Gedankensplitter: Das Leben als Fest

«Ich weiss, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes, intensives Fest.» Paula Becker

Das schreibt Paula Becker mit gerade mal zwanzig Jahren. Ist es eine Ahnung auf ein wirklich kurzes Leben? Anzeichen dafür kann sie keine gehabt haben. Oder ist es eine Lebensphilosophie? Ähnlich wie Rilke, sie ist mit ihm befreundet, sagt:

«Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest.»

Was machte Paulas Leben zu diesem Fest? Ich denke, es war ihr unbeirrtes Einstehen für sich und ihre Kunst. Es war ihre Leidenschaft und die Bereitschaft, alles in Kauf zu nehmen, wenn sie dieser nur Raum geben konnte.

«Ich sehe, dass meine Ziele sich mehr und mehr von den Euren entfernen werden, dass Ihr sie weniger und weniger billigen werdet. Und trotz alledem muss ich ihnen folgen… Ich strebe vorwärts, gerade so gut als ihr, aber in meinem Geist und in meiner Haut und nach meinem Dafürhalten.» Paula Becker

Sich freimachen vom Gefallen-Wollen. Das war wohl schon immer ein Thema, vor allem für Frauen, es ist es aber in der heutigen Zeit wohl noch mehr mit all den Sozialen Medien, in denen es auf Klicks ankommt, die darüber bestimmen, ob man akzeptiert und dazugehörend sei oder eben nicht. Vielleicht ist es da aber wie bei der Lebensdauer: Nicht die Zahl der Klicks zählt, sondern die Menschen dahinter und das Miteinander im Tun und gegenseitigen Sehen und gesehen Werden – gesehen werden als Mensch, der man ist.

Anne Pauly: Bevor ich es vergesse

«Der Tod ist nichts: Ich bin nur ins Zimmer nebenan gegangen. Ich bin ich. Ihr seid ihr. Was ich für euch war, das bin ich nach wie vor.» Charles Péguy

Als Anne Paulys Vater stirbt, müssen sie und ihr Bruder die Formalitäten regeln und die Abdankung planen. Die Konfrontation mit dem toten Vater, mit den Erinnerungen an die vielfältigen Erfahrungen, Gefühle, Erlebnisse aus der gemeinsamen Vergangenheit sowie die Aufarbeitung der zurückbleibenden Gefühle an diesen Menschen, der so viele Seiten in sich trug, vom gewaltvollen Alkoholiker über den Liebhaber von Gedichten bis hin zum Interessierten für Spiritualität und östliche wie westliche Philosophien handelt dieses Buch.

«Während ich seine Hand hielt, die in meiner langsam kalt wurde, wünschte ich mir von ganzem Herzen, niemals seinen Duft zu vergessen und wie weich seine trockene Haut war.»

Was wird bleiben nach dem Tod, wenn der Mensch, der mal war, der zum eigenen Leben gehörte, durch den dieses wurde und war, wie es war, stirbt? Was wird man mitnehmen können ins neue Leben, in das ohne diesen Menschen? Die Angst, dass die Erinnerung an die Dinge verloren geht, die so wichtig schienen, die diesen Menschen ausmachten, ist oft gross. Man fürchtet, damit alles zu verlieren, vielleicht ein Stück von sich selbst.

«Im Gegensatz zu meiner Mutter habe ich immer verstanden, welchen Trost er daraus zog, Bücher zu besitzen, und welche Sehnsucht sich dahinter verbarg.»

Bücher sind Tore zur Welt. Sie können helfen, die Welt, in der man sitzt und sich vielleicht nicht wohlfühlt, für einen Moment zu verlassen. Nur schon sie zu besitzen heisst, die Möglichkeit zu haben, die in den Büchern steckt. Bücher sind auch ein kulturelles Symbol. Bücher im Regal zu haben, deutet darauf hin, einer bestimmten Schicht, einer bestimmten kulturellen Klasse zuzugehören. Sie vermitteln zumindest den Schein der Zugehörigkeit.

«Ja, sicher, er hatte es übertrieben, und doch war es diese Seele, die mir in all den Jahren nah gewesen war, und es war dieser Mann, der mich, zwischen zwei Besäufnissen, fest in seine langen Arme geschlossen hatte, wenn er fühlte, dass die Angst mit ihren schwarzen Händen nach mir griff.»

Kein Mensch hat nur eine Seite. Selbst der gewaltvollste Vater, ein Vater mit all seinen Schwächen und dunklen Seiten, hat auch die andere, die, auf die man bauen und vertrauen möchte. Die kleinen lieben Gesten zwischendurch, die, welche Halt geben, wenn man ihn braucht, mildern das Gesamtbild.

«Ich fand am Ende immer eine Entschuldigung für ihn: seine Schwermut, seine Einsamkeit und seine Langeweile, der nichts je hatte bekommen können, machten ihn verrückt.»

