Utopien

Als ich ein Kind war, spielte ich gerne mit Lego. Ich hatte immer ausgefallene Ideen, was ich bauen wollte (es gab noch nicht so viele fertige Bausätze mit seitenlangen Bauanleitungen) und versuchte dann, dies umzusetzen. Mein Vater wollte mir immer helfen, mir zeigen, wie es geht, doch das machte mich wütend. Ich wollte es selber herausfinden. Mein Vater hat mir bis ins Erwachsenenalter vorgeworfen, dass ich mir schon als Kind nicht helfen lassen wollte. Zwar stimmt das nicht ganz, da ich durchaus Hilfe annehme, wo ich etwas nicht selbst kann oder können will, aber nicht da, wo ich der Überzeugung bin, es selbst zu schaffen.

Es gibt dieses schöne Wort der Selbstermächtigung. Ich finde es zentral in Bezug auf das Menschsein, auf die Selbstachtung als Mensch und damit die eigene Würde. Menschen, die nicht wissen, dass sie selbst etwas bewirken können, fühlen sich (und sind meist auch wirklich) Opfer der Umstände und damit hilflos und abhängig von anderen. Dieses Gefühl der eigenen Ohnmacht nagt am Selbstbild und damit an der Selbstachtung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das jemand will. Umso mehr erstaunen mich aktuell geführte Diskussionen, wenn es um Themen wie zum Beispiel Rassismus geht.

Eine aktuell populäre Sicht bei der heutigen Thematisierung von Rassismus (die ursprünglich aus den Staaten zu uns kam) ist, dass Weisse aufgrund ihrer Hautfarbe per se rassistisch seien, weil sie in der Geschichte die Schwarzen unterdrückt haben. Rassismus so gesehen ist also quasi in ihren Genen eingebrannt, und sie können dem nicht entkommen.

Nicht nur zementiert diese Argumentation die Fronten schwarz-weiss, sie macht Schwarze auch zu ewigen Opfern. Wenn dem Weissen der Täterstatus eingebrannt ist, ist es dem Schwarzen das Opfertum. Tun wir jemandem damit einen Gefallen oder macht diese Sicht irgendetwas besser? Ich denke, das Gegenteil ist der Fall. Menschen so gesehen spricht ihnen die Würde ab, die auch darauf beruht, dass Menschen frei sind, sich zu ändern. So schreibt Avishai Margalit in seinem Buch „Politik der Würde“:

„der grundlegende Respekt vor jedem einzelnen orientiert sich an dem, was er in Zukunft tun könnte, nicht an dem, was er in der Vergangenheit getan hat. Achtung ist dem Menschen nicht dafür zu zollen, in welchem Grad er sein Leben tatsächlich zu ändern vermag, sondern allein für die Möglichkeit der Veränderung.“

Margalit fährt fort, dass ein Mensch nicht durch seine Vergangenheit determiniert (wenn auch durchaus geprägt), sondern zu jedem Zeitpunkt frei ist, sich und sein Verhalten zu ändern. Wenn dies schon für das eigene Verhalten gilt, wie viel grösser muss also die Möglichkeit einer Veränderung über Generationen sein, in denen durchaus ein Denkprozess stattfand und auch Massnahmen zur Abschaffung von Rassismus erfolgreich durchgesetzt werden (nicht zu verstehen als diesen vollständig aus der Welt schaffen) konnten?

Ich bin der Meinung, dass wir genau hinschauen müssen, wo heute noch strukturelle Benachteiligungen existieren, und wir müssen diese gemeinsam angehen. Betroffene sollten aber nicht nur von den Anderen Veränderungen erwarten, sondern sie sollten sich auch als Akteure sehen (können). Auch dafür ist ein Miteinander wichtig, dass ein Raum geschaffen wird, in welchem es möglich ist, für die eigenen Rechte und gegen Benachteiligungen einzustehen. Dann gibt es keine Täter und Opfer durch von aussen definierte Kriterien, sondern eine gemeinsame Welt mit gemeinsamen Werten und Zielen, welche diese gestalten sollen, und in der jeder seinen Platz hat.

Ich mag Utopien… und ich glaube, sie könnten oft verwirklicht werden.


Leseempfehlung: Avishai Margalit: Politik der Würde, Suhrkamp Verlag, 2. Auflage, Berlin 2018.

Susan Arendt: Rassismus begreifen

Vom Trümmerhaufen der Geschichte zu neuen Wegen

Inhalt

«Die Meinungsfreiheit lässt ausreichend Raum dafür, etwas als rassistisch oder eben auch nichtrassistisch zu bezeichnen. Am Ende aber ist Rassismus keine Meinung, sondern eine Macht und Herrschaftsstruktur, die vermittels Privilegierung und Diskriminierung Leben bewertet, beeinflusst, beeinträchtigt und beendet.»

Rassismus ist ein Thema, das uns seit vielen Jahrzehnten beschäftigt und nie ganz zum Verschwinden gebracht werden konnte. Zwar gab es immer wieder Bewegungen, die sich dagegen einsetzten, es wurden auf verschiedenen gesellschaftlichen und auch politischen Ebenen Fortschritte erzielt, doch sind auch heute noch rassistisches Verhalten und rassistisch motivierte Gewalt an der Tagesordnung.

Susan Arndt geht dem Thema Rassismus auf den Grund, sie analysiert dessen Entstehungsgeschichte und die gegenwärtige Situation, um so zu einem besseren Verständnis kommen, da nur dieses helfen wird, Rassismus erfolgreich zu bekämpfen.
 
Weitere Betrachtungen

«Zur Geschichte der Menschheit gehört es, dass sich Gesellschaften immer wieder geopolitisch voneinander abgrenzen – mit allen dazugehörigen Konflikten und Kriegen, Eroberungen und Okkupationen, Ent- und Besiedlungen sowie Erzählungen, dass die Anderen anders seien. kulturell, religiös oder körperlich, in gegebenen Verschränkungen.»

Gruppen definieren sich durch das Gemeinsame, welches sie gerne dadurch besonders herausschälen, dass sie sich von anderen abgrenzen. Die Anderen sind dann die, welche abgewertet werden müssen, um die eigene Gruppe an die Macht zu stellen. Dies ist im Laufe der Geschichte immer wieder passiert, dieses Denken hat sich kulturell und sozial tief eingegraben. Dass etwas, das so lange gewachsen ist, sich in den einzelnen Köpfen sowie in gesellschaftlichen und politischen Institutionen festgesetzt hat, liegt auf der Hand.

„So wie Frauen nicht als Frauen geboren, sondern dazu gemacht werden… werden auch Männer vom Patriarchat dazu geformt, wie Männer zu ticken. Analog dazu werden Menschen beispielsweise in Schwarze oder weisse Positionen hineinsozialisiert – ob sie nun (so) möchten oder nicht. …Diese existieren unabhängig davon, ob sie wahrgenommen oder reflektiert werden.“

Argumente wie dieses hört man heute oft von postmodernistischen VertreterInnen der sogenannten Social-Justice-Aktivistinnen. Es wird damit ein Menschenbild zementiert, das dem Menschen die Selbstreflexion und die Möglichkeit einer Veränderung, wo nötig und gewünscht, absprechen. Ein so geartetes Menschenbild schreibt alle Macht gegebenen Strukturen zu, welchen der Mensch hilflos ausgeliefert ist. Das ist eine bedenkliche und von mir abgelehnte Sicht. Ich bin der Überzeugung, dass der Mensch durchaus in der Lage ist, sein Tun zu hinterfragen (ich behaupte nicht, dass dies in jedem Fall passiert) und sich entsprechend zu verhalten. Ansonsten wäre eine Verbesserung von gegenwärtig als Missstand wahrgenommenen Situationen gar nicht möglich. Die Geschichte zeigt, dass dies nicht stimmt.

«Weil es der Lebenssinn des Rassismus ist, aus dem Herzen von weisser Macht und Herrschaft heraus weisse Überlegenheit zu behaupten und Weisse zu privilegieren, können Schwarze, die das anzweifeln oder gar Schwarze Überlegenheit postulieren, nicht rassistisch sein.»

Auch dieses Argument ist abzulehnen. Es wäre ein Messen mit unterschiedlichen Massstäben. Zwar ist es in der Tat so, dass – gerade durch die Geschichte – die weissen Privilegien durchaus mehr vertreten sind, der Rassismus auch heute noch oft von Weissen ausgeht, doch zeigt auch da die Geschichte, dass nicht „nur“ die Hautfarbe Grund für Rassismus ist, und dass es nicht vertretbar ist, einem Menschen aufgrund seiner Zugehörigkeit welcher Art auch immer Eigenschaften zuzuschreiben.
 
 
Persönlicher Bezug

«Rassismus ist ein System, und in diesem tragen Individuen zwar Mitverantwortung, können es aber auch nicht einfach so verlassen. Umgekehrt heisst das, dass Rassismus zwar nicht durch ein blosses Wollen Einzelner ad acta gelegt werden kann, es aber dennoch auf jede*n ankommt. Es bedarf also systemischer Prozesse, die individuell mitgetragen werden, und individueller Initiativen, die systemische Prozesse anstossen und tragen.»

Ich habe in diesem Buch oft die postmodernistische Sicht auf das Problem des Rassismus beanstandet, da es einerseits zu Widersprüchen im Buch selber führte, andererseits auch eine Rollenverteilung in Stein meisselt, die einerseits auf einem falschen Menschenbild beruht, wie ich denke, andererseits aber keinem hilft. Indem man versucht, Schwarze zu Opfern, Weisse zu Tätern zu machen, nimmt man beiden die Möglichkeit einer Selbstwirksamkeit. Schwarze könnten sich nach dieser Sicht nie selber wehren, sie bedürften eines Systems, das sich ihnen annimmt und für sie die Steine aus dem Feuer holt. Das würde die Schwarzen zu unmündigen, hilflosen Wesen machen und sie in ihrem Selbstverständnis herabsetzen. Weisse dahingegen wären in ihrer Täterrolle, die sie – so heisst es – oft gar nicht sehen, festgeschrieben und könnten sich nicht verändern, da alles, was sie tun, durch ihr Weiss-Sein bereits rassistisch wäre.

Ich bin der Meinung, dass Rassismus durchaus noch ein systembedingtes, strukturelles Problem ist, da das Denken noch in zu vielen Köpfen sitzt. Es ist aber auch ein individuelles, indem jeder selber für sein Denken und Tun insofern verantwortlich gemacht werden muss, dass es ihm frei steht, es zu hinterfragen und gegebenenfalls zu ändern. Insofern vertrete ich die Ansicht, dass wir auf allen Ebenen ansetzen müssen: Der Mensch selber muss sein eigenes Tun hinterfragen, dazu bedarf es des Bewusstseins für die Missstände und die eingeprägten Sichtweisen. Dieses Bewusstsein zu schaffen ist wichtig und nötig und da können aufklärerische Texte helfen. Es braucht aber auch eine Analyse der heutigen Systeme, um unterschwellig vorhandenen Rassismus aufzudecken und zu bekämpfen. Dies können wir nur gemeinsam schaffen, Schwarze und Weisse, die miteinander für die eine gerechte Gesellschaft einstehen.

Fazit
Ein grundsätzlich informatives, ausführliches, gut recherchiertes Buch über Rassismus, was er bedeutet und wie er entstanden ist. Dabei zu oft mit postmodernistischen Argumenten agierend, was zu Widersprüchlichkeiten führt. Empfehlenswert.
 
Autorin
Susan Arndt ist Professorin für englische Literatur- und Kulturwissenschaft und Anglophone Literaturen an der Universität Bayreuth.
 
