Autonomes Lernen

Betrachtet man den herkömmlichen Unterricht, sieht man meist einen Lehrer, der basierend auf einem Lehrplan Stoff vermittelt. Er füllt kleine Kinderköpfe wie Fässer mit Wissen, das diese kurz aufnehmen, behalten, wiedergeben müssen. Darauf basierend werden sie bewertet. Wir haben also einen Klassenverband mit gleichaltrigen Schülern, die beim gleichen Raum zur gleichen Zeit mit den gleichen Lehrmitteln die gleichen Ziele gleich gut erreichen müssen (7G-Prinzip).[1]

Nun sind aber Kinder nicht gleich, sie haben unterschiedliche Fähigkeiten, brauchen unterschiedliche Bedingungen zum lernen und haben ein unterschiedliches Tempo. Wie viel besser wäre also, wenn Kinder die Möglichkeit hätten, sich auf die ihnen eigene Art den nötigen Stoff anzueignen? Wenn sie also „als vielfältige Menschen auf vielfältigen Wegen an vielfältigen Orten zu vielfältigen Zeiten mit vielfältigen Materialien in vielfältigen Schritten und mit vielfältigen Ideen in vielfältigen Rhythmen zu gemeinsamen Zielen kämen“ (8V-Prinzip)[2]?

Mit dem althergebrachten Frontalunterricht ist das sicher nicht zu bewerkstelligen, neue Lehr- und Lernformen sind gefragt. Lehrer sollen nicht mehr länger Lieferanten von Wissensinhalten sein, sondern Begleiter auf dem Lernweg der Schüler. Diese wiederum sind nicht blosse Wissenstanks, die passiv aufnehmen, was präsentiert wird, sondern aktive Lerner, die sich ihr Wissen selber erarbeiten durch autonomes Lernen.

Autonomes Lernen heisst, dass das Lernen eigenverantwortlich erfolgt, die Mittel und Wege selbstbestimmt sind und individuell angewendet werden, den eigenen Bedürfnissen angepasst. Der Schüler ist also frei in der Wahl seiner organisatorischen, zeitlichen, räumlichen, methodischen Mittel. Autonomes Lernen ist mehr als selbständiges Lernen. Beim autonomen Lernen setzt sich der Lernende die Ziele selber. Zwar liegt es in der Natur unseres Schulsystems, dass Lehrpläne Ziele vorschreiben, doch beim autonomen Lernen versucht man, sich diese Ziele zu eigenen zu machen. Je besser das gelingt, desto leichter fällt schliesslich auch das Lernen.

Es liegt schlussendlich in der Verantwortung jedes einzelnen Lernenden, seine sich gesetzten Ziele zu erreichen. Damit diese – meist langfristigen – Ziele erreicht werden können, müssen oft auch kurzfristige zurückgestellt werden. Wenn der Lernende kein Neulernender ist, verfügt er zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Repertoire an Lernstrategien. Er wählt nun die für das zu erreichende Ziel passende aus. In der Folge kann er die eigenen Lernfortschritte immer selber kontrollieren und die Fortschritte beurteilen, um zu evaluieren, ob seine Strategie Früchte trägt. Er erkennt dabei auch Hürden und Hindernisse und kann gezielt um Hilfe bitten.

Autonomes Lernen ist je nach Ziel einfacher oder schwerer, bedarf mehr oder weniger Begleitung. Wie diese Begleitung auszusehen hat, ist von Fall zu Fall verschieden. Manchmal reichen methodische Anregungen, manchmal braucht es ein wenig Druck oder aber im Gegenteil Gewährenlassen. Autonomie so verstanden ist keine absolute Grösse, sondern immer zielabhängig. Damit autonomes Lernen gelingen kann, bedarf es einer Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, die auf Augenhöhe stattfindet, in der beide ihre Authentizität bewahren und in welcher ein Vertrauensverhältnis herrscht. Der Lehrer tritt nicht länger als Wissender auf, der doziert, sondern als Partner im Dialog. Der Lehrer ist dabei nicht dazu da, den Schüler zu motivieren, sondern er (und die Schule) schafft Bedingungen, unter denen der Schüler sich selber motivieren kann. Dieser ist dann frei in der Wahl seiner Mittel und Wege, er hat die Gelegenheit, in Eigeninitiative und mit Neugier den zu erarbeitenden Stoff zu verinnerlichen.

Damit Autonomie gefördert werden kann, müssen auch Rahmenbedingungen geschaffen werden, die einerseits den Lernprozess unterstützen, andererseits die Zielvorgaben beinhalten und deren Erreichen sichern. Dabei kann ein Lernvertrag helfen: Lehrer und Schüler vereinbaren, welche Ziele zu erreichen sind, in welchem Zeitrahmen das passieren soll und was beide voneinander brauchen, damit das Ziel erreicht werden kann. Auf dieser Basis kann sich der Schüler auf seinen persönlichen Lernweg machen, er wird dabei vom Lehrer begleitet, hat die Möglichkeit, auftretende Probleme mit diesem zu besprechen.

