Bücherwelten: Buchtipps und mehr

„Lass die Realität eine Realität sein. Lass die Dinge auf natürliche Weise vorwärts fließen, wie sie wollen“. Lao Tzu

Heraklit sagte, dass nichts so beständig sei wie der Wandel. Dieser Gedanke findet sich bei vielen Philosophen wieder und schaut man in die Natur, sieht man das Prinzip der Veränderung vor sich. Nichts bleibt, wie es ist, alles kommt, bleibt und vergeht. So auch beim Menschen.

„Das Geheimnis des Wandels besteht darin, seine ganze Energie nicht auf den Kampf gegen das Alte, sondern auf den Aufbau des Neuen zu richten.“ – Sokrates

In meinem Leben hat es auch eine Verlagerung gegeben. Nachdem lange das Wort und Bücher im Mittelpunkt standen, habe ich mich mehr zu Farben und Bildern hingewandt. Trotzdem gibt es da draussen wunderbare Bücher, die ich wichtig und gut und lesenswert finde.

  • Philipp Hübl: Moralspektakel – wieso Moralismus oft mehr mit Selbstprofilierung zu tun hat
  • Yuval Noah Harari: Nexus – die Tücken des technischen Fortschritts und welche Entscheidungen nun anstehen
  • David Terwiel: Freundschaft als Beziehung zur Welt – wie Hannah Arendts begriff der Freundschaft als Schule der Pluralität uns gesellschaftlich und politisch helfen kann
  • Wolfram Eilenberger: Geister der Gegenwart – was uns die grossen Denker der jüngsten Gegenwart auch heute noch zu sagen haben
  • Anselm Grün: Alles in allem. Was letztlich zählt im Leben – persönliche und tiefgründige An- und Einsichten eines Menschen, der ungebrochen neugierig und offen für das Leben ist.

Kennt ihr schon eines davon?

Habt einen schönen Tag!

Vom Suchen und Denken – Iris Murdochs Suche nach dem Guten

Iris Murdoch: Die Souveränität des Guten

Inhalt

«Was macht einen guten Menschen aus? Wie können wir uns moralische verbessern? Können wir uns moralisch verbessern? Das sind Fragen, die Philosoph:innen versuchen sollten, zu beantworten.»

Iris Murdoch geht der Frage nach, was das Gute wirklich ist. Sie beruft sich auf Kant, Platon, Kierkegaard, setzt sich von den Existenzialisten ab, indem sie deren Ansatz als zu wenig weit reichend darlegt. Das Gute ist in sich nicht fassbar, doch liegt es allem sonst zugrunde, ist es das, wonach alles strebt, allen voran die Liebe. Das Buch lässt einen roten Faden vermissen, es hat keine abschließende Antwort, es ist ein Suchen und sich Annähern, dessen letzter Schritt offenbleiben muss.

Gedanken zum Buch

«Das Gute ist ein leerer Raum, in den menschliche Entscheidungen einziehen können.» Iris Murdoch

Das Gute ist kein Wert an sich, es muss erst verwirklicht werden durch das, was man tut. Indem man sich auf eine Weise verhält, die frei von (negativen) Absichten ist, wenn wir mit einem Blick auf die Welt schauen, der von Liebe durchdrungen ist, kommen wir dem Guten auf die Spur.

«Nach dem Guten zu fragen, ist nicht das Gleiche, wie danach zu fragen, was Wahrheit oder was Mut ist, da die Idee des Guten in eine Erklärung der Letzteren einfliessen muss.»

Das Gute lässt sich nicht fassen, nicht definieren, es ist das, was allem zugrunde liegt, sofern dieses nach dem Guten, was immer auch das Schöne und Richtige ist, weil es von Liebe durchdrungen ist, strebt.

«Der gute Mensch ist demütig.» Iris Murdoch

Nach Iris Murdoch ist der Mensch von Natur selbstsüchtig, indem er immer sich im Blick hat und alles, was er sieht, durch dieses Ich passiert. Nun ist der Blick dieses Ichs nie ungetrübt, er kommt aus einem Geist, der ständig in Bewegung ist, oft mit Sorgen beschäftigt, die sich wie ein Schleier über die Welt legen.