 
 
Angaben zum Buch
Herausgeber: C.H.Beck; 1. Edition (2. November 2021)
Gebundene Ausgabe: 477 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3406765544
 
 

Carolin Emcke: Gegen den Hass

Inhalt

„Der Hass richtet sich das Objekt des Jasses zurecht. Es wird passgenau gemacht.“

Was geht in Menschen vor, die andere bedrohen, angreifen, verletzen, abwerten? Was bewegt Menschen, anderen Leid anzutun, nur weil sie von dem abweichen, was man selber als Norm gesetzt hat? Wir scheinen in einer Welt zu leben, die Pluralität ausschliessen möchte, um unter Gleichen gefühlt sicher zu leben. Dass damit eine Demokratie nicht lebbar ist, ist das Eine, das Andere ist, dass wir auf diese Weise kein friedliches Miteinander erreichen werden als Gesellschaft.

Carolin Emcke geht der Frage nach dem Hass nach, sie hinterfragt die Beweggründe und Muster desselben, zeigt auf dessen Auswirkungen für einzelne Menschen, die Gesellschaft und das politische System. Sie ruft auf zu mehr Mut zum Widerstand, zur Akzeptanz von Pluralität und zu einer humanistischeren Haltung.

Weitere Betrachtungen

„Sie müssen sich sicher sein. Ohne jeden Zweifel. Am Hass zweifelnd lässt sich nicht hassen. Zweifelnd könnten sie nicht so ausser sich sein. Um zu hassen braucht es absolute Gewissheit. Jedes Vielleicht wäre da störend. Jedes Womöglich unterwanderte den Hass, zöge Energie ab, de doch gerade kanalisiert werden soll. Gehasst wird ungenau.“

Hass ist ein starkes Gefühl und dahinter steckt eine Sicherheit, dass er gerechtfertigt ist. Das Bild steht, die Meinung ist gemacht, der Andere ist der Feind und man kann diesem nur mit Hass begegnen, da er das Eigene gefährdet. So wenig differenziert und doch so in Stein gemeisselt erscheint die Gesinnung, die sich als Rassismus und Fanatismus äussert.

„Gehasst wird aufwärts oder abwärts, in jedem Fall in einer vertikalen Blickachse, gegen „die da oben“ oder „die da unten“, immer ist es das kategorial „Andere“, das das „Eigene“ unterdrückt oder bedroht…“

Feindbilder verbinden und trennen. Sie verbinden die Einen mit den Gleichgesinnten, den Mithassern, weil allen gemeinsam das Feindbild der Anderen ist, gegen welche sie mit vereinten Kräften vorgehen in ihrem Hass.

„Um dem Hass und dem Fanatismus mit Reinheit zu begegnen, braucht es aber auch zivilgesellschaftlichen (und zivilen) Widerstand gegen die Techniken des Ausgrenzens und Eingrenzens, gegen die Raster der Wahrnehmung, die manche sichtbar und andere unsichtbar machen, gegen die Blick-Regime, die Individuen, nur noch als Stellvertreter von Kollektiven gelten lassen. Es braucht mutigen Einspruch gegen all die kleinen und gemeinen Formen der Demütigung und der Erniedrigung ebenso wie Gesetze und Praktiken des Beistands und der Solidarität mit denen, die ausgeschlossen werden.“

Wir können dem nur begegnen, wenn wir aufhören, Fronten zu bilden, wenn wir das Trennende durch das Verbindende ersetzen. Wir müssen uns bewusst werden, wo Aus- und Eingrenzungen stattfinden, müssen hinter diese Mechanismen blicken und die sie auslösenden Annahmen entkräften. Wir müssen wieder beginnen, Menschen als Individuen zu sehen und nicht als Vertreter eines (fremden und deswegen abgelehnten) Kollektivs. Wir müssen hinschauen, wenn Menschen gedemütigt und diskriminiert werden und uns dagegen stellen. Schweigen ist feige, Schweigen über Hass, Rassismus und Fanatismus, über Gewalt und Diskriminierung ist im Grunde Unterstützung von alledem.

„Nur wenn die Raster des Hasses ersetzt werden, nur wenn „Ähnlichkeiten entdeckt (werden), wo vorher nur Differenzen gesehen (wurden), kann Empathie entstehen.“

Persönlicher Bezug

„Du willst, dass es aufhört. Du willst nicht, dass nur manche sichtbar sind, nur diejenigen, die irgendeinem Ebenbild entsprechen, das jemand einmal erfunden und als Norm ausgegeben hat. Du willst, dass es reicht, ein Mensch zu sein, dass es keine weiteren Eigenschaften oder Merkmale braucht, um gesehen zu werden… Du willst, dass es aufhört, weil es eine Kränkung für alle ist, nicht nur für diejenigen, die übersehen und zu Boden gestossen werden.“

Es fängt vieles schon bei uns selber an. Wenn wir uns selber hassen, stufen wir uns automatisch tiefer ein als andere und der Umstand, dass die Anderen dann über uns stehen, gibt ihnen quasi mehr Wert und damit mehr Rechte – zu Unrecht. Kein anderer hat das Recht auf unsere Psyche oder unseren Körper. Was so offensichtlich klingt, ist im Alltag vieler nicht so einfach. Wir leben in Systemen, welche Wertverteilungen und Marginalisierungen in sich tragen und die in diesen Systemen Lebenden bis tief ins Unbewusste prägen. So sind wir uns der eigenen Abwertung oft nicht bewusst. Und genauso unbewusst fallen Abwertungen anderer aus – wir verhalten uns in einer kulturell geprägten Art und unterstützen damit immer weiter die strukturelle Gewalt.

So gesehen sind wir nicht einfach Opfer einer Kultur, wir haben einiges selber in der Hand. Aber wir leben in ebendieser Kultur und müssen ihre zugrundeliegenden Muster und Prägungen aufdecken und durchbrechen, um zu einer Veränderung zu kommen.

Fazit
Ein analytisches, differenziertes, ausführliches Buch über die gefährlichen Mechanismen und Auswirkungen von Ausgrenzung, Diskriminierung und Hass. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«.Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University.Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage »Krieg erzählen« am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen ›Von den Kriegen. Briefe an Freunde‹, ›Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF‹, ›Wie wir begehren‹, ›Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit‹ sowie ›Gegen den Hass‹.

Angaben zum Buch
Herausgeber: FISCHER Taschenbuch; 3. Edition (23. Mai 2018)
Taschenbuch: 240 SeitenISBN-Nr.: 978-3596296873

Es geht nur gemeinsam

2013 riefen drei Frauen of Color die Bewegung „Black Lives Matter (BLM) ins Leben. Auslöser war der Freispruch eines Wachmanns, nachdem dieser einen 17-jährigen schwarzen Highschoolschüler erschossen hatte. Der Vorfall löste grosse Rassismusdiskussionen aus, nicht nur in den USA. Weitere Todesfälle hielten den Protest gegen Gewalt gegen Schwarze, bzw. People of Color sowie die Diskussionen um die Problematik des Rassismus, welches ein strukturelles ist, am Leben.

Ziel dieser Bewegung und der davon ausgelösten Diskussionen ist es, Rassismus zu bekämpfen, damit People of Colour nicht mehr struktureller Gewalt und Unterdrückung ausgesetzt sind. Die Bewegung hat rund um den Erdball Aufmerksamkeit erregt und zu Protestaktionen geführt. Die Auswirkungen auf die Politik waren eher klein, an kritischen Stimmen mangelt es nicht. Doch das ist Stoff für einen anderen Artikel. Worum es mir hier geht, ist folgendes:

Seit der Bewegung „Black Lives Matter“ kommt es an amerikanischen Schulen immer wieder zu Aufregungen seitens der Eltern. Schulkommissionssitzungen werden gestürmt, aufgeregte Stimmen stören sich an Covid-Massnahmen, an links-liberalem Gedankengut und: an der „Critical Race Theory“. Sie begehren auf gegen Themen wie unbewusstem Rassismus, weissen Privilegien und einigen mehr. Sie finden es inakzeptabel, dass „solche Ideologien“ die Schule unterwandern. Gleichstellung könne kein Ziel sein, da es immer Verlierer geben müsse. Gleichstellung sei eine Gefahr für das Leistungsprinzip und darauf baue Amerika sein Identitätsbewusstsein: Alles ist möglich (wenn auch nur für einige, aber das zu sagen ist sicher auch inakzeptabel für diese Gemüter – oder aber sie erachten dies als ihr gutes Recht). Amerika ist in Gefahr durch solche Ideologien, so die aufgebrachte Kritik.

Die „Critical Race Theory“ (CRT) entstand in den 70er Jahren in den Vereinigten Staaten, sie wurde unter anderem mitentwickelt von Kimberlé Crenshaw, einer Rechtsprofessorin, welche auch den Begriff der Intersektionalität (Überschneidung mehrer Diskriminierungskriterien in einer Person) massgeblich geprägt hat. Im Zentrum der CRT steht die Fragestellung, wie sich Formen von Minderheitsdiskriminierung über Jahrzehnte/-hunderte halten konnten. Crenshaw sieht in den aktuellen Protesten allerdings eher einen Backlash gegen die BLM-Bewegung denn gegen die CRT. Solche Backlashes sind nicht neu, sie führten in der Geschichte jedes Mal zu einem Erstarken der Diskriminierung von Schwarzen. Auch in anderen Bewegungen sieht man diesen Effekt deutlich, zum Beispiel beim Feminismus, wo jeder Backlash das Erstarken des Patriarchats nach sich zog.

Kritiker des CRT propagieren einen umgekehrten Rassismus durch Massnahmen des CRT, zum Beispiel anti-rassistische Diversity-Seminare. Der Begriff des umgekehrten Rassismus ist nicht unumstritten, gibt es doch Stimmen, die sich dafür stark machen, dass es keine Diskriminierung von Weissen gebe, da diese durch ihre Hautfarbe und ihre Geschichte immer per se die Unterdrücker seien und sich deswegen schuldig fühlen müssten. Das erachte ich nicht nur als unangebracht, sondern schlicht und einfach als falsch. Es ist in meinen Augen zudem schlicht nicht zielführend, da es nur Fronten verhärtet oder gar neue schafft. Jeder Mensch kann unterdrückt werden, jeder Mensch kann diskriminiert werden, so wie auch jeder Mensch zum Unterdrücker werden kann – wenn die Situation entsprechend ist. Dass Diskriminierung in Gesellschaften mit strukturellem Rassismus mehrheitlich so gelagert ist, dass die Weissen die Privilegien haben (und damit die Schwarzen die Benachteiligten), lässt sich aus der Geschichte erklären: Fakt ist, dass in der Vergangenheit mehrheitlich Schwarze unterdrückt wurden und zwar von Weissen.

Fakt ist, dass es auch heute noch Rassismus gegen Schwarze gibt, von Weissen. Fakt ist auch, dass wir alle Menschen sind und uns in diesem Menschsein sehr ähnlich (wenn man bedenkt, wie ähnlich wir genetisch sogar Gorillas sind. Es scheint, hier greift das Tocqueville-Paradox, nach dem bei grösser werdender Ähnlichkeit die noch vorliegenden Unterschiede immer sensibler wahrgenommen werden.). Doch das scheint nicht zu reichen als gefühlte Verbindung, um gegenseitigen Respekt und gegenseitige Sorge aufzubringen, von Solidarität ganz zu schweigen. Wo liegt das Problem?