Wenn wir jemanden lieben, möchten wir ihn im besten Licht sehen. Das ist nicht immer möglich, vor allem, wenn die Schattenseiten zu deutlich herausstechen. Wie oft suchen wir dann Gründe, diese zu entschuldigen, suchen nach Erklärungen, die mildernd wirken, die den Blick nachgiebiger machen sollen. Belügen wir uns damit selbst? Oder sind wir damit der Wahrheit auf der Spur, die immer keine einfache ist, sondern mehrere Seiten aufweist?

Mascha Kaléko schrieb in ihrem Gedicht «Memento»:

«Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?»

Wenn jemand stirbt, bleibt eine Lücke. Lücken haben etwas Bedrohliches: Wie sollen wir sie füllen? Lücken bedeuten Leere, bedeuten, dass da, wo etwas war, nun nichts mehr ist. Ein Nichts ist unbestimmt, wir sind daran gewohnt, dass immer etwas ist, etwas zu sein hat. Wir haben, in heutigen Zeiten noch viel mehr als früher, das Bedürfnis, alle Leerstellen zu füllen. Wir packen förmlich unser Leben voll, um nicht ins Nichts zu fallen. Die Lücke durch einen Tod lässt sich nicht einfach füllen. Sie ist endgültig. Vielleicht liegt auch darin ein grosser Teil der Angst vor dem Tod.

Anne Pauly setzt sich in ihrem Buch mit dieser Lücke auseinander. Sie beleuchtet ihre Beziehung zu ihrem Vater, schaut hin, welchen Stellenwert dieser in ihrem Leben hatte. Sie erinnert sich an ihr Aufwachsen, an die Reibungen, Auseinandersetzungen und das Verbindende zwischen sich und ihrem Vater. Sie denkt über ihre Gefühle nach, über ihre Sehnsüchte, Ängste, Enttäuschungen. Was hiess es, Tochter dieses Vaters zu sein? Und was bleibt davon nun noch übrig? Was kann sie mitnehmen? Was ist verloren? Was wird sie weiter erinnern, was fällt dem Vergessen anheim?

Von all dem handelt dieses Buch. Es ist ein Buch über Liebe, Gewalt, Trauer und Trost, es ist ein Buch über Abschied und ein Buch über eine Beziehung zwischen Vater und Tochter.

Abschied

Nun sind es sechs Jahre. Sechs Jahre, in denen die Welt weiterdrehte, das Leben weiterging. Trotzdem.

Memento

Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Masche Kaleko

Als mein Vater starb, war mir dieses Gedicht wie aus dem Herzen geschrieben. Ein Weiterleben erschien fast undenkbar, meine Welt war dunkel und voller Schmerz. Wer könnte meinen Schmerz verstehen? Wer könnte wissen, was ich bis hier hin durchgemacht habe, wer nachvollziehen, wo ich nun stand? Ich fühlte mich trotz vieler gut gemeinter Worte allein – im wahrsten Sinne des Wortes verlassen. Zum Glück bin ich es nicht. Und doch hat mich der Weg geprägt, hat mir diese Erfahrung einiges mit auf meinen weiteren Weg gegeben.

Der Tod entreisst. Er trennt, was mal zusammen war. Er nimmt den einen mit und lässt den anderen ohne diesen zurück. Nun wissen wir alle nicht, was der Tod wirklich ist, was danach kommt – wir haben unsere Vorstellungen, Ideen, schöpfen auch Halt daraus. Was wir aber wissen – heute erinnern wir uns daran – ist, wie es für uns (für jeden einzeln von uns) ist, zurück zu bleiben, wenn einer geht.

Wo mal etwas (oder gar ganz viel) war, ist nichts mehr. Und doch auf eine andere Weise auch ganz viel. Wo grad noch jemand stand, steht keiner mehr – und doch ist er noch da. Irgendwie. Und oft ganz heftig gefühlt, fast schon überwältigend. Dann wieder still und leise – und… auch ab und an freudvoll. Was wäre da, wäre all das, was mal war, nicht gewesen? Wie dankbar kann man sein für das, was war, wenn es noch nachhallt? Und doch ist da auch der Schmerz, weil es gut war, und man das Gute gerne bewahren würde. Genau so, wie es gut war.

Menschen treten in unser Leben. Manche gehen gleich wieder, andere bleiben eine Weile, gehen dann, weitere bleiben lange. Weil es passt. Umso schwerer fällt der Abschied. Und doch bleibt die Dankbarkeit, dass sie da waren.

„Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“

Die Frage ist anfangs drängend, oft wohl auch überwältigend. Sie weicht mit der Zeit zurück, steigt nur ab und an am eigenen Firmament wieder auf im Sinne eines „ich vermisse dich“. Was bleibt ist die Erinnerung. Und damit der, der nicht mehr ist. Schön, wenn man sie lebendig halten kann, schön, wenn sie weiter Teil des Lebens ist. Und wunderbar, wenn sie zu einer friedvollen und freudvollen wird im Sinne einer Dankbarkeit dafür, dass war, was war, und noch sein darf, was ist. So leben Menschen weiter. Vielleicht ein bisschen ewig.