Hier setzt nach Iris Murdoch die Demut an, indem sie den Menschen erkennen lässt, dass das eigene Selbst nichtig ist, so dass er die Dinge sehen kann, wie sie sind – und nicht, wie Anais Nin es ausdrückte, so wie er ist. Er liest keinen Zweck oder Sinn in die Welt hinein, sondern sieht sie als Wert an sich. Als solcher Mensch ist es ihm möglich, ein guter zu werden.

«Als moralische Akteure müssen wir versuchen, gerecht zu sehen, Vorurteile anzulegen, Versuchungen aus dem Weg zu gehen, Einbildungen zu kontrollieren und zu zügeln, unsere Gedankengänge zu lenken… Güte und Schönheit sollten einander nicht gegenübergestellt werden, sondern gehören weitgehend zur selben Struktur.»

Fazit
Ein Buch, das sich mit eigenständigen Gedanken auf die Suche nach dem Guten macht, das den Leser mitnimmt auf diese Suche und ihn zum Mitdenken anregt.

Gedankensplitter: Unverzeihlich?

Ich habe in der letzten Zeit zweimal einen Beitrag über einen Menschen geschrieben, den ich durch einen Vortrag zum Gedenken an den Holocaust für mich neu entdeckt hatte. Wie immer, wenn das passiert, fange ich an nachzuforschen, wer das ist, wie sein Lebensweg war, was er geschrieben hat – und mehrheitlich endet es mit Buchbestellungen und dem Eintauchen in jegliche Form von Beiträgen. Natürlich blieb mir in dem Zusammenhang nicht verborgen, dass dieser Mensch in der Vergangenheit in einen Skandal verwickelt war, der menschlich-moralisch bedenklich war und im Zuge dessen er sich selbst aus der Öffentlichkeit nahm – um nun, doch viele Jahre später, wieder in ebendieser zu erscheinen und zu tun, was er eben kann: Moderieren, diskutieren, schreiben.

Die Reaktionen auf meine zwei Beiträge hätten unterschiedlicher nicht sein können. Von Freude über die Bücher und Gedanken über Neugier, sich selbst damit zu beschäftigen bis hin zur kategorischen Ablehnung war alles dabei. Und: Bei der Ablehnung ging es nicht nur um den betreffenden, dessen Vergehen man als dermassen unvertretbar ansah, dass er besser nie mehr in der Öffentlichkeit hätte erscheinen dürfen. Auf Ewigkeit verdammt in die Schamesecke quasi, wo er sein Sündenbrot (am besten zu spärlich, um satt zu werden) hätte essen dürfen. Man warf mich gleich mit in den Topf, fand «bedenklich» (sic!), dass ich mich einem solchen Menschen (also um ehrlich zu sein mehr seinem Tun) zuwandte.

Und da sitze ich dann und frage mich: Hat nicht jeder Mensch eine zweite Chance verdient? Spricht man nicht sogar bei Schwerverbrechern von Rehabilitation und einer zweiten Chance, sollen sie doch wieder Teil der Gesellschaft werden, aus der man niemanden ausstossen darf? Haben wir nicht im Grundgesetz das Menschenrecht von der unantastbaren Würde? Oder hört die da auf, wo uns ein Mensch in Ungnade gefallen ist?

Ich finde es legitim, wenn man für sich entscheidet, dass man bestimmten Menschen im eigenen Leben keinen Platz einräumt, denn man hat nur das und sollte es sich möglichst passend einrichten. Ich merke aber, dass ich Mühe habe, wenn man andere Menschen abwertet, ausgrenzt, verurteilt, marginalisiert, diskriminiert, nur weil sie den eigenen Massstäben nicht entsprechen. Konsequenterweise müsste man dann aufhören über Ethik und Moral nachzudenken, da man den Wert des Menschen nicht mehr universal betrachtet, sondern nur noch an Bedingungen geknüpft, die eigenen Massstäben entsprechen.