Wir leben in einer Gesellschaft, in der das Individuum das Höchste der Gefühle ist. Das eigene Wohlergehen, die eigenen Entfaltungsmöglichkeiten stehen im Fokus, sehen wir die gefährdet, kriegen wir Angst und fangen an zu kämpfen – gegen die (vermeintliche) Gefahr. Wir wissen zwar, dass wir ohne andere nicht überlebensfähig wären, aber wir suchen uns eine kleine Gruppe Ähnlicher aus, mit denen wir dann gegen den Rest vorgehen. Nur: Das ist sehr kurzsichtig. Schlussendlich leben wir alle gemeinsam auf dieser Welt, die eine Vielzahl von Problemen aufweist. Und bei jedem sind wieder andere involviert und sollten sich zusammenschliessen, um gemeinsam etwas zu erreichen. Dazu müssten wir aber miteinander reden können, was schwer wird, wenn wir beim letzten Problem die anderen zu Feinden erklärt (und gar mund-tot gemacht )haben. Ob wir uns wirklich wohl fühlen in so einer Welt? Wären wir nicht glücklicher mit mehr Verständnis (und damit Solidarität), auch für fremde Bedürfnisse, die immer von (wenn auch anders denkenden, aussehenden, fühlenden) Menschen kommen, wie auch wir welche sind?

Martin Bubers dialogisches Prinzip könnte dabei helfen, in dem es zu Bewusstsein führt, dass jedes „Ich“ nur existiert durch ein „Du“, mit dem es in Beziehung tritt. Dafür muss das Du selbst Subjekt sein, eine Objektifizierung würde zur Entfremdung zwischen den Individuen sowie in der Welt führen (vgl. dazu auch Jaeggi, Entfremdung). Im Wissen also, dass wir mit anderen in den Dialog treten müssen, dass wir in der Welt nur ein gelingendes Leben führen können, wenn wir das anderen ebenso zugestehen, sollten wir im Zeichen der Solidarität dahin gehen, das uns Verbindende zu nutzen, um noch offene Missstände anzugehen. Immer auch im Wissen, dass auch wir in anderen Fällen dieser Solidarität bedürfen, weil keiner allein die Welt verändert.

Leider sieht man es immer wieder in Bewegungen, dass sie sich nach einer Zeit spalten, einzelne Gruppen für ein eigenes Unterthema kämpfen und sich für diesen Kampf gegen die ehemalige Gemeinschaft stellen. Sehr deutlich konnte man das beim Feminismus sehen. Kämpften anfänglich alle gemeinsam für die Rechte der Frau, fühlten sich schwarze Frauen (zu recht) in ihren Belangen untervertreten und zu wenig unterstützt. Es folgte eine Spaltung und damit nicht nur eine Front innerhalb der Gruppe, sondern natürlich auch eine Schwächung derselben nach aussen durch die kleinere Grösse sowie den Energieverlust durch die eigenen Grabenkämpfe. Andere Grabenkämpfe kamen dazu, die jungen Feministinnen bekämpfen die alten, die schwarzen die weissen, die homosexuellen die heterosexuellen und umgekehrt. Kimberlé Crenshaws Ansatz der Intersektionalität könnte da Abhilfe schaffen. Wichtig ist dabei allerdings, nicht innerhalb der Diskriminierungskriterien Hierarchien zu schaffen, sondern Diskriminierung als ein grosses Thema (mit Unterthemen) zu betrachten, das uns alle angeht und das wir alle gemeinsam angehen müssen. Wobei wir wieder zurück beim Dialog wären. Halten wir es doch mit Gottfried Benn:

„Komm, reden wir zusammen
wer redet, ist nicht tot.“

Und: er ist nicht nur nicht tot, er wird beim Zusammen-Reden (statt einfach nur auf den Anderen einreden) gehört. Dieses gegenseitige Gehörtwerden schafft eine neue Lebendigkeit und Kraft, für die gemeinsame Sache einzustehen.

Kein Privileg auf Rassismus

Kürzlich sagte Whoopi Goldberg in einer TV-Show, beim Holocaust sei es nicht um Rasse gegangen, sondern um die Unmenschlichkeit von Menschen gegen Menschen.

«The Holocaust isn’t about race. It’s about men’s inhumanity to men. These are two white groups of people. The minute you turn it into ‹race›, it goes down this alley. Let’s talk about what it is, it is about how people treat each other. It is a problem.»*

Diese Aussage ist in zweierlei Hinsicht problematisch: Man könnte sie als Verharmlosung des Holocaust auffassen, was auch so passiert ist. Dass sich Goldberg von dieser Sicht distanzierte, spielte dabei keine Rolle mehr. Und ja: Eine Verharmlosung oder eine Negierung des Holocausts ist ein moralisches Verbrechen und sollte – dies meine Meinung, die ich auch in meiner Dissertation vertreten habe – auch rechtlich bestraft werden. Völkermordleugnung (Verharmlosung qualifiziert als solche) stellt ein zweites Verbrechen gegen die Opfer dar, weil diese in einem Punkt, der ihre Persönlichkeit so nachhaltig prägte, verleugnet und damit (ein zweites Mal) ausgelöscht werden. Aber: Das steckt in Goldbergs Aussage nicht drin. Goldberg zweifelt nicht die Schwere und Grausamkeit des Holocausts an, sie kritisiert den Umstand, dass man als Beweggrund Rassismus sehe, da die Opfer ja weiss waren.

In Amerika ist es in der Tat so, dass Rassismus hauptsächlich an der Hautfarbe festgemacht wird und das grundsätzlich so, dass weisse Menschen immer die Rassisten, schwarze die Opfer sind. Rassismus gegen Weisse gibt es nicht, weil Rassismus strukturell sei und die Unterdrückung der Schwarzen Geschichte hätte. Dies die Begründung einer Meinung, die mittlerweile auch in Europa vermehrt vertreten wird. Wenn man diese Hypothese (und mehr ist es nicht) bestätigt, liegt Whoopi Goldberg mit ihrer Aussage richtig.

Wenn man einen Blick in die Geschichte wagt, wird es komplizierter. Ursprünglich stammt der Begriff der Rasse aus der Biologie und bezeichnet da (sehr umstritten) eine Gruppe, welche aufgrund willkürlich gewählter Kriterien Ähnlichkeiten aufweisen. Später hat man den Begriff angepasst und nur noch auf Unterarten von Arten angewendet, bis man ihn in der Biologie aus der Tierwelt gestrichen hat. Dass man nun bei Menschen immer noch von Rassen sprechen will, ist fragwürdig. Gerade wenn es darum geht, Rassismus zu eliminieren, wäre es sinnvoll, Rassengrenzen aufzulösen. Indem nun aber Schwarze sich dermassen von Weissen abgrenzen, zementieren sie den Rassenbegriff selber und schreiben sich in der jüngeren Diskussion den Opferstatus mit auf den Leib.

Es ist unbestritten, dass Menschen ohne weisse Hautfarbe, je dunklhäutiger desto mehr, über Jahrhunderte Opfer von Ausbeutung, Unterdrückung und Gewalt worden sind, man denke an die Sklaverei, an das Apartheid-System, Kolonialisierungen. Auch innerhalb von Ländern wurde Hautfarbe oft als Kriterium für den Status in der Gesellschaft gesehen, man denke nur an das Kastensystem in Indien (allerdings ist auch das durch Weisse ausgelöst worden bei der arischen Eroberung Indiens und dessen Kolonialisierung).
Aus dem hier gesagten stellen sich folgende Fragen:

  1. Ist es sinnvoll, überhaupt noch mit dem Begriff Rasse zu argumentieren und kann man ihn auf ein Merkmal, nämlich die Hautfarbe, reduzieren?
  2. Ist der Rückgriff auf ein biologisches Merkmal wirklich sinnvoll, wenn man die Diskussion mit der um Sexismus vergleicht, bei der nicht mal mehr das Geschlecht biologisch erklärt werden soll (unabhängig aller optischen Merkmale)?

Zu Punkt 1: Rassismus ist eine eher pseudowissenschaftliche Analogie auf die Biologie, welche den Status eines Menschen aus dessen Erbgut ableiten will, um daraus eine quasi gottgegebene Ordnung und die eigene Überlegenheit zu propagieren. Kriterien sind dabei neben der Hautfarbe auch die Religion, die Sprache und die Kultur. Wenn wir noch einmal einen Blick in die Geschichte wagen, gab es verschiedene Stufen des Rassismus. Zählten im Mittelalter mehrheitlich mythisch und religiös geprägte Kriterien dazu, Rassismus zu begründen, rückten zur Zeit der Aufklärung biologische wie die Hautfarbe ins Zentrum. Ein Zitat des grossen Toleranz-Philosophen Voltaire:

„Die Rasse der Neger** ist eine von der unsrigen völlig verschiedene Menschenart, wie die der Spaniels sich von der der Windhunde unterscheidet […] Man kann sagen, dass ihre Intelligenz nicht einfach anders geartet ist als die unsrige, sie ist ihr weit unterlegen.“***

Im 18. Jahrhundert bildete sich in der Tat ein biologisch geprägter Rassismus heraus, in welchem optische Kriterien mit geistigen und anderen individuellen Fähigkeiten verknüpft wurden. Seit da ist zum Glück viel passiert. Wissenschaftliche Erkenntnisse zeigen, dass es keine wissenschaftliche Basis für rassische Unterscheidungen gibt, die Unesco deklarierte die Einteilung in Rassen als beliebig und den Rassenbegriff als nichtig und damit abzulehnen. Viele Kämpfe gegen Rassismus, viele Bewegungen für gleiche Rechte, viele weitere Massnahmen zur Bewusstseinsbildung haben seit da dazu geführt, dass Rassismus a) thematisiert, b) mehrheitlich abgelehnt und c) wo nicht erfolgreich, gesetzlich verfolgt wird. Es ist immer noch viel zu tun, aber es ist auch schon viel getan.

Wer kann nun aber Rassismus erfahren? In Bezug auf die Situation in gewissen Quartieren in Amerika kam der Begriff des umgekehrten Rassismus auf. Weisse konnten sich kaum in von schwarzen dominierte Quartiere wagen, da sie mit Gewalt rechnen mussten. Betrachtet man die heutige Diskussion, wird der Begriff des umgekehrten Rassismus von Schwarzen abgelehnt mit der Begründung, Rassismus sei immer strukturell und aus der Geschichte heraus nur auf Schwarze anzuwenden. Ein weisser Mensch ist daher per se durch seine Hautfarbe Rassist. Mehr noch: Äussert er sich gegen Rassismus, ist das einem Übergriff gleichzusetzen, ist er betrübt über einen rassistischen Vorfall, sind das „White tears“ oder „white fragility“, sprich, der Weisse will sich nur profilieren und dem Schwarzen seinen Opferstatus dadurch absprechen, indem er sich von diesem trösten lässt als Quasi-Opfer.

Das ist der Punkt, an dem ich denke, wir leben in einem Irrenhaus. Da kämpfen wir so lange gegen Rassenbegriffe, Klassenbegriffe, sexistische Begriffe und Übergriffe, Geschlechterrollen und mehr – und dann gehen einige dahin und errichten all die Begriffe wieder und schiessen wild um sich. Sie zementieren ihre eigene Opferrolle, stigmatisieren Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe und Gefühle, verbieten die freie Meinungsäusserung aus der Überzeugung heraus, nur ihre eigene Erfahrung tauge als Basis einer Meinung. Das macht mich wütend. Nicht weil es mich trifft, nein, weil es der Sache nicht dient, sondern schaden. Wir streiten nun über solchen Mist, statt gemeinsam die noch vorherrschenden Missstände anzugehen. Wo ist das, was bell hooks Sisterhood nannte? Oder Audre Lorde? Schreibt man sich die nur gerne als Flaggenfiguren auf die eigene Flagge und kocht dann doch ein anderes Süppchen?

Ich möchte hier anfügen: Nein, ich weiss nicht, wie es sich anfühlt, Opfer rassistischer Handlungen aufgrund schwarzer Hautfarbe zu sein. Andere Diskriminierungen kenne ich, diese nicht. Ich weiss nicht, wie sich ein anderer Mensch fühlt (im Sinne von Thomas Nagels „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“), aber ich habe vielleicht genug Empathie, eine Ahnung zu haben davon. Oder anders: Wer kann überhaupt wissen, wie sich ein anderer fühlt?