Rilke dichtete einst – das Gedicht ist übrigens mein Lebensmotto:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Und wer weiss: Vielleicht ist der letzte Ring auch der Ring, den andere für uns weiter ziehen. Durch ihre Erinnerung. Und wir gestalten diese Erinnerung durch unsere Gegenwart.

Ich glaube nicht an ein Leben nach dem Tod, und doch schaue ich ab und zu zum Himmel hoch und denke an ihn. Vielleicht weil wir früher gemeinsam oft zum Himmel schauten und über die Sterne sinnierten.

Ich schreibe an einem Buch, in dem ich mein Aufwachsen erinnere. Mein Aufwachsen mit ihm. Der Arbeitstitel ist „Mein Papabuch“. Die Arbeit daran bringt mir so vieles wieder ins Heute, das ich vergessen hatte. Zumindest glaubte ich das. Und so lebt er doch irgendwie auch weiter. Mit mir.

Danke für dein Dasein – so lange.

Paul Auster: Baumgartner

Inhalt

«Sie fehlt mir, das ist alles. Sie war die Einzige auf der Welt, die ich jemals geliebt habe, und jetzt muss ich herausfinden, wie ich ohne sie weiterleben kann.»

Fast zehn Jahre ist es her, dass Baumgartners Frau Anna gestorben ist. Zehn Jahre, in denen er scheinbar wie früher weiterlebte, und doch nichts wie früher war. Baumgartner hält nur den Schein aufrecht, er stürzt sich in die Arbeit, in immer neue Buchprojekte. Anna war Dichterin und Übersetzerin. Eines Tages geht er in ihr Arbeitszimmer, das bis heute aussieht, wie sie es verliess. Er findet ihre Manuskripte, liest sie. Er erinnert sich an Anna, an ihre gemeinsame Geschichte, an das Leben, als es noch seines war. Das Leben gibt es nicht mehr, ein neues stellt sich nicht ein. Bis er eines Tages von Anna träumt. Nach diesem Traum ist alles anders. Nun fühlt er sich frei, sein eigenes Leben wieder in die Hand zu nehmen. Wohin es ihn wohl führen wird?

Gedanken zum Buch

«…Zeit ist jetzt das Wesentliche, und wie soll er wissen, wie viel ihm noch bleibt. Nicht nur, wie viele Jahre, bis er ins Gras beisst, sondern wichtiger, wie viele Jahre tätigen, produktiven Lebens, bevor sein Geist oder sein Körper oder beide ihn im Stich lassen und er zu einem schmerzgepeinigten, verblödeten Trottel wird, der nicht mehr lesen und schreiben kann, der vergisst, was vor vier Sekunden jemand zu ihm gesagt hat, und schlicht keinen mehr hochkriegt, ein Horror, an den er gar nicht denken will.»

Professor Seymor T. Baumgartner, so heisst unser Held, ist Pragmatiker. Er geht durchs Leben und sucht nach Lösungen für alles, was ansteht. Wir begleiten den Phänomenologen durch seinen Alltag, folgen ihm bei seinen Erinnerungen durch seine Kindheit, sein Aufwachsen, seine Beziehung mit Anna, und sind schliesslich Zeugen seines Umgangs mit deren Tod. Er ist älter geworden. Er vergisst Dinge, Missgeschicke passieren. All dem begegnet er mit Selbstironie. Er nimmt sich selbst nicht zu ernst. Damit kommt er mit allem gut zurande, nur mit einem nicht: Dem Verlust von Anna.

«Er denkt an Mütter und Väter, die um ihre toten Kinder trauern…, und wie sehr ihr Leid den Folgeerscheinungen einer Amputation gleicht, gehörte doch das fehlende Bein oder der fehlende Arm einmal zu einem lebenden Körper, wie der fehlende Mensch einmal zu einem anderen lebenden Menschen gehörte…»

Nachdem er schon viele philosophische Bücher geschrieben hat, befasst er sich aktuell mit Kierkegaard. Das ist wohl kein Zufall, handelt doch eines von dessen berühmtesten Werken von Krankheit und Tod. Baumgartner versucht, den Verlust seiner geliebten Frau wissenschaftlich zu erfassen, er zieht den Vergleich mit einer Amputation und dem Phantomschmerz, den der Betroffene sein Leben lang fühlt. Das Gefühl, dass ihm eine Hälfte (und wohl im wahrsten Sinne des Wortes die bessere) wegfiel und ihn unvollständig zurückliess, lässt nicht nach.

Knapp zehn Jahre nach Annas Tod träumt er einen Traum, in dem Anna lebt und zu ihm spricht. Obwohl er weiss, dass dies alles nicht Realität ist, hat es auf ihn eine Wirkung: Er ist frei für ein Weiterleben. Musste er sich zuerst all den Erinnerungen stellen, um an den Punkt zu kommen? Brauchen gewisse Dinge einfach ihre Zeit, die für jeden Menschen anders sind?

