Rousseau beschrieb den Menschen als „edlen Wilden“, der durch die Zivilisation verdorben würde. Der Staat, so Rousseau, lege den Menschen in Ketten. Und er fängt bei Lichte betrachtet sehr früh damit an, indem er extra ein System geschaffen hat, das schon die Kleinen auf den richtigen, weil vorgesehenen, weil für das Staats- und Gesellschaftssystem passenden Weg bringt: Die Schule. Sollte sie eigentlich dem Kind zur Fähigkeit der Selbstbestimmung verhelfen, wie das von namhaften Philosophen und Pädagogen definiert und landläufig angenommen wird, nimmt sie dem Kind die natürliche Unbefangenheit und unterwirft es Leistungszwängen.
Kinder müssten geschützt werden, so Rousseau, sie müssten ihre eigenen Erfahrungen machen dürfen und sich nicht in Normen und Zwängen der Erwachsenenwelt wiederfinden. Rousseau ist sicher nicht unumstritten. Er stellte hohe Ansprüche in den Raum, denen er selber im eigenen Leben nicht folgte, gewisse Ansichten klingen auch sehr naiv und verklärend, aber: Statt sich auf die Unzulänglichkeiten zu konzentrieren, wäre es zweckdienlicher, sich den durchaus sinnvollen Postulaten zu widmen und zu sehen, wie es heute darum steht. Die Antwort ist ernüchternd: Nicht zum Besten.
Das heutige Schulwesen mit seinen Bildungsplänen hat es sich zur Aufgabe gemacht, durch zweckdienliche Selektion für die Privatwirtschaft funktionierende Arbeitskräfte zu generieren. Es geht nicht um die Ausbildung von individuellen Fähigkeiten und Talenten oder gar die Möglichkeit des Einzelnen, ein gutes Leben zu führen, es geht darum, wie man Menschen für die ökonomischen Anforderungen unserer kapitalistisch ausgerichteten Gesellschaft passend macht. Dazu werden Hierarchien von Bildungsstufen definiert, deren höchste die ist, bei welcher die Schüler am längsten in den Schulbetrieben sassen. Die mit den weniger langen Schulwegen sind damit in diesem System und in den Köpfen der Allgemeinheit, die selbst vom System geprägt sind, unterlegen. Sie dürfen, wenn sie überhaupt ein Arbeitsfeld finden, das sich mit dieser Schulabgängerstufe zufriedengibt, Hilfsdienste leisten, oder schon in der Schule lernen, wie sie die entsprechenden Formulare ausfüllen müssen, damit sie Anspruch auf staatliche Sozialleistungen haben.
Wer also etwas gelten will in dieser Welt, muss sich gut ausbilden – nach Norm und Lehrplan. Er muss Unmengen an unnützem Wissen in den Kopf stopfen, nur um es gleich nach der hoffentlich erfolgreich bestandenen Prüfung wieder zu vergessen. Er lernt schon früh, dass die Mitschüler Konkurrenten sind, weil der Notenschnitt mathematisch verschlüsselt, nicht nach Fähigkeiten eruiert ist.
Unsere Schulen bilden nicht mehr aus, sie stellen Arbeitskräfte nach Bedarf und in der Wertigkeit klar unterteilt zur Verfügung. Wer nicht passt, wird passend gemacht, klappt das nicht, fliegt er. Erst vor die Tür, später in Therapien, dann in Sondersettings, notfalls aus der Schule. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Schliesslich hat man einen Lehrplan zu erfüllen. Kinder müssen Sinuskurven berechnen und Infinitesimalrechnungen bewältigen können. Sie müssen wissen, wie ein Vogel sein Gefieder einfettet und welcher Baum in Nachbars Garten steht. Sie müssen Schillers Glocke aufsagen können und alle Flüsse Uruguays blind in einer Karte eintragen. Das ist heute Bildung. Man streicht dann lieber Sport und Kunst, die taugen nichts, um noch ein wenig mehr chemische Formeln reinzupacken. Alles, was der Seele guttut und das Leben und selber Denken und Tun befördert, streicht man aus den Lehrplänen, um das passive Gehorchen und Erfüllen aufs Podest zu heben.
Und dann stehen wir in dieser Welt und fragen uns, wieso sie so krank ist – und die Kinder und die Erwachsenen damit. Wir fragen uns, wieso immer mehr Kinder an Depressionen leiden, wieso sich Kinder umbringen, weil sie keinen Sinn mehr sehen im Leben – kein Auskommen mit ihm. Kinder! Wir fragen uns, wieso wir uns als Erwachsene nicht wohl fühlen in diesem Hamsterrad, für das wir doch all die Infinitesimalrechnungen, Formeln und Glocken-Gedichte auswendig gelernt haben, nur um dann entweder keine Stelle zu finden oder aber in einer so unter Druck zu stehen, dass wir mit Burnout aussteigen.
Und: Wir fragen uns, wieso Lehrer selbst mit ihrer Aufgabe nicht mehr leben können, so dass sie oft nach wenigen Jahren aufgeben, aufgeben müssen. Weil alles ein Kampf ist, weil das Geradebiegen von Menschen schlicht kaputt macht. Alle Beteiligten.
Wir haben seit Rousseau nichts gelernt. Wann werden wir es tun? John Locke meinte, dass der Mensch als „Tabula Rasa“ auf die Welt kommt. Das stimmt wohl nicht, man sollte ein bisschen Gen-Material durchaus mitberücksichtigen. Aber: Alles, was dann kommt, lernt er aus Erfahrungen, durch sein Umfeld, vom Leben. Der Mensch will lernen, der Mensch will sich entwickeln. Es ist an uns, ihm das zu ermöglichen. Es ist an uns, ein System zu schaffen, das den Menschen in seinem Mensch-Sein unterstützt, so dass er die ihm entsprechenden Fähigkeiten ausbilden kann. Wir dürfen ihn begleiten auf dem Weg dahin, dass er weiss, wie er sie brauchen kann, und merkt, dass er damit teilhaben kann an der Gesellschaft als Teil eines Ganzen. Dass es wichtig ist, seinen Teil zu dieser Gesellschaft beizutragen. Das würde zu mündigen Menschen führen, die im wirklichen Sinne demokratische Bürger wären, die ihre Aufgabe wahrnehmen könnten und würden.
Dahin zu kommen liegt in unserer Verantwortung und wir hätten es in der Hand. Es wäre an der Zeit.