Nehmen wir an, eine Frau (Anna) verliert ihr Kind. Kann eine Nicht-Mutter erahnen, was in Anna vorgeht? Wohl kaum vollumfänglich, aber doch ansatzweise dadurch, dass sie weiss, wie sich grosses Leid anfühlt. Kann es eine weisse Mutter besser, wenn Anna weiss war? Kann es eine schwarze gleich gut wie eine weisse? Kann es ein weisser Mann besser als eine schwarze Frau oder ein schwarzer Mann? Ich weiss es nicht, ich war weder je schwarz noch war ich je das, was man landläufig einen Mann nennt. Sie alle können es aber genauso wenig wie ich. Qua unseres Menschseins fühlen wir uns ein – darauf hoffe ich im Allgemeinen, Entartungen (und ich zähle fehlende Empathie dazu) gibt es immer, doch sollte man daran nicht die die gesamte Menschheit aufhängen.

Damit sind wir bei Punkt 2: Wenn wir schon das Geschlecht nicht mehr biologisch definieren, wo doch dabei durchaus mehr biologische Kriterien vorhanden sind als bei der ominösen Rasse, wäre es an der Zeit, den Rasse-Begriff endgültig in die Tonne zu treten. Das heisst nicht, dass es keinen Rassismus mehr gibt, das heisst nicht, dass es nicht noch viel zu tun gibt und wir mit offenen Augen und Herzen und wachem Bewusstsein in der Welt sein sollen. Aber es wäre Zeit, dies endlich gemeinsam zu tun und nicht ständig neue Fronten zu bilden durch Opfer- und Täterzuschreibungen.

Um zurück zum Ausgangspunkt zu kommen: Goldbergs Aussage war unangebracht, unnötig und missverständlich (insofern, als man es schon so verstehen könnte, dass es schlimmer gewesen wäre, wenn es tatsächlich um Rasse gegangen wäre – was sie aber nicht gesagt hat und auch bestreitet, gemeint zu haben), aber sie war Teil eines aktuellen Diskurses, in welchem Rasse auf ein Kriterium, nämlich das der Hautfarbe festgelegt ist. Den Holocaust hat sie damit nicht verharmlost, aber ein Thema ans Licht gebracht, das auf den Tisch muss: Rasse ist etwas, das es nicht mehr geben sollte als Argument. Für keinen. Wir müssen lernen als Gesellschaft, Rassismus auszumerzen, wir sollten lernen als Einzelne die je eigene Verantwortung zu übernehmen für unser Verhalten und unseren Beitrag zu Verhalten, welches rassistisch motiviert ist.

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*https://www.watson.ch/!400387301?utm_medium=social-user&utm_source=social_app&utm_source=daily&utm_medium=email&utm_campaign=20220202
**Ich bleibe hier bewusst beim Original-Wort, weil ich die Streichung desselben als kontraproduktiv, den Diskurs um die Gründe der Verwendung als wertvoll erachte für ein wachsendes Bewusstsein.
***Léon Poliakov /Christian Delacampagne /Patrick Girard, Rassismus. Über Fremdenfeindlichkeit und Rassenwahn, Luchterhand-Literaturverlag, Hamburg 1992, ISBN 3-630-71061-1, S. 77.

Carolin Emcke: Ja heisst ja und…

Ein Monolog

Inhalt

«Ich schreibe, als ob ich murmeln würde: leise, mehr vor mich hin als schon an andere gerichtet. Es ist eher ein Nachdenken mit der Tastatur. Schreibend denkt es sich genauer.»

Die #MeToo-Debatte hat ein Thema zum Gespräch gemacht, das vorher totgeschwiegen wurde: Sexuelle Gewalt. Wie werden Machtstellungen missbraucht, um Menschen auszunutzen? Wo kommt diese Gewalt her und wie können wir die zugrundeliegenden Strukturen entlarven und aufbrechen? Wie können wir unsere Welt zu einer sichereren für alle machen, zu einer, in welcher wir gleichberechtigt miteinander leben?

Carolin Emcke nimmt sich diesen Fragen an, obwohl sie schon am Anfang weiss, dass es schwer sein wird, abschliessende Antworten zu finden. Anhand von persönlichen Erlebnissen und Analysen der Gesellschaft, versucht sie die komplexen Verhältnisse von Macht, Gewalt, Sexualität und Lust zu durchdringen. Entstanden ist ein Monolog, der zum Dialog mit dem Leser aufruft.

Weitere Betrachtungen

«Um etwas kritisieren zu können, muss man es sich vorstellen können und wollen. Um sich etwas vorstellen zu können, muss man es benennen können. Wenn Gewalt abstrakt bleibt, wenn es für sie keine konkreten Begriffe und Beschreibungen gibt, bleibt sie
unvorstellbar,
unwahrscheinlich,
unantastbar.»

Viele Themen werden todgeschwiegen, als denke man, sie existieren nicht, wenn man nicht darüber spricht. Dazu kommt, dass Themen wie Sexualität und sexueller Missbrauch mit Scham und oft auch Schuld behaftet wird. Das ist bei der einvernehmlich gelebten Sexualität schon schade, aber bei sexueller Gewalt ist es verheerend. Wenn Opfer von Missbrauchserfahrungen zum Schweigen verdammt sind, weil sie nicht wissen, wie und mit wem sie über ihre Erfahrung reden können, wenn sie keine Worte dafür haben, was passiert ist, keine Sprache, die Tat und Leid abbilden, bleiben sie damit allein, ungesehen, verletzt.

«Ist ahnungslos, wer erwartet, nicht gedemütigt zu werden?
Ist selbst schuld, wer erwartet, nicht belästigt zu werden?»

Zur Sprachlosigkeit kommt die Angst: Wenn Opfer von sexueller Gewalt befürchten müssen, dass ihnen nicht geglaubt wird, man sie selber oft zum (Mit-)Schuldigen macht, werden sie es sich zweimal überlegen, ob sie das tun sollen, da sie dadurch quasi einen zweiten Missbrauch erleben würden. Sexuelle Gewalt ist nie die Schuld des Opfers, egal, ob dieses einen kurzen Rock trug, sich in düsteren Etablissements aufhielt (zumal der häufigste Missbrauch im Freundes- und Familienkreis vorkommt) oder dergleichen. Sexueller Missbrauch ist ein Unrecht, ist eine begangene Tat von einem Täter, welcher allein die Schuld daran trägt. Solange dieses nicht endlich in allen Köpfen angekommen ist, werden Opfer sich zusätzlich zur Tat auch noch mit Schuld- und Schamgefühlen quälen.

«Ohne die Fähigkeit und Möglichkeit des Nachdenkens jenseits der eigenen Bedürfnisse, jenseits der eigenen Gruppe, Klasse, Lebensform, ohne das Entwickeln von Begriffen und Vergleichen zwischen unterschiedlichen Erfahrungen kann keine Gerechtigkeit, keine Anerkennung, keine Freiheit gedacht werden.»

Bei verschiedenen Diskriminierungsformen, sei es Sexismus, Rassismus oder die Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts, gibt es immer wieder Stimme, die finden, dass Ihnen nie etwas passiert sei. Das ist toll, nur hilft es denen, denen es passierte, nicht. Auch Vorschläge, man solle weniger empfindlich sein, sich halt wehren, alles nicht so eng sehen, gehen am Ziel vorbei, da ein strukturelles Unrecht ein Unrecht bleibt und nicht durch ein dickes Fell im Einzelfall zu beheben ist. Ob es wünschenswert ist, immer auf der Hut und im Abwehrmodus zu sein, weil es normal scheint, angegriffen zu werden, stellt sich als weitere Frage – ich denke nein. Wollen wir wirklich eine Welt, in der Gerechtigkeit und Freiheit Werte sind, die gelebt werden, brauchen wir den Blick aufs Grosse Ganze, über den eigenen Tellerrand hinaus. Wir brauchen die Empathie, uns in das Leid der Opfer von Diskriminierung hineinzufühlen und die Bereitschaft, Missstände verstehen zu wollen.

Persönlicher Bezug

«Ob wir nachhaltig etwas verändern, wird nicht zuletzt davon abhängig, ob Männer auch als Verbündete wahrgenommen und angesprochen werden…ob wir nachhaltig etwas verändern, wird auch davon abhängen, ob wir das Wir… immer wieder erweitern, damit sich mehr Menschen mit den unterschiedlichen Erfahrungen angesprochen fühlen.»

Ich mag keine Fronten, keine Grenzen – und doch sieht man sie, erlebt man sie immer wieder im Leben. Sobald du anders bist, sprich, von anderen als anders definiert wirst, womit sie sich implizit als Norm setzen, bist du auf der Gegenseite. Unser Weltbild ist so aufgebaut, das geht bis zu den weisen Griechen zurück und zieht sich durch die ganze (Philosophie)Geschichte. Zu denken, dass wir da einfach mal ausbrechen können, ist wohl eine Illusion. Und doch denke ich oft, es wäre der einzige Weg hin zu einem Miteinander, bei welchem ich immer denke: «Gemeinsam sind wir stark.» Wenn wir die Welt verändern wollen, die eine gemeinsame Welt sein soll (manchmal kommt es mir so vor, als ob jeder denkt, einer anderen Welt anzugehören, weswegen er sich locker abgrenzen kann), sollten wir unsere Kräfte bündeln.

Ich sehr heute oft das Gegenteil: Gruppierungen, die sich hohe Ziele wie Gerechtigkeit, Antirassismus, Antiklassismus, Antisemitismus, Sexismus, und mehr auf die Fahnen schreiben, schiessen locker gegen andere, obwohl eigentlich klar ist, dass alles zusammenhängt, dass all die Formen des Unrechts gegen Menschen ähnlichen Ursachen geschuldet sind und Menschen auch oft kumuliert treffen.

In der östlichen Philosophie herrscht das Bild, dass wir alle eins sind, dass alles miteinander verbunden ist, vor. Ein Bild ist, dass wir die Welt durch den Atem in uns aufnehmen und uns an die Welt abgeben. Ich mag dieses Bild. Nun ist es nicht so, dass alle Asiaten durch diese Philosophie friedliche Menschen wären, aber es kümmert sich ja auch nicht jeder um Philosophie im Alltag. Manchmal wäre es wünschenswert.

Fazit
Ein mitreissender, tiefgründiger, intelligenter Monolog über Gewalt und Missbrauch sowie unseren Umgang damit. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Carolin Emcke, geboren 1967, studierte Philosophie in London, Frankfurt/Main und Harvard. Sie promovierte über den Begriff »kollektiver Identitäten«.
Von 1998 bis 2013 bereiste Carolin Emcke weltweit Krisenregionen und berichtete darüber. 2003/2004 war sie als Visiting Lecturer für Politische Theorie an der Yale University.
Sie ist freie Publizistin und engagiert sich immer wieder mit künstlerischen Projekten und Interventionen, u.a. die Thementage »Krieg erzählen« am Haus der Kulturen der Welt. Seit über zehn Jahren organisiert und moderiert Carolin Emcke die monatliche Diskussionsreihe »Streitraum« an der Schaubühne Berlin. Für ihr Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Theodor-Wolff-Preis, dem Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, dem Lessing-Preis des Freistaates Sachsen und dem Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Bei S. Fischer erschienen ›Von den Kriegen. Briefe an Freunde‹, ›Stumme Gewalt. Nachdenken über die RAF‹, ›Wie wir begehren‹, ›Weil es sagbar ist: Über Zeugenschaft und Gerechtigkeit‹ sowie ›Gegen den Hass‹.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ ‎ S. FISCHER; 3. Edition (22. Mai 2019)
Gebundene Ausgabe: 112 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3103974621

Zu kaufen in jeder Buchhandlung vor Ort und online u. a. bei AMAZON.DE und ORELLFUESSLI.CH

Judith Sevinç Basad: Schäm dich!