Wichtig ist auch die Umgebung, in welcher autonomes Lernen stattfindet: Die individuelle Herangehensweise an den zu lernenden Gegenstand bedarf eines Lernorts, welcher verschiedenen Lerntypen die nötige Infrastruktur liefert. Es sind Orte zum stillen Lernen wie auch zum Lernen in Gruppen nötig.

Zusammengefasst lassen sich folgende Parameter für autonomes Lernen auflisten:

Autonomes lernen ist

  • individuell
  • selbstbestimmt
  • eigenverantwortlich

Autonomes Lernen braucht

  • eine Beziehung zwischen Lehrer und Schüler
  • Begegnung auf Augenhöhe
  • Vertrauen
  • Empathie
  • eine geeignete Lernumgebung

Ein autonom Lernender verfügt über folgende Fähigkeiten:

  • Er setzt sich selber Ziele
  • Er übernimmt die Verantwortung über seinen Lernprozess
  • Er setzt die Prioritäten innerhalb seiner Ziele
  • Er kann aus verschiedenen Strategien die für das aktuelle Ziel geeignete auswählen
  • Er kontrolliert seine Lernfortschritte und kann diese einordnen
  • Er merkt, wo er Hilfe braucht und kann diese einfordern

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[1] vgl. dazu Peter Fratton, Lass mir die Welt, verschule sie nicht

[2] ebd.

6 Kommentare zu „Autonomes Lernen

  1. Aber dann muß ja der Staat mit seinen Dienern Schulamt und Lehrer auf die Setzung/alleinige Bestimmung der Lernziele verzichten. Aber auf dieses Werkzeug der Macht wird er niemals verzichten. Er wird weder Lernkommunen noch völlig eigene Zielsetzungen zulassen. Es geht im Grunde doch nur darum: wer behauptet die Macht.

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    1. Er muss nicht grundsätzlich auf Ziele verzichten, nur die Methoden, wie die Ziele zu erreichen sind, sollten frei sein.

      Aber ja, so manches Ziel ist in der Tat in meinen Augen – wie du auch sagst – dem reinen Machtspiel verpflichtet. Wer es kann, bestimmt, er tut dies auf eine Weise, die die eigene Macht stärkt. Am besten gelingt dies natürlich durch brave Bürger und Bürgerinnen, die früh gelernt haben, sich ins System zu geben.

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  2. Eine wunderbare, leider sehr weit entfernte, illusorische Welt beschreibst Du da…aus eigener Erfahrung kann ich allerdings sagen, dass nicht nur der Staat allein die Schuld trägt, auch der bequeme Mensch, die bequemen Eltern könnten aus dem was doziert wird, gerade mit den heutigen Möglichkeiten durch selbst begonnene Autonomie so viel mehr machen, wenn sie nicht darauf warteten, dass man ihnen sagte sie sollen selbst lernen, sondern es einfach täten.

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  3. Das mag ein Konzept sein für reife Schüle in der Sekundarstufe 2.
    Für jüngere Schulkinder halte ich das Konzept für fatal, weil es meiner Ansicht total überfordert. Selbstmotiviertes Lernen mit eigenen Zielen ist selbst für die meisten Erwachsenen schwierig und verlangt ein hohes Maß an Ziel-Vorstellungskraft, um daraus genügend Selbstmotivation und Kraft für das Lernen (und somit zum Überwinden sämtlicher innerer Widerstände) zu generieren.

    Sehr wichtig erscheint mir in der Sekundarstufe 1 eine stabile Beziehung zur Lehrerpersönlichkeit, ein begeisternder, wertschätzender Lehrender, der klare Vorgaben macht und für die notwendige Lernruhe und -stabilität sorgt.

    Ich habe meine Promotion als Ingenieur neben einer Vollzeittätigkeit über 7 Jahre geschrieben. Das ging genau nach Ihrem Prinzip: Ziele festlegen und Begleitung durch meinen Doktorvater. Aber da war ich 35 Jahre.

    Als Grundschüler habe ich Ihre Prinzipien des autonomen Lernens im Klavierunterricht erleben müssen und bin gnadenlos gescheitert. Ich war nicht in der Lage, Verantwortung für das Erreichen meiner Lernziele zu übernehmen und schon gar nicht methodische Mittel dafür zu wählen.

    Reiner Frontalunterricht mag nicht der Weisheit letzter Schluss sein aber autonomes Lernen ist für mich „von der anderen Seite vom Pferd heruntergefallen.“

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