Eine Frage, die sich in dem Zusammenhang aber auch stellt, ist die alte Frage nach Werk und Urheber: Wenn der Urheber sich eines Unrechts schuldig gemacht hat, fällt damit sein Werk auch in Ungnade und ist in der Folge zu ignorieren? Würde uns da nicht sehr viel entgehen? All die Bilder von Caravaggio (ein Mörder), Picasso (Frauenheld), die Gedanken von Kant (Rassist und Frauenverachter), Voltaire (ebenso), Heidegger (Nazisympathisant), etc.?

Wie seht ihr das?

Lesemonat Juli 2023

Der Juli begann im warmen, sonnigen Spanien, ging dann bald in der zuerst warmen, sonnigen, dann kühleren und verregneten Schweiz weiter. Es war ein Monat voller Emotionen, tiefer Gedanken, grosser Lebensfragen und neuer Erkenntnisse. Ich habe mich vier Wochen ziemlich zurückgezogen, habe innerlich und äusserlich aufgeräumt, mich in die Lese- und Schreibarbeit gestürzt, und es wirklich genossen, die Zeit mit mir für mich zu gestalten. Ich bin mir aber bewusst, dass ich dies in der wunderbar privilegierten Position mache, Menschen im Leben zu haben, die da sind, die einen Rahmen und ein Beziehungsgefüge geben, in dem ich aufgehoben bin. Der August steht vor der Tür und damit zieht auch der Alltag wieder ein – und auch das wird wieder schön sein.

Mein Lesemonat war sehr philosophisch-politisch, also ganz so, wie es mir gefällt. Es war teilweise sehr schwere Kost drunter, die so manche Rauchwolke aus dem Hirn aufsteigen liess, aber insgesamt war es ein bereichernder Monat. Ich habe mit Charles Taylor die Quellen des Selbst erforscht, bin dem Ursprung dieses Konstrukts nachgegangen, um nachher mit Franz Wuketits zu fragen, wie viel Moral überhaupt menschlich ist und wie diese zustande kommt. Ich habe mich mit dem Bösen beschäftigt und mit der Freiheit, habe mich des Wertes der Menschenrechte nochmals versichert, die in den Geschlechter- und epistemischen Ungerechtigkeiten sicher oft tangiert werden, habe mich mit Demokratie und der notwendigen Pluralität in dieser befasst, damit, wo und wie wir fremd sein können und andere zu Fremden machen. Und ich bin mit Julian Nida-Rümelin einig gewesen, dass all das in der Schule gelernt und gelebt werden sollte, so dass das letzte Buch eigentlich komplett hätte markiert werden können.

So kann es weitergehen.

Was waren eure Lesehighlights im Juli?

Hier die komplette Leseliste:

Charles Taylor: Die Quellen des SelbstEin Blick auf die Entwicklung der menschlichen Moral und ihren Bezug zum Selbst (-bild) des Menschen. Wie hat sich die Identität des Menschen entwickelt, worauf gründet seine Auffassung dessen, was es heisst, ein handelndes Wesen zu sein. Sehr ausführlich, sehr tief in der Philosophiegeschichte verankert, ab und zu geht der rote Faden gefühlt verloren und es bleibt am Schluss das Gefühl, was nun damit anzufangen sei. Aber: ein Grundlagenwerk, das die verschiedenen philosophischen Standpunkte kompetent zusammenführt. 4
Franz Wuketits: Wie viel Moral verträgt der MenschEine Studie zur Moral, welche nie universal und absolut ist, sondern immer konstruiert von Menschen in bestimmten Gruppen, getrieben von egoistischen Wünschen. Verabsolutierung von Moral zusammen mit Macht wird gefährlich. Viel Geplauder, viel Populismus, einige gute Gedanken, aber mehrheitlich nichts Neues. 3
Bettina Stagneth: Böses DenkenMit Kant und Hannah Arendt auf der Suche nach der Moral, sie zwischen dem radikalen Bösen und der Banalität desselben einpendeln, für eigenes Denken plädieren und Moral als Gefühl der inneren Stimmigkeit sehen, als Hoffnung auf eine bessere Welt, indem wir als aufgeklärte Menschen unseren eigenen Verstand gebrauchen und nicht blinden Gehorsam an den Tag legen. Gute Gedanken in einem Buch über ein spannendes Thema, und doch wurde ich nicht warm damit. Der Sprachstil war zu plauderhaft. 3
Gerhart Baum: FreiheitEin kluges, kleines Buch darüber, was Freiheit bedeutet und was sie von uns fordert. Freiheit ist dem Menschen als Sehnsucht eingeschrieben, wir müssen an einer Welt arbeiten, welche diese möglich macht, eine Welt, in der unsere Werte unser Handeln leiten zugunsten von mehr Gleichheit und Teilhabe, von freiem Leben für alle. Freiheit ist auch eine Verantwortung, nämlich die Missstände zu sehen und dazu beizutragen, sie zu beheben. 5
Gerhart Baum: MenschenrechteEin Blick auf die Menschenrechte, auf ihre Geschichte, auf ihre Notwendigkeit, auf ihre Probleme, und darauf, wie wir für eine bessere Zukunft für die Menschenrechte einstehen müssen. Menschenrechte sind immer Einmischung, aber diese ist notwendig, im die Menschenwürde zu bewahren – für alle. Viele Berichte aus Baums eigener Erfahrung aus seiner Arbeit für die Menschenrechte, aktuelle Analysen. Ab und zu dringt die Parteipolitik durch, aber nie dominant. 4
Scherger, Abramowski, etc.: Geschlechterungleichheiten in Arbeit, Wohlfahrtsstaat und FamilieEine Festschrift für Karin Gottschall mit diversen Aufsätzen zum Thema der Geschlechterungleichheiten. Beleuchtet werden institutionelle, arbeitsmarktstechnische und familiäre Umstände und die jeweiligen Geschlechterverhältnisse. Die Aufsätze sind qualitativ sehr unterschiedlich, von in Wissenschaftssprache verpackten Alltagsweisheiten hin zu analytisch interessanten Erkenntnissen ist alles dabei3
Wendy Brown: Wir sind jetzt alle Demokraten… (in: Demokratie? Eine Debatte)Ist Demokratie zu einer symbolbeladenen leeren Hülse verkommen, in die jeder seine Hoffnungen  stecken kann? Ein Blick auf das Kranken unserer Demokratien, dessen Gründe und die offene Frage: Ist Demokratie wirklich (noch) die richtige Staatsform? Es gilt, genau hinzusehen, was wir wollen, können und was für eine wirkliche Demokratie nötig wäre. 5
Michel Friedman: FremdEine Vergangenheitsbewältigung in Bruchstücken, formal fast lyrisch anmutend, doch es sind mehr Worte. Es sind Fetzen, die sich Zeile für Zeile zu Gefühlen und Bildern formen. Man darf es nicht einfach schnell lesen, sonst lenkt die Form zu sehr vom Inhalt ab. Man muss es langsam, am besten laut (noch besser vorlesen lassen), lesen – und fühlen. Dann berührt es. Tief in der Seele, es bewegt und macht nachdenklich. Und sprachlos.  5
Hadija Haruna-Oelker: Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders denkenEin Buch darüber, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, die keine Anderen mehr kennt, sondern durch mehr Offenheit, durch die Anerkennung von Menschen in ihrer Diversität, durch gegenseitige Solidarität und Unterstützung ein Verbündetsein von Menschen mit all ihren Verschiedenheiten anstrebt. Dazu bedarf es der Bereitschaft, zuzuhören, Vorurteile, auch eigene, zu entdecken und zu verlernen, um ein neues Miteinander zu lernen. 5
Eva Lohmann: Das leise Platzen unserer TräumeEin Paar, das sich auseinander gelebt hat, er geht schon lange fremd. Doch trennen können sie sich nicht. Eine alleinerziehende Mutter, die Geliebte, denkt an die Frau, deren Mann in ihrem Bett liegt, spricht mit ihr in Gedanken. Lesend gerät man immer tiefer in die Geschichte hinein, denkt mit, fühlt mit, ist gefangen, kann nicht loslassen. Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen mag.5
Miranda Fricker: Epistemische UngerechtigkeitBei Ungerechtigkeit dürfe man nicht nur materielle Kriterien gelten lassen, sondern auch die Glaubwürdigkeit von Menschen sei ungerecht verteilt, weil soziale Vorurteile zu einer Marginalisierung bestimmter Gruppen und der Zugehörigen (Frauen, Arme, POC, etc.) führen. Nur indem wir uns dessen bewusst werden, und je einzeln und auch in Institutionen und Systemen die eigenen Vorurteile erkennen und für die Beurteilung von Zeugnissen ausschalten, können wir identitätsstiftende Machtsysteme ausschalten. Alles in allem nichts Neues in eine hochkomplexe Sprache verpackt und (zu) ausführlich mit Argumenten und Verweisen abgestützt. 3
Julian Nida-Rümelin: Demokratie in die Köpfe. Warum sich unsere Zukunft in den Schulen entscheidetWie steht es um unsere Demokratie und was müssen wir tun, um die Demokratie wieder lebendig zu gestalten. Und: Wo müssen wir damit anfangen? Demokratie ist abhängig von demokratischen Bürgern. Demokratisches Verhalten muss gelernt werden und das sollte in den Schulen beginnen – nicht als Wissensvermittlung, sondern durch direkte Erfahrung. Generell bedarf es einer dringenden Umgestaltung unserer Schulen, um diese wieder als Ort des freudigen Lernens für Schüler zu machen, an welchem diese zu demokratischen, selbstwirksamen, aktiven Demokraten werden, die das gemeinsame Leben und die gemeinsame Politik gestalten. Das Buch sollte Pflichtlektüre in Lehrerzimmern, in Schulbehörden und bei Eltern werden.     5+