Wie Ideologinnen und Ideologen bestimmen, was gut und böse ist

Inhalt

«Es scheint also nicht nur eine Sehnsucht danach zu geben, Weisssein per se zu verteufeln und abzuwerten. Bizarr ist auch, wie man sich auf die Suche nach einer Person macht, die ein noch grösseres Opfer ist als man selbst.»

Judith Sevinç Basad spricht von Meinungsmache, welche totalitären Charakter angenommen habe, wenn sie Themen wie #MeToo, die Stigmatisierung Weisser zu Rassisten, der Verurteilung alter weisser Männer, Cancel Culture und weitere behandelt. Die Social-Justice-Warriors verbreiten eine Ideologie, welche keinen Widerspruch duldet, weil diese die einzig mögliche Wahrheit darstellt. Wer trotzdem anderer Meinung ist, wird schändlicher Motive bezichtigt und er soll sich schämen – zusätzlich zur falschen Meinung auch für seine weisse Hautfarbe, denn die offenbart ihn schon als Rassisten, egal, was er tut oder sagt.

Weitere Betrachtungen
Judith Sevinç Basad hat mit diesem Buch einen Gegenentwurf entworfen zu der aktuellen Debatte um Feminismus und Rassismus. Sie kritisiert linke Kriegerinnen, die sich soziale Gerechtigkeit auf die Fahnen schreiben und die eigene Meinung als richtige definieren, welche keinen Widerspruch duldet. Sie werden damit dem vergleichbar, was Hannah Arendt als Methoden totalitärer Systeme bezeichnet: Man führe die verschiedenen Mitglieder einer definierten Gruppe auf einen typischen Vertreter derselben zusammen und teile dann das System in gut (die Eigenen) und schlecht (der definierte andere Gruppenmensch) zusammen. Eine so gleichgeschaltete Gruppe lässt sich in der Folge besser manipulieren.

Basad beschreibt auf eine unaufgeregte, sachliche und gut abgestützte und mit Beispielen belegte Art die heutigen Zustände an der Front der Social Justice Warroirs und ihren treuen Folgern. Sie weist auf die so entstehenden Gefahren und Missstände hin und sensibilisiert für einen bewussteren Blick auf Forderungen und Anschuldigungen der beschriebenen Kriegerinnen, welche zwar im Ansatz teilweise durchaus legitim erscheinen, in dieser Vehemenz und Verallgemeinerung aber zu einer Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen führt. Es sollen hier nur einige Beispiele angeführt werden:

In den letzten Jahren wurden Geschlechterzuschreibungen immer mehr hinterfragt und geöffnet. Die Überzeugung, dass es jedes Menschen Recht sein soll, seine eigene Geschlechtsidentität definieren zu können, setzte sich durch, was ein Durchbruch war und Menschen aus der Stigmatisierung (früher gar Kriminalisierung) befreien sollte. Aktuell scheint das extreme Züge anzunehmen:

«Zugespitzt heisst das: Die weisse heterosexuelle ‘Normalität’ muss zerstört werden, weil sie rassistisch und sexistisch ist.»

Alles, was man als frühere Norm definiert, wird nun verteufelt. Nach den weissen Männern kamen die Weissen überhaupt, nun sind die Heterosexuellen an der Reihe. Dass man dabei eigentlich mit umgekehrten Vorzeichen fortführt, was man bekämpfen wollte, nämlich die Diskriminierung von Menschen aufgrund einer zugeschriebenen Gruppenzugehörigkeit, wird vehement zurückgewiesen, da all die, welche zur Norm gehörten eben darum gar nicht diskriminiert werden könnten.

«Die gendergerechte Sprache dagegen hat nichts mit natürlichem Sprachwandel zu tun. Denn beim Gendern handelt es sich nicht um harmlose Ausdrücke, die neu auftreten, sondern um eine politische Agenda, die – wenn möglich – von oben durchgesetzt werden soll, um moralisch zu erziehen.»

Einen weiteren Angriff startet Basad auf die geforderten Sprachanpassungen. Das Argument, Sprache sei immer im Wandel, lässt sich dabei nicht gelten, sondern führt Studien an, welche widerlegen, dass sich Frauen früher nicht angesprochen fühlten bei der Nennung eines generischen Maskulinums. Sie führt (korrekt) an, dass dieses mit dem biologischen oder sozialen Geschlecht nichts zu tun hat, sondern eine grammatische Eigenschaft ist.

«Alle Weissen sind rassistisch. Ihre Gesten sind rassistisch. Ihr Verstand ist rassistisch. Ihre Emotionen sind rassistisch. Ihre Handlungen sind rassistisch. Alles an ihnen ist rassistisch, weil sie eine weisse Hautfarbe haben.»

Dieses Fazit zu den vorherrschenden Meinungen zieht Basad am Schluss. Sie bezieht sich dabei auf Aussagen, die behaupten, Weisse seien per se rassistisch und könnten keinen Rassismus erfahren, sondern sollten sich eher schämen dafür, weiss zu sein. Es gibt Schulprogramme, die weisse Kinder in eine «Identitätskrise» stürzen sollen, um sie von der Neurose des Konsens zu heilen, Rassismus sei zu verurteilen, da sie, als Weisse, nicht nicht rassistisch sein könnten. Man muss nicht sehr weit in der Geschichte zurückzugehen, um ähnliche Zuschreibungen und Verurteilungen zu finden – die grausamen Auswüchse damals sind sicher noch in vielen Köpfen präsent.

Persönlicher Bezug

«Weisse, so heisst es da, würden sich nur deswegen gegen den Rassismus-Vorwurf wehren, weil ihre ‘weisse Psyche’ an einer ‘weissen Neurose’ leide. ‘Weisse Emotionen’ seien krankhafter ‘emo-kognitiver Zustand’, der zu ‘weisser Angst’, ‘weisser Furcht’, ‘weisser Wut’, ‘weisser Traurigkeit’, ‘weisser Hilflosigkeit’, ‘weisser Schuld’ und ‘weisser Scham’ führe. Diese ‘weissen Emotionen’ seien ein ‘Motor von Rassismus’.»

Ich habe in letzter Zeit viele Bücher junger Frauen zum Thema Rassismus gelesen. Ich war erschüttert, betroffen, der tiefen Überzeugung, dass das nicht immer so weiter gehen darf, dass etwas getan werden muss, um Rassismus von Generation zu Generation weiterzugeben. Dass aber gerade diese Betroffenheit eine eigene Neurose sei, die mich zu einer psychisch Kranken herabsetzt, lässt meinen Mund doch offenstehen. Dass ich aufgrund meiner Hautfarbe per se ein Rassist sein soll, macht mich sprachlos, da eine solche Zuschreibung ohne Kenntnis meiner Person und meiner Einstellung als Unrecht erscheint, das ich nicht gewillt bin, hinzunehmen.

Ich bin überzeugt, dass Rassismus wie Sexismus (auch) ein strukturelles Problem ist, das wir mit vereinten Kräften angehen sollten. Ich sehe wenig Sinn darin, uns immer wieder in neue Gruppen zu teilen und die anderen zu bekämpfen. Ich sehe wenig Erfolg für die Sache, wenn unsachliche Behauptungen und individuelle Befindlichkeiten zu allgemeingültigen Wahrheiten verklärt und mit Vehemenz und blindem Eifer durchgesetzt werden sollen. Bücher wie dieses können helfen, den Blick wieder zu schärfen, in der Hoffnung, dass wir endlich aufhören, Fronten zu schaffen.

Fazit
Ein sachlicher, fundierter, intelligenter Gegenentwurf zu aktuellen, teilweise radikalen Positionen in Bezug auf Rassismus, Sexismus und Feminismus.

Autorin
Judith Sevinç Basad studierte Germanistik und Philosophie und schloss ihren Master mit einer Arbeit über totalitäre Tendenzen in der queerfeministischen Bewegung ab. Sie arbeitete für die Berliner Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, die einen geschlechtergerechten und liberalen Islam praktiziert und publizierte u.a. für WELT, FAZ, NZZ und den Autoren-Blog „Salonkolumnisten“. Im Jahr 2019 absolvierte Basad ein Zeitungsvolontariat im Feuilleton der NZZ. Seit 2020 erscheint ihre Online-Kolumne „Triggerwarnung“ im Cicero. Sie lebt als freie Autorin in Berlin.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ Westend; 1. Edition (29. März 2021)
Taschenbuch: 224 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3897713376

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bell hooks: Feminismus für alle

Inhalt

«Im Grunde meines Herzens wusste ich, dass es uns nie gelingen würde, eine erfolgreiche feministische Bewegung auf die Beine zu stellen, wenn wir nicht jede und jeden, weiblich wie männlich, Frauen wie Männer, Mädchen wie Jungen, zu ermutigen können, sich dem Feminismus zu nähern.»

Feminismus ist nicht neu – trotzdem wissen wenige, was der Begriff und die dahinterstehende Bewegung wirklich bedeuten. Klischeevorstellungen herrschen in den Köpfen vor und sorgen für Ablehnung. bell hooks möchte damit aufräumen und erklärt in diesem Buch auf leicht verständliche Weise, was Feminismus will und wieso es ihn braucht.

Sie ruft dazu auf, alle ins Boot zu holen, da nachhaltige Veränderungen für alle nur gemeinsam erreicht werden können. Stimmen, die behaupten, Feminismus sei nicht mehr nötig, da alles erreicht wäre, zeigt sie auf, dass es noch immer Gewalt und Ausbeutung an und von Frauen, Sexismus und ungerechte Arbeitsbedingungen gibt. Dem können wir nur mit vereinten Kräften entgegentreten.

Weitere Betrachtungen

«Alles, was wir in unserem Leben tun, hat eine theoretische Grundlage. Ob wir nun bewusst ergründen, warum wir eine bestimmte perspektive haben oder eine bestimmte Handlung ausüben, es gibt immer auch ein zugrundeliegendes System, das unsere Gedanken und Handlungen prägt. »

Es ist wichtig, dass sexistisches Verhalten nicht per se das Verhalten eines einzelnen Menschen, sondern dass er eingebettet in ein System ist. Genauso ist es auch mit anderen Verhaltensweisen und Denkarten. Diesen auf den Grund zu gehen, sie zu analysieren, um sie durchbrechen zu können, ist der erste Schritt zur Besserung.

«Klasse ist viel mehr als Marx’ Definition vom Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Klasse umfasst dein Vergalten, deine grundlegenden Einstellungen, welches Verhalten dir beigebracht wird, was du von dir selbst und von anderen erwartest… In der Tat fällt es heute wie früher weitaus mehr Feministinnen leichter, ihre von weisser Vorherrschaft geprägten Ansichten abzulegen als ihren Klassenelitismus.»

In der heutigen Zeit sind die Stimmen, die Rassismus vor den Feminismus stellen, laut. Was aber auch den Vertreterinnen davon meist abgeht, ist der Blick auf die durch Armut benachteiligten Frauen in der Gesellschaft. Gerade die finanziellen Verhältnisse, die soziale Schicht, in der jemand aufwächst, hat einen sehr prägenden Einfluss auf das weitere Leben eines Menschen. Dieses sollte immer im Blick bleiben bei allem, was wir anstreben. Rawls meinte in seiner «Theorie der Gerechtigkeit», dass ein System dann gerechter wird, wenn eine Veränderung auch den am schwächsten Gestellten besser hinstelle.

«Die einzige Hoffnung auf feministische Befreiung liegt in der Vision eines sozialen Wandels, die dem Klassenelitismus den Kampf ansagt.»