Fazit
Grossartige Literatur von einem wahren Meister seines Fachs. Das Buch ist still und leise, nie pathetisch, ohne Kitsch und Sentimentalität. Obwohl das Thema traurig ist, Baumgartner eigentlich ein Leidender, besticht das Buch durch eine Leichtigkeit, eine Hoffnung, die zwischen den Zeilen mitschwingt, dass das Leben doch gelebt werden will und soll und es auch wird. Wie nur soll so ein Buch enden? Auch das ist Paul Auster wunderbar gelungen. Ich ziehe meinen Hut!

Joan Didion: Blaue Stunden

Inhalt

«Wären sie an diesem Tag auf der Amsterdam Avenue vorbeigekommen und hätten einen Blick auf die Hochzeitsgesellschaft geworfen, hätten sie dann gesehen, wie vollkommen unvorbereitet die Brautmutter auf das war, was passieren würde, bevor das Jahr 2003 überhaupt zu Ende ging?»

Innerhalb von zwei Jahren verliert Joan Didion ihren Mann und ihre Tochter. Ihr Mann starb an einem Herzinfarkt, ihre Tochter nach einer Reihe von Krankheiten knapp zwei Jahre später.

Joan Didion erinnert sich. Sie erzählt die Geschichte ihrer Tochter von dem Tag ihrer Adoption bis zu ihrem Tod. Sie erzählt eine Geschichte von Liebe, Tod, Abschied, Freude und Angst. Sie erzählt von ihren Zweifeln an ihrer Mutterrolle, von ihrem Erinnern, sie hinterfragt sich und das Leben. Ein persönliches Buch, ein tiefgründiges und bewegendes Buch. In einzelnen Sätzen und Textfragmenten, fast staccatoartig, entwickelt sich ein Gefühlsbild, stellt sich die Trauer um den Verlust und der Kampf ums eigene Weiterleben dar.

Gedanken zum Buch

«Die Zeit vergeht. Ja, einverstanden, eine Banalität, natürlich vergeht die Zeit. Aber wieso sage ich es dann, warum habe ich es schon mehr als einmal gesagt? …Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe?»

Die Zeit vergeht, doch was bedeutet das? Steckt in dem Vergehen ein Abschied mit drin? Ist ein Verdrängen der vergehenden Zeit ein Verdrängen eines möglichen Tods und damit die Hoffnung, dass alles immer so bleibt, wie es ist? Ist der Gedanke an eine vergehende Zeit, die einen Abschied in sich trägt, so schwer zu tragen, dass man dem Vergehen der Zeit darum positive Eigenschaften zuschreibt, wie zum Beispiel, dass das Heilen von Wunden? Und: Werden die Wunden geheilt oder trocknen sie nur langsam aus, so dass sie vordergründig nicht mehr so präsent gefühlt werden?

«Tatsache ist, dass ich diese Art Andenken nicht länger schätze. Ich möchte nicht an das erinnert werden, was zerbrach, verlorenging, vergeudet wurde.»

Es heisst, in der Erinnerung leben die Menschen, die von uns gingen, weiter. In Erinnerungen werden Momente wieder präsent und bringen die Freude zurück. Das ist die eine Seite, doch die andere gibt es auch: Erinnerungen zeigen immer auch, was nicht mehr ist. Sie bringen uns Menschen ins Gedächtnis, die wir gehen lassen mussten, machen den Schmerz dieses Abschieds wieder präsent. Und manchmal ist dieser Schmerz so gross, dass es einfacher scheint, die Erinnerung auszublenden, sie dem Vergessen anheim zu geben.

«Theoretisch dienen diese Andenken dazu, den Augenblick zurückzurufen. Tatsächlich dienen sie nur dazu, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.»

Erinnerungen können auch bewusst machen, wie blind wir durch die Zeit und durch unser Leben gehen und gegangen sind. Wie oft tun oder erleben wir etwas, sind aber in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt? Wie oft sehen wir nicht, was um uns ist, weil innerlich schon an einem anderen Ort sind? Vielleicht schmerzen die Erinnerungen am meisten, die von nicht bewusst gelebten Momenten erzählen, weil die Erinnerungen erst sichtbar machen, was wir verpasst haben. Sie zeigen uns unwiederbringliche Chancen und Möglichkeiten und haben dabei die eine Botschaft: Das ist vorbei.

«Ich werde noch nicht einmal darüber diskutieren, ob sie eine ‘gewöhnliche’ Kindheit hatte, obwohl ich mir nicht sicher bin, wer genau eigentlich eine solche hat.»

Zum Elternsein gehören wohl immer auch Zweifel. Die Gesellschaft hält uns Bilder von Familien vor, zeigt, was eine normale Familie ausmacht. Aber: Was ist normal? Was bedeutet eine schöne Kindheit, wie muss sie aussehen? Wann ist man eine gute Mutter, ein guter Vater? Wo hat man als Eltern versagt? All diese Fragen stellt sich Joan Didion und umkreist sie dann. Die Antwort bleibt offen, weil es auf diese Fragen keine Antwort gibt, die allgemeingültig und damit abschliessend ist.

«Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.»

Joan Didion schreibt in einem eigenwilligen Stil, sie pendelt durch die Zeiten, stellt Gedanken neben Erlebnisse, erzählt von Häusern und Menschen. Sie arbeitet immer wieder mit Wiederholungen, die wie ein Refrain im Text wirken, ein Zurückholen des Ausgangs einer Gedankenkette, die man gerade lesend durchlaufen hat. Der Text an sich gleicht dem spontanen Erinnerungsprozess, er reiht einzelne Erinnerungsfetzen aneinander, die sich zu einem Ganzen fügen.

Fazit
Ein persönliches und bewegendes Buch über das Erinnern, über die Liebe, den Tod und das Leben, geschrieben in einem eigenwilligen Stil, der dem Erinnerungsprozess nachempfunden ist, dem Auftauchen einzelner Fragmente und Erinnerungsfetzen.

Lebenskunst: Prioritäten setzen

„Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen. „(Albert Schweitzer)

Kürzlich sprach ich mit einer Freundin und sie erzählte mir vom Tod ihres Vaters. Sie erzählte von der Trauer und dem grossen Gefühl des Verpassten, das sie bis heute, viele Jahre nach dem Tod, belastete. Wie viel hätte sie noch mit ihrem Vater machen wollen, es aber immer aufgeschoben, weil sie zu viel Arbeit und zu viele Termine hatte. Nie fand sie die Zeit, ihn zu besuchen. Und dann starb er. Aus heiterem Himmel. Und all die Pläne für Gemeinsamkeiten waren hinfällig, sie würden nie mehr umgesetzt werden können. Zurück blieben Wehmut und das nagende Gefühl: Wieso habe ich mir die Zeit nicht genommen.

Wie oft setzen wir die Prioritäten im Leben falsch oder gar nicht, indem wir einfach alltäglichen Dingen hinterherrennen und daneben verpassen, was uns eigentlich wichtig wäre. Wie oft wissen wir gar nicht so genau, was überhaupt wichtig wäre, da wir zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt sind. Wir rennen Erfolg, Geld, Ruhm, Macht, Besitz nach, versprechen uns davon Glück und das gute Gefühl, etwas zu gelten in dieser Gesellschaft. Wir streben immer höher, weiter, alles soll besser werden, vergessen dabei, dass vieles schon gut wäre, wenn wir es nur sehen würden. Doch dazu fehlt uns die Zeit.

Und manchmal öffnet sich ein kleiner Spalt in diesem Tunneldasein, ein wenig Licht dringt hinein und wir sehen, was wir eigentlich gerne würden. Und wir halten kurz inne, denken, dass es schön wäre, schieben es in die Zukunft, und machen wieder weiter in unserem Hamsterrad. Wozu? Spätestens wenn wir merken, dass wir nicht glücklich sind, dass wir immer müder werden, müssten wir doch ausbrechen und uns wieder darauf besinnen, dass es nicht mehr Geld und Erfolg sind, die Glück verheissen, sondern Beziehungen zu Menschen, gemeinsame Erlebnisse, das Teilen von Lebenszeit mit denen, die man liebt.

vogelfrei

auf weiten schwingen
vom himmel getragen
dem elend entflogen
kein zwang und kein ziel

bin aus den zwingen
muss nichts mehr ertragen
werd nie mehr enttäuschen
bin nie mehr zuviel

kein blick mehr bestraft mich
und auch keine klagen
kein mich auslachen –
von dir nun nie mehr

nichts davon dacht ich
als du vor mir lagest
den mund fest verschlossen
die augen glanzleer.

@Sandra von Siebenthal

Liebestöter

Worte wie Waffen,
so messerhaft scharf,
erst nur kleine Stiche,
dann Täler gefurcht.

Ein Satz gräbt sich tief
und schaufelt ein Grab;
und eh du’s versiehst,
zieht es dich hinab,

wo in dir, was liebt,
im Dunkel versiegt,
und bleibt nur ein Loch
und dieses Gefühl,

dass wie es mal war,
nie mehr wird sein,
getötet vom Wort,
liegst du da allein.

was bleibt

wo du wohl bist
so weg von hier?
was du wohl tust
so weit von mir?
was du wohl siehst
am neuen ort?
was er dir ist?
ein neuer hort?

was ich wohl bin
in deiner welt?
ob was du siehst,
dir auch gefällt?
ich sitze hier,
in unsrer welt,
aus der du bist
lang abbestellt.

warst einfach weg,
ein keiner frug.
warst einfach weg,
fast ein betrug.
der mir dich nahm,
so unverhofft,
doch weiss man wohl,
dass dies kommt oft.

ich schaue hoch,
zum Himmelszelt,
ich schaue hoch
in deine welt,
sie scheint so fern,
doch du bist da,
im aussen weg,
im herzen nah.