Gedankensplitter: Das Schöne wollen

« Es taumelt eine von Verdummung trunkene, verwahrloste Menschheit unter Ausschreien technischer und sportlicher Sensationsrekorde ihrem gar nicht mehr ungewollten Untergang entgegen»

Diese Worte wählte Thomas Mann 1955 in seinem «Versuch über Schiller anlässlich dessen 150. Geburtstag. Sie wären heute noch genauso passend, es scheint, die Welt ist, stillgestanden. Ich korrigiere: Die Welt hat sich (leider?) weitergedreht, doch wir Menschen sind stillgestanden und schauen ihr zu beim Untergang. Hier und da hört man ein schwaches «Man kann halt nichts tun.» Es erinnert mich immer an das «Man konnte halt nichts tun.» aus anderen Zeiten, aus dunklen Zeiten, aus Zeiten, aus denen wir offensichtlich wenig gelernt haben, schaut man sich in der Politik um.

Friedrich Schiller glaubte an die Moral, er glaubte an einen unbedingten Willen zur Moral, zu einer ästhetisierenden Moral. Indem der Mensch sich mit schöner Kunst beschäftige, finde er den Zugang zur Freiheit und zu vernünftigem Handeln, das auf moralischen Einsichten gründet. Das befördere nicht nur das Glück des Einzelnen, sondern das aller. 

Thomas Mann attestierte Schiller einen

„Willen zum Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst»

Und vielleicht ist das der Weg hin zu einer Welt mit weniger Angst, zu einer Welt mit mehr Miteinander, zu einer Welt, in der der Mensch Mensch ist und als solcher zählt als Gleicher unter Gleichen. Das wäre Freiheit. Das wäre Menschenwürde. Sie stehen allen zu. 