Schon Simone de Beauvoir war anfangs der Ansicht, dass die Umsetzung des Sozialismus das Frauenproblem von selber lösen würde. Sie rückte später davon ab. Die Unterdrückung der Frauen fusst auf mehr Kriterien als nur dem Klassenproblem. Trotzdem ist Armut eines der zentralen Frauenprobleme. Das «Handbuch Armut Schweiz», von der Caritas herausgegeben, listet Zahlen auf, nach denen vor allem Frauen (alleinerziehende Mütter, Migrantinnen, alte Frauen) von Armut gefährdet sind. Dieses Problem gilt es anzugehen, nicht statt anderer feministischer Fragen, aber als eine und zwar eine wichtige.

Persönlicher Bezug

«Wir begannen, eine Vision von Schwesterlichkeit zu verbreiten, in der alle unsere Realitäten artikuliert werden konnten.»

Betrachte ich die Geschichte des Feminismus, zeigen sich drei Wellen. Nach jeder fing man von vorne an. Erreichtes der letzten Kämpferinnen ging verloren, vergessen oder wurde mit Füssen getreten. Heute zeigt sich uns ein Bild, in welchem junge Feministinnen die «Altfeministinnen» angreifen, schwarze gegen weisse schiessen, die einen sich mehr als Opfer verstanden haben wollen als andere – Fronten, wohin man schaut, anstatt das man hingeht im Sinn der Sache und gemeinsam den Dialog führt und Wege sucht, miteinander zum Ziel zu kommen.

Immer wieder kommt die Frage auf, wie es sein könne, dass Frauen, die doch die Hälfte der Menschheit ausmachen, von der anderen Hälfte unterdrückt werden: Vermutlich genau drum: Sie treten nicht vereint als Hälfte auf, sondern schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein, so dass am Schluss lauter kleine Grüppchen in die Welt rufen und damit weniger gehört werden, als möglich wäre.

Fazit
Eine leicht lesbare, sehr fundierte, tiefgründige und aufschlussreiche Einführung in den Feminismus, in seine Ziele und was es braucht, diese zu erreichen. Sehr empfehlenswert.

Autorin
hooks, bellbell hooks, geboren 1952 und gestorben 2021 in Kentucky, war Literaturwissenschaftlerin, Autorin und Aktivistin. Schon als junge Studentin schloss sie sich der feministischen Bewegung an und machte sich 1981 gleich mit ihrem ersten Buch „Ain’t I a Woman: Black Women and Feminism“ einen Namen. In den nachfolgenden Jahrzehnten hat sie unzählige Werke veröffentlicht, in denen sie sich mit Rassismus, Sexismus und Klassismus beschäftigt, und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden. Auf Deutsch erschien zuletzt 2020 „Die Bedeutung von Klasse“ im Unrast Verlag.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ Unrast; New Edition (5. Oktober 2021)
Taschenbuch: 148 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3897713376

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Emilia Roig: Why We Matter. Das Ende der Unterdrückung

Inhalt

«Das Patriarchat heisst für Frauen, sich so klein zu machen wie möglich, nicht zu viel Platz einzunehmen, nicht zu viel zu sprechen, nicht zu laut zu lachen, nicht zu klug zu erscheinen, nicht aufzufallen (ausser aufgrund der Schönheit). Klein zu bleiben, damit sich Männer nicht bedroht fühlen.»

Wir alle wünschen uns eine Welt, in der wir trotz unserer Unterschiede als Gleichberechtigte zusammenleben können. Leider sind wir davon noch weit entfernt, denn noch immer sind Unterdrückung und Diskriminierung an der Tagesordnung. Anhand von persönlichen Erfahrungen und sachlichen Erläuterungen beleuchtet Emilia Roig Themen wie Rassismus, Homofeindlichkeit, Antisemitismus, Queerness und Feminismus und erklärt, worauf eine gerechtere Welt achten müsste.

Weitere Betrachtungen

«Die Flexibilisierung der Geschlechternormen, die in der westlichen Welt im letzten Jahrhundert durch die feministische Bewegung in Gang gesetzt wurde, ging bisher vor allem in eine Richtung. Frauen durften allmählich ihre männliche Seite ausdrücken durch Kleidung, Verhalten und gesellschaftliche Rollen, die sich über die häusliche Sphäre hinaus erstrecken. Das Patriarchat überwinden, heisst aber auch, die Männer von den rigiden patriarchalen Erwartungen zu befreien. »

Das Patriarchat wird häufig als eine von Männern gemachte Welt wahrgenommen, die Frauen unterdrückt. Dies ist nicht nur falsch, aber es greift zu wenig weit. Auch Männer werden in Rollen gezwängt, denen sie kaum entkommen können. Um zu einer gerechteren Welt zu gelangen, in welchen alle frei entscheiden können, wie sie leben wollen, gilt es, auch die Männer in den Blick zu nehmen und für alle die Zwänge und Einschränkungen zu eliminieren. Wir werden das Ziel einer gleichberechtigten Welt nicht erreichen, wenn wir Fronten bauen und gegeneinander antreten.

«Auch wenn jede Form von Rassismus ihre spezifischen Eigenschaften hat, verfügt sie immer über zwei wichtige Merkmale: die Konstruktion der Gruppe als unterlegen und ihre Entmenschlichung bis hin zur Vernichtung.»

Rassismus ist ein grosses Thema, noch immer ist die Unterdrückung von Menschen anderer Hautfarbe und Herkunft sehr präsent in unserer Welt, in vielen Ländern kam es in den vergangenen Jahren zu einem Rechtsrutsch, was das Problem noch vergrössert. Wir sind alle gefordert, nicht wegzuschauen, hinzustehen, einzuschreiten. Es ist wichtig, dass wir rassistische Äusserungen und Handlungen als solche erkennen und nicht tolerieren. Das ist der einzige Weg hin zu einer Welt, in der wir alle als Gleiche und Freie zusammenleben können.

«Die Schäden, die Rassismus bei einem Menschen hinterlässt, können durch radikale Akzeptanz – durch Selbstliebe – geheilt werden. Dafür muss Rassismus als System der Entmenschlichung aber nicht nur anerkannt, sondern auch dekonstruiert werden.»

Der einzelne Mensch leidet unter Rassismus, was sich tief in seiner Seele festsetzt. Wenn man weiss, dass vom Krieg traumatisierte Menschen dieses Trauma durch ihre Genstruktur an ihre Kinder vererben, kann man davon ausgehen, dass auch das Trauma von rassistischer Gewalt und Unterdrückung nicht spurlos an den Betroffenen (und ihren Nachkommen) vorüber geht. Es wird Zeit, mit vereinten Kräften gegen ein System anzugehen, das Menschen in einer solchen Weise verletzt und im schlimmsten Fall zerstört.

Persönlicher Bezug

«Another world is not only possible, she’s on her way. Maybe many of us won’t be here to greet her, but on a quiet day, if I listen very carefully, I can hear her breathing. (Arundhaty Roy)»

Ein Thema, das mich wohl nie loslässt in meinem Leben. Von klein an war es mir wichtig, dass Dinge gerecht zu und hergehen, im Studium wurde es mein Schwerpunkt, in der Dissertation hatte ich mich im wahrsten Sinne der Gerechtigkeit verschrieben. Der Traum einer gerechten Welt ist alt, sie zu erreichen erscheint oft als Utopie. Ja, wir werden die perfekte gerechte Welt vielleicht wirklich nicht erreichen, zumal die Meinungen, wie diese auszusehen hätte, divergieren. Aber: Wir können uns auf den Weg machen und versuchen, als Menschen mit Menschen zu leben, diese in ihrer Unterschiedlichkeit anzunehmen und doch als Gleichwertige zu sehen. Das wäre ein grosser Schritt in eine gute Richtung. Noch sind wir nicht da – aber wer weiss, vielleicht atmet sie wirklich schon ganz in der Nähe, wie Arundhati Roy schrieb.

Fazit
Eine fundierte, ausführliche, informative und doch lesbare Analyse der heutigen Gesellschaft mit ihren Mechanismen von Diskriminierung und Abwertung im Hinblick darauf, etwas daran zu ändern für eine gerechtere Gesellschaft. Sehr empfehlenswert.

Autorin
Emilia Zenzile Roig (*1983) ist Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin. Sie promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Science Po Lyon. Emilia Roig lehrte in Deutschland, Frankreich und den USA Intersektionalität, Critical Race Theory und Postkoloniale Studien sowie Völkerrecht und Europarecht. Sie hält europaweit Keynotes und Vorträge zu den Themen Intersektionalität, Feminismus, Rassismus, Diskriminierung, Vielfalt und Inklusion und ist Autorin zahlreicher Publikationen auf Deutsch, Englisch und Französisch. Sie ist Interviewpartnerin in Sibylle Bergs Bestseller „Nerds retten die Welt“ und war Mitglied der Jury des Deutschen Sachbuchpreises 2020.

Angaben zum Buch
Herausgeber: ‎ Aufbau Verlag; 3. Edition (15. Februar 2021)
Gebundene Ausgabe: 397 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3351038472

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Jasmina Kuhnke: Schwarzes Herz

Inhalt

«Schleichend verfestigte sich ein Selbstbild, gegen das ich nicht ankam, weil ich den Zuschreibungen von aussen nichts mehr entgegensetzen konnte. Ein Selbstbild, das nicht nur sagte: Ich kann nichts, sondern auch: Ich bin nichts.»

Am Rande des Ruhrgebiets wächst Anfang der neunziger Jahre ein Mädchen auf. Es ist eine Kindheit, wie man sie keinem Kind wünscht: Ein gewalttätiger Stiefvater, Ausgrenzungen in der Schule und Alltagsrassismus prägen ihr Leben. Während sie heranwächst, fühlt sie sich immer kleiner, rechnet immer und überall mit Gefahren. Als sich plötzlich ein Mann ernsthaft für sie interessiert, übersieht sie die Alarmzeichen, begibt sich in eine Beziehung, die bald zum Gefängnis wird. Und wieder prägen Gewalt und Herabsetzungen ihren Alltag. Sie weiss nur eines: Sie muss einen Ausweg finden, denn sonst wird sie das alles nicht überleben.

Weitere Betrachtungen

«Meine Oma, mein Onkel und meine Tante, mein Cousin und meine Cousine, wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander. Wenn sie mir das Gefühl gaben, anders zu sein, dann nicht aus Boshaftigkeit, sondern weil sie es nicht besser wussten. Oft war ihr Vergalten eine Strategie, um mit den eigenen Kränkungen umzugehen, die das Leben bereithielt.»

Jasmina Kuhnke erzählt einerseits eine Geschichte, andererseits deutet sie auf gesellschaftliche Strukturen. Sie zeigt auf, wie Menschen mit anderen Menschen umgehen, wenn die nicht ihrer Norm entsprechen. Die Schwarze Hautfarbe ist dabei ein deutlich sichtbares Zeichen für eine Abweichung derselben, der Umgang damit vielfältig, im besten Falle gut gemeint oder schlecht durchdacht, im schlimmsten Fall ausgeprägter und verachtender Rassismus. Während der zweite offensichtlich ist, sind es die anderen Formen nicht. Das macht sie umso gefährlicher, weil sie unter der Oberfläche ein Milieu bereiten, auf welchem der Rest wachsen kann.

«Das Gefühl, richtig zu sein, wie ich war, ist mir schon als Kind abhanden gekommen. Als Teenagerin richtete ich mich nur darin ein, falsch im Leben zu sein.»

Wenn man von klein auf spürt, dass man anders ist, richtet das etwas mit einem an: Sich nicht dazugehörig zu fühlen gibt das Gefühl der Einsamkeit, des Alleingelassenseins in einer Welt, in welcher die anderen nicht nur zusammenstehen, sondern sich als solche Gemeinschaft auch noch gegen einen richten. Es ist schwer, wenn nicht fast unmöglich, in einem solchen Umfeld ein gesundes Selbstwertgefühl aufzubauen, das hilft, das Unrecht, das einem widerfährt, tatkräftig zu bekämpfen. Einerseits ist die Angst, alles noch schlimmer zu machen, wohl gross, andererseits herrscht wohl auch das Gefühl vor, dass einem das nicht zusteht.