©Sandra Matteotti

Abschied

Heute vor einem Jahr ging ich ins Bett und ich wusste: Morgen wird nichts mehr sein, wie es mal war. Zwar war es lange schon nicht mehr genau so, wie es war – und vielleicht war es nie so, wie ich im Moment dachte, dass es gewesen wäre, aber: In dem Moment des Ins-Bett-Gehens war klar: In dieser Nacht passiert etwas, von dem ich immer dachte, dass ich nach diesem Einschnitt nicht mehr weiterleben könnte. Wollte. Möchte, Könnte.

In dieser Nacht würde mein Vater sterben.

Als im August 2017 die Diagnose Lungenkrebs feststand – mit allem drum rum – war mir sofort klar: Da kommen wir nicht mehr heil raus. Wie viel Zeit uns noch bleiben würde, stand offen, die Hoffnung war natürlich da, dass es viel wäre und sie – vor allem – für meinen Vater schön sei. Anfangs sah es gut aus. Ich besuchte ihn täglich, nutzte die 5 Stunden Reise zum Malen, Schreiben, Denken. Wir lachten zusammen, schwiegen zusammen, plauderten, hingen Erinnerungen nach. Es war wie immer, nur dass wir uns viel öfter sahen, früher telefonierten wir mehr, feierten die Treffen aber entsprechend mit einem guten Champagner und ebensolchem Rotwein. Wir wusste unser Zusammensein zu geniessen. Er feierte es offensichtlich und mir war es ein Fest.

Das Feiern und Festen fiel weg nach der Diagnose. Er vertrug keinen Alkohol mehr. Bald ertrug er immer weniger, da ihm die Kraft fehlte. Und das Lachen kam ihm abhanden. Anfangs tat er noch als ob. Dann fehlte sogar die Kraft dafür. Was vielleicht gut war und viel früher hätte passieren sollen. Vielleicht hätte er dann mehr Kraft für anderes gehabt. Aber darüber nun nachzudenken, ist müssig. Es war, wie es war. Er lebte sein Leben, wie er es konnte. Und wollte.

Wir waren nie viele in unserer Familie. Im engen Kreis waren es nur drei. Und mein Vater und ich waren der engste Kreis. Für mich. Meine Mutter warf mir ab und an vor, dass es auch für ihn so sei. Ich hatte deswegen ein schlechtes Gewissen. Und war auch ein wenig stolz. Und froh. Nicht ganz alleine zu sein. Drum kam wohl schon früh der Gedanke auf: Wenn ich ihn nicht mehr hätte, gäbe es kein Leben mehr.

Und nun standen wir also an dem Punkt. Alle Therapien hatten keinen Erfolg gehabt, der Krebs hatte alle Organe befallen, löste immer wieder neue Schlaganfälle aus, die Kraft schwand – mit ihr der Lebenswille. Aus einem einst fröhlichen, das Leben geniessenden, sozialen Menschen war ein stiller, in sich gekehrter Mensch geworden. Das war er – wenn man ihn kannte – schon vorher, nur wusste er es da noch zu überspielen. Und schon wieder sind wir an dem Punkt: Er war, wie er war, weil er es sein wollte. Er machte die Dinge mit sich selber aus. Mich liess er ab und an reinschauen. Weil er wusste, er kann es mir eh nicht verbergen – wir waren uns zu ähnlich. Und so wusste ich: Ich werde ihn gehen lassen müssen. Zwar redeten die Ärzte noch von Eventualitäten, die aber alle ein paar Wochen maximal bedeutet hätten.

Papa und ich schauten uns an. Und wir verstanden uns. Und wir verabschiedeten uns. Sagten: Wir überlegen uns all die Möglichkeiten noch bis zum Wochenende. Das war am Dienstag. Am Mittwoch Abend kam das Telefon: „Er wird die Nacht nicht überleben.“ Obwohl es klar gewesen war, traf es. Ein weiterer Schlag in dieser Zeit der immer neuen Schläge: Das vorher Vertraute hatte über die Zeit immer mehr abgenommen, war teilweise in eine Umkehrung der Rollen gegangen. Und nun also der endgültige Bruch. Ich war feige, ich schluckte eine Schlaftablette.

Am Morgen kam der Anruf meiner Mutter: „Papa ist gestorben.“ Und ja, es fühlte sich an wie ein eigener kleiner Tod.

„Am Ende wird alles gut.“

Diese Worte hat mein Vater in seiner letzten Zeit immer wieder gesagt. Und ja, für ihn war es gut, wie es gekommen war. In dem Moment hielt ich mich daran. Und hoffte auch ein wenig für mich, dass es so kommen würde. Frei nach dem Motto:

„Am Ende wird alles gut. Und ist es nicht gut, ist es noch nicht das Ende.“

Ich werde morgen ein Schild mit seinem Namen, seinen Daten und diesem Spruch in meiner Herzensheimat Spanien auf einem Stein nah dem Meer platzieren. Und werde an den Menschen denken, der mein Leben lang bei mir war. Für mich war. Und dankbar sein. Ihn gehabt zu haben. Und ja, vielleicht wird auch morgen die eine oder andere Träne fliessen, wie sie es beim Schreiben dieses Textes tat. Wie schön wäre es gewesen, hätte er meinen Weg weiter begleiten können. Wie schön war es, dass er es so lange tat.

