus anderen Gründen und mit weniger dramatischen Auswirkungen), nicht dazuzugehören, in meinem Sein und Denken und Tun nicht der sich als normal setzenden Gesellschaftsmehrheit zu entsprechen. Auch ich habe schon gelitten unter Unverständnis, Spott, Ablehnung oder zumindest Ignoranz. Zu sehen, wie ein Mensch nach so vielen Rückschlägen, Tiefpunkten auf- und hinsteht, ist beeindruckend und macht Mut.
Fazit
Rassismus und soziale Ungerechtigkeit – wichtige Themen erzählt in der eindrücklichen und bedrückenden Geschichte einer Frau, die gegen Gewalt und Diskriminierung kämpfen und ihren Platz in einer ihr feindlich gesinnten Welt finden muss. Empfehlenswert!
Autorin
Jasmina Kuhnke wurde 1982 in Hagen geboren. Sie arbeitet als TV-Autorin und Kolumnistin für ein Satire Magazin. Jasmina lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Köln. Sie engagiert sich in der Öffentlichkeit unter ihrem Künstlernamen Quattromilf – „Mom I´d like to follow“ gegen Rassismus und Diskriminierung.
Angaben zum Buch
Herausgeber: Rowohlt Buchverlag; 3. Edition (19. Oktober 2021)
Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3498002541
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In einem Buchladen hätte ich dieses Buch wohl übersehen, nicht beachtet oder aber ich hätte das Genre vorzeitig gewechselt; in diesem Blog lese ich Buchrezensionen gerne bis zum Schluss. Die Buchautorin lebt in Köln, und so stelle ich mir vor, wie das Zusammenleben in der Stadt meines Lieblingsautors, Heinrich Böll, dort heutzutage aussieht.
Was mich antreibt, hier einen kurzen Gedanken einzuspeisen, ist ein wissenschaftliches Buch, geschrieben von amerikanischen Akademikern und verlegt vom Schweizer Verlag „rüffer & rub“ mit dem Titel „Realizing The Right To Health“, welches die Frage der Rasse so beleuchtet: „We are all Africans under the skin“, und „race is only skin deep“ und weiter: „there is nothing scientific about race: No genes of any sort pattern along racial lines.“.
Der Artikel war so aufweckend erhellend, dass ich augenblicklich meine Meinung bezüglich Rassismus adaptierte und neu auszuloten im Begriffe war, als ich noch das Folgende las: „Race is a social concept, not a scientific one. We all evolved in the last 100’000 years from the same small number of tribes that migrated out of Africa and colonized the world.“
Eines ist sonnenklar: Die Genetiker verdienen ein Lob dafür, dass sie mit der wissenschaftlichen Forschung die Findungen in den Genen so präsentieren, dass die Antirassismus-Nachricht definitiv platziert ist: Rassismus gibt es nicht (mehr)!
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Danke für deinen Kommentar. Ich muss und musste auch einiges revidieren durch die intensive Auseinandersetzung mit dem Thema. Bei einigen Punkten schwanke ich noch. Ich lese weiter. Wir sind bei so vielen Dingen nicht bewusst, was wir tun. Ich möchte das ändern.
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Vielen Dank für den interessanten Einblick in dieses Buch. Wenn ich es nicht lese, so deshalb, weil mir dieser Umgang mit „Ausgestossenen“ und „Nichtdazugehörenden“ zwar bekannt ist, aber auch zu viel wird, auch wenn die hohe Dramatik des Romans betroffen machen mag. Ich glaube, dass jeder Mensch (frei nach Adler) sich mit seinen Minderwertigkeitsgefühlen beschäftigen muss. Mich würden Geschichten oder Romane interessieren, die den erfolgreichen Umgang damit zeigen. Wie gelingt es, Rassismus, Diskriminierung, Ausgeschlossenwerden etc erfolgreich zu meistern ohne sich zur Wehr setzen zu müssen. Was für Instrumente gibt es, um solchen Verhaltensweisen zu begegnen und vor allem, wie schütze ich mich selber davor. Was kann ICH tun. Was mache ich mit mir, wenn die anderen nicht so sind, wie ich sie gerne hätte. Ich könnte die Welt verändern, wenn es mir gelänge, die Welt zu sein. Allerdings würde ich dann letztlich nicht sie verändern, sondern sie würde sich, als Begleiterscheinung meines Verhaltens, selber verändern. Was meinst Du dazu?
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Dem stimme ich in bestimmten Bereichen durchaus zu und oft ist es (auch) eine Frage des eigenen Umgangs mit Gegebenheiten – aber nicht nur. Leider gibt es viele Studien, die belegen, dass Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe anders behandelt werden. Wir empfinden mit weissen Menschen mehr Empathie als bei schwarzen, wir nehmen schwarze weniger Ernst als weisse, wir trauen weissen mehr zu, als schwarzen – die Liste lässt sich fortsetzen. Wie geht man also damit um, wenn man Stellen nicht kriegt oder weniger Lohn hat, nur weil man schwarz ist? Wie, wenn eine Krankenschwester einem die Sorge verweigert, weil man scharz ist? Wie, wenn man schlechtere Noten kriegt, keine Gymnasialempfehlung? Aufbegehren hilft selten, selbst wenn die Eltern kämen – die sind ja mehrheitlich auch schwarz… Und dann?
Man hat nicht alles selber in der Hand und Diskriminierung ist kein Minderwertigkeitskomplex sondern eine Herabsetzung und ein Ausschluss von aussen. Und das darf nicht sein. Zu sagen, die, welche betroffen sind, haben sich nur zu wenig mit den eigenen Minderwertigkeitsgefühlen auseinandersetzen sollen, nimmt wieder die Strukturen und die „Täter“ in Schutz, schiebt die Verantwortung den Diskriminierten selber zu. Ich finde, wir können das System nicht so lassen, wie es ist. Und nicht die Diskriminierten sind schuld, auch nicht die gemobbten, vergewaltigten, herabgesetzten – es läuft etwas falsch und das dürfen wir nicht ignorieren oder von uns weisen.
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Vielen Dank für Deine ausführliche, nachvollziehbare Antwort. Da bin ich mit Dir einverstanden, was die Diskriminierung anbelangt und ich denke auch nicht, dass man alles selber in der Hand hat, sondern nur, dass es Tragik der „Opfer“ ist, wenn sie nicht selber sich wehren können und nur auf das Verständnis der Verständnisvollen und Solidaren angewiesen sind.
Satt sich in die Situation zu schicken oder sich zu rächen würde ich auf eine Art Selbstverteidigung setzen, so gäbe es z.B. für Nichtgymnasialempfohlene“ – ich war auch ein solcher – andere Möglichkeiten, die Hochschulreife zu erwerben.
Wie ich als Kranker mich gegen Herabsetzungen grad im Moment wehren kann, wüsste ich allerdings auch nicht, und dass ein Hilfloser Rache verspürt oder sich als Opfer fühlt, kann ich gut nachvollziehen. Nur, was bringt es mir, wenn es nicht gelingt, mindestens im Nachhinein die Sache ohne Rachegelüste aber mit der gebotenen Radikalität und Vehemenz zu klären? Und zwar MEINE Situation an MEINEM Ort. Würde mir dabei jemand helfen, ohne mich zu bedauern, würde ich diese Hilfe wohl dankend annehmen. Ich bin einfach der Überzeugung, dass uns die Schuldfrage nicht wirklich weiter bringt. Das mag den Helfenden helfen, aber kaum der unmittelbaren Sache dienen.
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Da sind wir in allem einer Meinung, so sehe ich es auch. Danke für diese ausführliche Darlegung.
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