Jasmina Kuhnke ist ein eindringliches Buch gelungen, ein Buch, das berührt, erschüttert, aufrüttelt. Es ist ein Buch, das aufzeigt, was man in einem Leben als weisser Mensch nicht mal erahnen kann. Es ist dem Buch und der Menschheit zu wünschen, dass sich viele davon bewegen lassen, genauer hinzuschauen und Teil einer Veränderung werden zu wollen.

Beim Lesen des Buches passierte es leicht, die Protagonistin mit der Autorin gleichzusetzen. Zwar weiss man als professioneller Leser, dass man dies nicht tun sollte, selbst wenn die Geschichte in der Ich-Form erzählt wird, und doch fiel die Trennung bei dem Buch schwer. Und da liegt ein mögliches Problem: Die Geschichte ist in gewissen Details sehr extrem, weit weg von dem, was wohl viele der Leser selbst erfahren haben. Ist das Buch wirklich «nur» Roman, stellt sich die Frage, was Übertreibung, was wirkliche Realität ist. Das ist bei anderen Büchern unproblematischer, bei der Behandlung eines so aktuellen und brennenden Themas stellen sich mehr Fragen.

Die verwendete Sprache ist wenig literarisch, sondern oft sehr hart und teilweise vulgär. Das mag vor allem am Anfang durchaus zum Inhalt und dem sozialen Milieu der Geschichte passen, wirkt manchmal aber als zuviel und erscheint gegen den Schluss mit der Entwicklung der Protagonistin immer unpassender. Man hätte erwartet, dass sich die Sprache an die Entwicklung anpasst. Störend wirkten sehr viele Wiederholungen. Ein Lektorat hätte diese streichen müssen, um den Erzählfluss weniger zu stören.

Persönlicher Bezug

«Ohne den Druck, sich Gedanken darüber zu machen, was die Gesellschaft von mir hält, war ich frei. Sie hat mich eh nie als vollwertiges Mitglied betrachtet. Nun gibt es keine Zwänge mehr. Keine Anspruchshaltung oder die Angst vor Verurteilung. ich weiss, es liegt nicht in meiner Hand, ob man mich respektiert. Ich muss anfangen, mich selbst zu respektieren, und mein Selbstwertgefühl nicht weiter von aussen bestimmen zu lassen.»

Sätze wie dieser machen das Buch für mich zu einer Entdeckung. Nicht dass die Botschaft neu wäre, nur wirkt sie im Kontext dieser Geschichte nochmals deutlicher. Ich kenne von mir selbst das Gefühl (wenn auch zum Glück aus anderen Gründen und mit weniger dramatischen Auswirkungen), nicht dazuzugehören, in meinem Sein und Denken und Tun nicht der sich als normal setzenden Gesellschaftsmehrheit zu entsprechen. Auch ich habe schon gelitten unter Unverständnis, Spott, Ablehnung oder zumindest Ignoranz. Zu sehen, wie ein Mensch nach so vielen Rückschlägen, Tiefpunkten auf- und hinsteht, ist beeindruckend und macht Mut.

Fazit
Rassismus und soziale Ungerechtigkeit – wichtige Themen erzählt in der eindrücklichen und bedrückenden Geschichte einer Frau, die gegen Gewalt und Diskriminierung kämpfen und ihren Platz in einer ihr feindlich gesinnten Welt finden muss. Empfehlenswert!

Autorin
Jasmina Kuhnke wurde 1982 in Hagen geboren. Sie arbeitet als TV-Autorin und Kolumnistin für ein Satire Magazin. Jasmina lebt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in Köln. Sie engagiert sich in der Öffentlichkeit unter ihrem Künstlernamen Quattromilf – „Mom I´d like to follow“ gegen Rassismus und Diskriminierung.

Angaben zum Buch
Herausgeber: Rowohlt Buchverlag; 3. Edition (19. Oktober 2021)
Gebundene Ausgabe: 208 Seiten
ISBN-Nr.: 978-3498002541

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Wort oder Haltung – oder: Darf es noch ein Mohrenkopf sein?

Die Wogen schlagen hoch. Die Migros strich Dubler Mohrenköpfe aus dem Sortiment. Weil der Name nicht gehe. Er ist rassistisch. Findet die Migros. Man weiss nun nicht genau, ob das nur ein PR-Insturment war, um auf den Zug der Bewegung „Black Lives Matter“ aufzuspringen, oder aber ernst gemeinte ethische Haltung. Ich weiss es nicht, ich lasse es drum im Raum stehen.
Für mich ist die ganze Diskussion insofern irrelevant, da ich die Dinger schlicht nicht mag. Ich habe noch nie einen selber gekauft. Egal, wie er hiess. Ich wusste nicht mal um die Existenz dieser nun oben erwähnten Exemplare. Seit dem Aufruhr kenne ich sie. Würde sie aber immer noch nicht kaufen. Aus einem Grund: Ich mag keine pappsüssen Dinger, die mehrheitlich schaumen und dann auch noch Schokolade drum haben.

Um ernst zu sein: Ich bin sehr zwiegespalten bei der ganzen Diskussion. Einerseits denke ich, dass wir alles umbenennen können, es ändert an der Haltung wenig. Die, welche Menschen nicht ausschliessen möchten, tun es nicht, egal, wie etwas heisst. Für andere könnte es heissen, wie es wollte, sie täten es doch. Wir müssen an Haltungen, nicht an Namen arbeiten, vor allem bei Namen, die für die Mehrheit nie negativ konnotiert waren.

Das andere ist: Menschen sind verletzt durch Namen. Und ja, es ist ein Leichtes, dann den Namen zu ändern, man möchte ja keinen verletzen. Aber es verletzt sie ja nicht das Wort an sich, sondern das, was sie mit dem Wort erlebten. Und wäre es DAS Wort nicht, wäre es ein anderes Wort, das jemand gefunden hätte, um zu verletzen.

In meinen Augen legen wir zu viel Wert auf äussere Dinge wie Worte, zu wenig auf Haltung und Werte.

Ich schreibe das aus der Haltung einer, die das Wort ‚Mohrenkopf’so oder so nie brauchen wird, da sie nie einen sottigen kaufen würde. Und aus der Haltung einer Sprachwissenschaftlerin (es war ursprünglich eine rein regionale Zuschreibung für Südafrikaner, Mauren, um diese von den anderen abzugrenzen). Und einer Ethikforscherin (die einen grossen Teil gegen Rassismus, Diskriminierung geforscht hat). Das könnte ich noch hinterher werfen. Aber schlussendlich vor allem aus der Haltung eines Menschen, der Menschen mag. Der weiss, wie es sich anfühlt, gehänselt zu werden, der weiss, dass es weh tut. Der aber auch weiss, dass man das Aussen nicht mit Worten ändert. Nur mit Haltungen. Sonst müssten doch bitte dick und Bauch gestrichen werden. Ich wurde als Kind wegen eines solchen (dicken Bauchs – ich weiss, wer mich kennt, liest nochmals nach – aber jeder, der meine Kleinkindbilder sieht, thematisiert meine runden Backen) gehänselt. Und wegen Unsportlichkeit. Und als Lama bezeichnet… das Tier müsste man umbenennen. Mein Lehrer stellte mich vor versammelter Klasse als solches bloss. Ich kam nicht unter „ferner liefen“ an beim Schnelllauf, es war Glück, wenn noch nicht alle schliefen bis zu meiner Ankunft.

Und alles würde nicht helfen. Wer andere klein machen will, wer sie ausschliessen will, sie degradieren, diskriminieren, belächeln, lächerlich machen will: Er findet immer was. Wir können alle Worte dieser Welt ändern. Wenn wir die Haltung der Menschen nicht ändern, nicht zu einem Miteinander statt zu einem Ausspielen kommen, wird es nie eine bessere Welt werden.

In der Sprache liegt eine latente Wahrheit. Das ist so. Und ein bisschen Wahrheit steckt in jedem Wort. Das denke auch ich, die ich mit jedem Wort meine Witze treibe, ab und an aber auch getroffen reagiere auf andere Worte. In der Hoffnung, dass meine nie wirklich treffen. Ich kann es nicht ausschliessen. Aber die Haltung dahinter ist immer nur die: Ich möchte, dass es meinem Gegenüber gut geht. Und wenn die Haltung da ist, wird KEIN Wort verletzen. Wenn wir vertrauen können, dass unser Gegenüber so denkt, dann werden wir jedes Wort annehmen können. Und damit ist uns geholfen, damit hat der Humor einen breiteren Platz, damit hat das Leben eine Basis, die auf Vertrauen, auf einem Miteinander gründet, die jedem genug Boden gibt, sich selber zu sein, im Wissen: Ich bin gut so, wie ich bin.
Diese Welt wünsche ich mir!

Ich sage NEIN

Heute stiess ich auf Facebook auf einen Beitrag eines „Freundes“. Ich gebe zu, ich hatte keine Ahnung, wer das war und wie ich zu der Ehre der Freundschaft gekommen war, aber das sah ich nun: Ein Bild, das er irgendwo kopiert hatte. Zwei sich küssende (wirklich attraktive) Männer. Er schrieb dazu, er fände das widerlich. Die Kommentare schlugen in die gleiche Kerbe. Zwei Männer gingen gar nicht. Liebe sei nur Mann und Frau, alles andere sei pervers. Da wurden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Ausrichtung als WIDERLICH (sorry, ich muss das deutlich sagen) bezeichnet.

Ich habe das angeklagt. Ich schrieb einen eigenen Post und sagte, dass ich ein solches Verhalten nicht akzeptiere. ich sagte, dass ich keine Homophoben Menschen in meiner Freundschaftsliste haben will. Ich sagte, dass es nicht angehe, Menschen wegen ihrer religiösen, sexuellen Ausrichtung, Herkunft oder Hautfarbe abzuwerten. Ich wurde angegriffen. Und zwar massiv.

Ich bin aktuell geschockt. Und nachdenklich. Ich bin geschockt, wie viele sich für eine Meinungsfreiheit bei menschenverachtendem Tun einsetzten. Wie ich angegriffen wurde, weil ich Menschen in ihrer Würde, ihrem Sein schützen wollte.

Ich sei ein Ignorant, weil ich mich für Menschenrechte einsetzte. Die Meinungsfreiheit wurde ins Feld geführt, nicht wissend wohl, dass die Menschenwürde, die angegriffen wurde, höher steht. Und: Meinungsäusserungsfreiheit wurde für Diskriminierung, Abwertung geltend gemacht, wo diese doch zum Schutz der Menschenwürde und des Antirassismus einst eingeführt wurde – das mutete schon fast skurril an.

Ich stehe weiter dazu: Ich bin gegen Rassismus, gegen Diskriminierung, gegen Pauschalverurteilungen aufgrund von Herkunft, Religion, sexueller Ausrichtung, Hautfarbe. Wenn das Intolerant ist, dann bin ich das.

Politisch korrekt und genderneutral

Als Kind hatte ich eine Hörspielkassette, ein Kasperlitheater mit dem Titel „De Schorsch Gaggo gaht nach Afrika“. Darin war von Negern die Rede, den Ausdruck kriegte ich quasi mit der Muttermilch (von welcher ich wiederum weniger kriegte, da ich – so sagt meine Mutter – zu faul zum saugen gewesen sei… das ist aber eine andere Geschichte, die an einem anderen Ort oder besser gar nicht thematisiert werden soll) und dachte mir nichts dabei, ausser: Das ist eine Bezeichnung für einen Menschen, wie Frau oder Mann – sie bezieht sich einfach auf eine Eigenschaft des Menschen.