DANKE!

In Gedenken

Memento
Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.
Masche Kaleko*

Als mein Vater dieses Jahr starb, war mir dieses Gedicht wie aus dem Herzen geschrieben. Ein Weiterleben erschien fast undenkbar, meine Welt war dunkel und voller Schmerz. Wer könnte meinen Schmerz verstehen? Wer könnte wissen, was ich bis hier hin durchgemacht habe, wer nachvollziehen, wo ich nun stand? Ich fühlte mich trotz vieler gut gemeinter Worte allein – im wahrsten Sinne des Wortes verlassen. Zum Glück bin ich es nicht. Und doch hat mich der Weg geprägt, hat mir diese Erfahrung einiges mit auf meinen weiteren Weg gegeben.

Der Tod entreisst. Er trennt, was mal zusammen war. Er nimmt den einen mit und lässt den anderen ohne diesen zurück. Nun wissen wir alle nicht, was der Tod wirklich ist, was danach kommt – wir haben unsere Vorstellungen, Ideen, schöpfen auch Halt daraus. Was wir aber wissen – heute erinnern wir uns daran – ist, wie es für uns (für jeden einzeln von uns) ist, zurück zu bleiben, wenn einer geht.

Wo mal etwas (oder gar ganz viel) war, ist nichts mehr. Und doch auf eine andere Weise auch ganz viel. Wo grad noch jemand stand, steht keiner mehr – und doch ist er noch da. Irgendwie. Und oft ganz heftig gefühlt, fast schon überwältigend. Dann wieder still und leise – und… auch ab und an freudvoll. Was wäre da, wäre all das, was mal war, nicht gewesen? Wie dankbar kann man sein für das, was war, wenn es noch nachhallt? Und doch ist da auch der Schmerz, weil es gut war, und man das Gute gerne bewahren würde. Genau so, wie es gut war.

Menschen treten in unser Leben. Manche gehen gleich wieder, andere bleiben eine Weile, gehen dann, weitere bleiben lange. Weil es passt. Umso schwerer fällt der Abschied. Und doch bleibt die Dankbarkeit, dass sie da waren.

„Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?“

Die Frage ist anfangs drängend, oft wohl auch überwältigend. Sie weicht mit der Zeit zurück, steigt nur ab und an am eigenen Firmament wieder auf im Sinne eines „ich vermisse dich“. Was bleibt ist die Erinnerung. Und damit der, der nicht mehr ist. Schön, wenn man sie lebendig halten kann, schön, wenn sie weiter Teil des Lebens ist. Und wunderbar, wenn sie zu einer friedvollen und freudvollen wird im Sinne einer Dankbarkeit dafür, dass war, was war, und noch sein darf, was ist. So leben Menschen weiter. Vielleicht ein bisschen ewig.

Rilke dichtete einst – das Gedicht ist übrigens mein Lebensmotto:

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehen.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Und wer weiss: Vielleicht ist der letzte Ring auch der Ring, den andere für uns weiter ziehen. Durch ihre Erinnerung. Und wir gestalten diese Erinnerung durch unsere Gegenwart. Der, der ging, hat das durch sein Sein getan. Er lebt dadurch in jedem, der sich an ihn erinnert, auf seine Weise weiter.

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Gedanken anlässlich einer Lichterfeier
*zitiert nach Mascha Kaleko, Verse für Zeitgenossen

Lebenslicht

Hier brennt ein Licht,
es soll dir leuchten,
den letzten Weg,
den du heut gehst.

Ich bleibe hier,
ich möchte weinen,
ein ganzes Meer
dunkel und tief.

Ich glaube nicht,
dass dieses Leben,
je wieder sein
wird, wie es war.

Hier brennt ein Licht,
es soll mich leiten,
auf meinem Weg,
der vor mir liegt.

©Sandra Matteotti

(geschrieben zum Tag der Einäscherung meines geliebten Vaters)

I säge: ‹Tschou zäme, es isch schön gsy!›

Mit diesen Worten begann Polo Hofer seine eigene Todesanzeige. Nun könnte man sagen, es sei makaber, seine eigene Todesanzeige zu schreiben, doch das ist es nicht, denn: Wer wüsste besser als man selber, was man noch sagen möchte, wenn man geht? Und Polo Hofer war immer einer, der für sich selber sprach, der sein eigenes Leben lebte, egal, was man über ihn sagte. Er kiffte, er trank, er feierte das Leben. Er schrieb seine Texte und er äusserte sich zur Welt. Und mit allem eckte er an. Keinem war er so genehm. Und darum liebten ihn so viele.

Polo Hofer ist tot. Seine selber verfassten Worte finden nun also Gebrauch. Wir verlieren mit ihm einen unbequemen Geist, einen Musiker, einen Denker, einen, der Stellung bezog und einen, der sein Leben lebte – es auch in den Abgrund lebte. Man könnte sagen: Er lebte nicht gesund, das konnte nicht gut enden. Aber er hat gelebt. Genauso, wie er leben wollte. Wohl bis zum Schluss.

Langsam gehen uns die Künstler aus, die hinstehen und sagen, was sie denken. Es gehen uns die Künstler aus, die Stellung beziehen, die eine Meinung haben, die diese kundtun. Es gehen uns die Künstler aus, die sich zur Welt in Beziehung setzen. Dagegen anschreiben, ansingen, anreden. Das ist doch Kunst: Sich in Beziehung setzen. Ab und an denke ich, heute geht es Künstlern mehr um sich selber als um die Welt. Sie wollen sich selber produzieren und nutzen dazu alle Mittel, nennen es Kunst. Polo war nicht hochtrabend. Man musste ihn nicht mit bedeutungsschangerem Blick betrachten, seine Texte entziffern und analysieren, um den tieferen Sinn zu verstehen. Er stand hin und sagte und sang es klar und deutlich. Und damit machte er wohl mehr Kunst als so manch einer sonst.

Ich bin traurig. Ich erinnere mich an einen Tag vor nunmehr 26 Jahren. Ich hatte das Glück, in der ortsansässigen Zeitung, bei der auch mein Papa arbeitete, dem Winterthurer Landboten, ein Praktikum zu machen. Mein erster Auftrag war: ein Artikel über das Konzert von Polo Hofer. Es war ein wunderbarer Abend, es wurde ein toller Artikel und beides war für mich wie der erste Kuss: Unvergesslich! Von da an hatte Polo Hofer für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nun ist er tot. Zurück bleiben seine Lieder, zurück bleibt die Erinnerung. Möge er da, wo er nun ist, immer ein Glas Wein und Gleichgesinnte finden, mit denen er es geniessen kann. Und vielleicht schmettert er den einen oder anderen Song vom Himmel. Ich hoffe, wir hören ihn.

I säge: ‹Tschou zäme, es isch schön gsy!›

Leb wohl, Gerri

17884476_10155322283442834_2581290942762795018_nIch weiss nicht, wieso wir ins Gespräch kamen, es war auf Twitter oder Facebook, wir trafen uns schnell real. Danach trafen wir uns wöchentlich. Du trankst immer Apfelschorle mit Zitrone. Ich meist Wasser oder Tee. Wir sprachen über Gott und die Welt. Mehrheitlich sprachst du, ich kam kaum zu Wort. Das war nicht schlimm, ich höre gerne zu und ich hatte selten viel zu erzählen – du schon. Deine ganze Lebensgeschichte hast du mir ausgebreitet.

Du sprachst laut. Ich weiss noch, wie ich immer dachte, dass nun alle alles wissen. Ich falle nicht gerne auf. Dir war das egal. DU kamst und warst da. Immer. Präsent. Und authentisch. Du sagtest mir immer, dass du da bist für mich. Ich immer einen Freund hätte in dir. Und ich glaubte dir. Du warst einer der Guten. Als mein Sohn mal ein Interview brauchte mit einem „älteren Menschen“, sprangst du ein, weil wir hier keine Familie hatten. Du stelltest dich allen Fragen. Für dich war mein Sohn danach nur noch der Bonsai. Ich werde ihn nie mehr anschauen können, ohne daran zu denken. Und das ist schön, denn dann denke ich auch an dich.

Das werde ich sowieso oft tun. Ich danke dir für ganz viele Lieder, die ich durch dich kennenlernte. Ich danke dir für einen Schneespaziergang bei Schneewehen, wir sahen die Welt vor Augen nicht, aber es war toll. Ich danke dir für ganz viele Stories, Treffen, Momente. Ich danke dir für deine Freundschaft.

Irgendwann warst du still. Ich erreichte dich nicht mehr. Ich setzte mit Hilfe von Freunden Hebel in Bewegung, wir schafften es, dass du ins Spital kamst. Da fing die Unsicherheit an. Schaffst du es? Können dir die Ärzte helfen? Können wir genug da sein? Immer wieder gab es gute Momente, gab es Hoffnung. Leider ist die mit dir am 21. Februar gestorben. Ich habe kurz davor noch mit dir telefoniert. Du gabst dich positiv, aber es schwang eine leise Ahnung in der Stimme mit – oder hörte ich die nur? Ich habe es heute erfahren, nachdem ich dich mehrfach vergebens zu erreichen versuchte. Wir werden nie mehr zusammen im Migros-Café in Oerlikon sitzen. Wir werden nie mehr in „unserem Café“ am Sternen sitzen und uns über die Menschen um uns amüsieren. Und über uns selber. Wir werden so viele Dinge nicht mehr machen, die wir noch machen wollten.

Ich werde nun das Lied hören, das ich durch dich kennen und lieben lernte – eines der vielen. Und ich werde an dich denken. Und mein Glas zum Himmel heben.

Mach’s gut, Gerri. In meinem Herzen hast du einen grossen Platz, der bleibt.