Als ich studierte, sass ich in Vorlesungen, hörte Ansprachen, kriegte Anschreiben. Meist hiessen ich und meine Kommilitonen „Studenten“. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, mich nicht angesprochen oder gar zurückgesetzt zu fühlen. Wieso auch? Klar war mir bekannt, dass die Rechte der Frau lange eher stiefmütterlich behandelt wurden und sie in ganz vielen Schriften nicht mitgemeint waren, wenn man von „Bürgern“ und ähnlichem sprach. Aber all das machte ich nie in der Sprache fest, eher in der Haltung, die dahinter steckt.

„Neger“ darf man heute nicht mehr sagen, Studenten sind entweder „Studenten und Studentinnen“, schriftlich auch „StudentInnen“, oder aber „Studierende“. Bis es soweit war, bedurfte es ganz vieler Kämpfe, es brauchte Menschen, die sich einsetzten für Werte, für Gleichberechtigung, für Menschenrechte, die für jeden gelten sollen, unabhängig von seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner Religionszugehörigkeit, sexuellen Ausrichtung oder des Geschlechts. Wir sind noch weit davon entfernt, erreicht zu haben, dass wirklich jeder Mensch qua seines Menschseins als Gleiche(r) unter Gleichen behandelt wird. Aber: Wir sind ganz gross darin, sprachliche Ausdrücke zu verteufeln, zu verdammen, den Finger drauf zu halten.

Hat eine Frau mehr Rechte, wenn der Rektor einer Uni die Menge mit „Liebe Studenten und Studentinnen“ anspricht? Auch die Mitarbeitende im Betrieb kann sich nicht mehr leisten, nur weil der Chef nicht mehr die Mitarbeiter anspricht, sondern von Mitarbeitenden (genderneutral) spricht. Helfen würde ihr nur, kriegte sie denselben Lohn für dieselbe Leistung. Davon sind wir weit entfernt, immer noch.

Ab und an erscheint es mir, als ob man sich gerne Nebenschauplätze wählt, auf denen man sich austoben kann, weil die Dinge, um die es wirklich geht, a) gross sind, b) den eigenen Ast absägen könnten, und c) …. es gäbe noch so viel, da nun das c) draus zu wählen täte den anderen Argumenten Unrecht und wäre damit nicht neutral, sondern wertend.

Sprache ist wichtig, sie ist prägend. Sprache ist ein zentrales Moment in der Identität und im Gedankengut von Menschen. Trotzdem denke ich nach wie vor, dass niemandem geholfen ist, wenn wir die Sprache zurechtbügeln, dass sie keine Ecken und Kanten mehr hat, an denen man sich stossen könnte. Was wirklich zählt, ist die Haltung dahinter. Wenn das chauvinistische Arschloch von Chef mit säuselnder Stimme am Weihnachtsessen seine MitarbeiterINNEN anspricht, diese aber in geschütztem Rahmen sexuell zweideutig angeht und ihnen auch nur einen Prozentsatz an Lohn auszahlt im Vergleich mit ihren männlichen Mitstreitern, hat er auf den ersten Blick alles richtig gemacht. Denn: Das Sexistische hintenrum hat keiner gesehen und über Geld spricht (in der Schweiz) kaum jemand.

Da würde ich lieber als Manager angesprochen und kriegte den ganzen Lohn. Denn das wäre die richtige Haltung. Und wäre die da, würde keiner mehr nach einem „INNEN“ schreien. Denke ich mal. Hoffe ich mal. So rein sprachlich, denn: Als Sprachwissenschaftler (nein, nicht –IN) rollen sich mir die Zehennägel auf bei all den Sprachverkehrungen.

Wer sich nun fragt, was Schorsch in dem ganzen Spiel zu suchen hatte, dem sei gesagt: Es ist dasselbe mit einem Unterschied: Wenn sich Menschen mit einem etwas pigmentierterem Teint verletzt fühlen durch den Begriff „Neger“, dann ist das sicher ein Punkt, den man nicht ignorieren darf. Aber: Unter sich nennen sie sich „Nigger“, es darf nur kein „Weisser“ den Begriff benutzen. Ich wage mich auf die Äste hinaus und sage: Auch da zählt nur die Haltung hinter dem Begriff. Denn: Sie würden sich gegenseitig beleidigen. Und das tun sie nicht. Sie trauen nur den „Nicht-Niggern“ die Toleranz und Akzeptanz nicht zu. Wörter werden das nicht ändern. Nur die Zeit und die Haltung. Die hinter den Wörtern.

Ich denke, wir sollten nicht weiter an der Sprache feilen, sondern an der Haltung. Das fängt bei der Toleranz im Kleinen an. So lange wir bei andern verspotten, was wir selber nicht mögen, sollten wir nicht mit Worten um uns schlagen und ebensolche bekämpfen, denn: Wir haben nichts begriffen. Worte sind leicht dahingesagt, das miteinander Leben ist die einzige Lösung. Für wohl alles auf dieser Welt.

 

Ich bin ja kein Rassist, aber

„Ich bin ja kein Rassist, aber…“ Wer einen Satz so beginnt, der begründet gleich nicht seine weltoffene Haltung, sondern outet sich als das, was er vorgibt, nicht zu sein. Nun könnte man sagen, das ginge ja noch, es könnte schlimmer sein, nämlich ganz braun, ganz abwehrend, zugebend rassistisch, nur: Mit solchen Statements wird ganz subtil Boden geebnet für Samen, die spriessen können. Leider spriessen keine bunten schönen Blumen, sondern braune Sumpfblüten. Unter dem Deckmantel, eigentlich kein Rassist zu sein, kann man nun alles sagen, was man offen nicht sagen dürfte. Man kann gegen die Natels der Flüchtlinge schimpfen, die sie nicht haben dürften, weil man selber auch kein tolles hat. Man darf mosern, die hätten viel schönere Kleidung und sollen sich nicht so haben, wenn sie in Zelten oder Kellern schlafen, sei ja immer noch besser als Krieg. Und man darf Hierarchien erstellen, wer nun wirklich Flüchtling ist und wer nicht: Krieg ist gut, verhungern zählt nicht. Und generell sind die, welche herkommen, eh nie echt, man selber könnte sich ja keine Reise nach Syrien oder sonst wohin leisten.

Aber nein, man ist natürlich kein Rassist. Man will nur für Recht und Ordnung sorgen im eigenen Land, schliesslich ist das ja auch klein und man hat nur begrenzt Platz und Geld und genug eigene Probleme. Und zudem ist es das eigene Steuergeld, das für diese Profiteure verprasst wird.

Zum Glück gibt es andere. Menschen die helfen. Ganze Dörfer haben sich schon organisiert und Flüchtlinge aufgenommen. Nicht nur in Heimen, sondern im Alltagsleben. Es gibt Menschen wie eine junge Frau, die 30 Syrern ein Dach über dem Kopf gab, oder Till Schweiger, der gegen Fremdenhass sprach und nun ein Flüchtlingsheim auf die Beine stellen will. Beide ernten ganz laut Spott und Häme – gar Hass. Die Kommentare bei der jungen Frau waren dabei besonders schlimm: „Die kriegte wohl sonst keinen Mann ab“, „Sex gibt es gratis obendrauf“ waren noch harmlos, Hitlerbilder folgten…

Die Welt rückt nach rechts. Wenn man dagegen spricht, wird man angegangen, man rede selber nur und sei ein Gutmensch, der von nichts eine Ahnung habe. Das darf nicht sein. Klar sind Worte noch nicht die Lösung allen Übels, aber sie sind ein Anfang. Sie sollen Boden schaffen nicht für braune Sumpfblüten, sondern für eine bunte Blumenpracht. Diese soll Herzen öffnen, denn nur so werden wir als Menschheit überhaupt überleben können langfristig.

Der junge Mann

Claudia lief durch die Bahnhofunterführung. Noch immer war alles eng, es wurde gebaut. Eigentlich seit sie denken konnte, war dieser Bahnhof ein einziges Provisorium, bei dem es jeden Morgen eine neue Überraschung war, welcher Durchgang offen, welches Gleis befahren, welcher Zug im Einsatz war. Während Claudia sich müde durch die Menschenmasse quälte, wurde sie plötzlich von hinten unsanft angerempelt. Jemand hatte mit dem Fuss gegen ihre ohnehin schwere Einkaufstüte getreten, danach ihren Arm gestreift, nun war er wenig vor ihr, murmelte ein Sorry, war schon weiter.

Ein junger Mann mit langem dunklem Bart, leicht gekraust. Die Haare irgendwo in der Mitte zwischen kurz und lang, auf der Seite nach hinten gegelt. Eine Mischung zwischen Moslem, wie man sie nun ständig in den Medien sah, und modernem Popper. Diese Mischung zog sich weiter. Er trug eine dunkelblaue, gefütterte Jacke mit Kapuze, die ein Pelzkranz zierte.

Claudia erinnerte sich, kürzlich irgendwo gelesen zu haben, dass diese falschen Pelze in Tat und Wahrheit oft echt waren, da echter Pelz günstiger sei als falscher. Bei dem Gedanken fasste sie unwillkürlich an ihre eigene Kapuze, strich mit den Fingern über den Pelzbesatz, fand, so könne sich kein echter Pelz anfühlen. Und selbst wenn: Würde es was ändern? Gekauft hätte sie die Jacke mit echtem Pelz nie, aber sie nun fortwerfen, wäre er echt? Käme auch nicht in Frage. Davon würde das Wiesel – oder was auch immer es sein könnte – auch nicht mehr fröhlich über Wiesen hüpfen. Wie sahen eigentlich Wiesel aus? Claudia hatte keine Ahnung.

Der junge Mann lief immer noch vor ihr, über die Schulter geworfen trug er eine Tasche, unter dem Arm einen Koran. Er schien es wirklich eilig zu haben, lief in Richtung der Busse. Claudia ertappte sich beim Gedanken, zu hoffen, dass er nicht in ihren Bus einstieg. Was, wenn das ein Terrorist wäre? Wenn der sich und den gesamten Bus in die Luft sprengte? Aus Protest gegen die Schweiz oder in irgendeiner Mission Allahs. Vielleicht auch nur, weil er scharf auf die Jungfrauen war. Wie viele waren es nochmals? 72? Claudia fragte sich, ob dieser Gedanke nicht sehr rassistisch war. So etwas denkt man einfach nicht, schimpfte sie mit sich. Trotzdem äugte sie ängstlich zum jungen Mann, der immer näher bei ihrem Bus war – und schliesslich einstieg.

Claudia dachte spontan daran, ob sie nicht einen Bus später heimfahren sollte. Sicher wäre sicher. Sie spürte eine innere Unruhe. Irgendwie hatte sie einfach zu viel gelesen in letzter Zeit. Überall auf der Welt gab es Tote. Busse flogen in die Luft, Cafes wurden gestürmt, Menschen entführt, Redaktionen ausgelöscht. In der Theorie hatte sie ja nichts gegen Menschen irgendeiner Religion, aber sie merkte bei sich eine schleichende Angst, die sich breit machte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.

Claudia stieg in den Bus ein. Sie setzte sich ganz nach hinten, wie immer. Der junge Mann sass weiter vorne. In dem Moment stieg ein Freund von ihm ein, sie begrüssten sich, der Zweite setzte sich neben den jungen Mann. Claudia holte ihr Buch aus der Tasche und versuchte zu lesen. Ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, sie schielte immer wieder nach vorne. Dann senkte sie die Augen wieder ins Buch, versuchte der Geschichte zu folgen. Als sie wieder aufschaute, war der junge Mann verschwunden. Ebenso sein Freund. Claudia schämte sich, spürte aber auch Erleichterung.