Gedankensplitter: Selber denken

„Moral ist der Ausdruck der Hoffnung, dass unsere Welt besser werden kann, als sie ist, und der Wille, herauszufinden, wie man die Welt verändert, ohne alles noch schlimmer zu machen Aufklärung ist die Forderung an jeden Einzelnen, bei genau dem anzufangen, was er selber ändern kann, also tatsächlich vernünftig zu handeln als vom Paradies zu träumen.“ Bettina Stangneth

Wenn wir heute von Moral sprechen, denken wir an den erhobenen Zeigefinger und Verhaltensnormen, die das perfekte Verhalten in einer perfekt gewollten Welt fordern. Dass diesem Anspruch kein Mensch genügen kann, liegt in der Natur desselben, dass im Wissen um die Erwartungen und das eigene Scheitern daran die Moral in Verruf kommt, folgt unweigerlich. Von Moralaposteln ist die Rede, von moralinsauren Zeitgenossen. Und: Das stimmt grösstenteils auch. Oft ist in so rigiden Forderungen mehr Selbstprofilierungsdenken als wirkliche Sorge um das gute Zusammenleben angelegt. Kann man sich dann mit solchen Forderungen noch zu Gruppen formieren, der gegenüber ein gemeinsamer Feind steht, nämlich einer, welcher den eigenen Anforderungen nicht genügt, kann es gefährlich werden.

„Ich trau dem Wir nicht. Das Wir ist sehr hungrig nach dem Ich.“

Mit diesen Worten beschreibt MIchel Friedman seine Sicht auf Gruppen, die er als grösstes Problem ansieht. In Gruppen verschwindet der Einzelne, er wird zu einem Teil des Kollektivs. Sobald wir uns in Gruppen formieren und diesen Gruppen blind folgen (um dazuzugehören), geben wir das eigene Denken auf. Wir verzichten also auf das, was Hannah Arendt als grundlegend für ein moralisches Verhalten hält. Nur wenn wir uns unseres eigenen Verstandes bedienen, wie Kant es formulierte, haben wir Zugang zu dem Gefühl von richtig und falsch, das tief in uns angelegt ist, wozu wir keine Regeln von aussen bedürfen. Wenn wir aus diesem Gefühl heraus handeln, wenn wir uns für das richtige entscheiden, können wir uns als Menschen unter Menschen begegnen, die einander nichts Böses wollen, dann können wir in Beziehung treten im Vertrauen, unversehrt zu bleiben. Dann ist die Welt noch kein Paradies, aber wir machen sie vielleicht ein Stück besser da, wo wir es können. 

Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse

Inhalt

«Denn wer in einer Gesellschaft lebt, grenzt andere aus; wer Regeln versteht, will diese überwachen: wer Vertrauen schenkt, macht sich abhängig; wer Wohlstand erzeugt, schafft Ungleichheit und Ausbeutung; wer Frieden will, muss manchmal kämpfen.»

Unsere Gesellschaft hat sich über die Jahrhunderte hinweg verändert, neue Institutionen, Technologien, Wissensgebiete und -bestände sind entstanden und mit ihnen haben sich auch unsere Werte und Normen verändert. All diese Veränderungen haben das Verhalten der Menschen als Einzelne und als Gesellschaft verändert. Wir stehen vor der Aufgabe, mit diesen Veränderungen umzugehen und immer wieder Wege zu finden, die ein Miteinander möglich machen.

Hanno Sauer macht sich auf die Reise durch die Jahrtausende, er zeichnet die Geschichte der Gesellschaft und ihrer kulturellen und moralischen Entwicklung nach, um die aktuelle Krise zu erklären und aus dieser Erklärung heraus Hoffnung für die Zukunft abzuleiten.

Gedanken zum Buch

Moral ist immer eine konventionelle Entscheidung darüber, was zu einer Zeit an einem Ort von der entscheidenden Mehrheit als gut oder böse, als richtig oder falsch gesehen wird. Daraus ergeben sich dann die entsprechenden moralischen Normen, die für das Zusammenleben verbindlich sind. Diese Normen entstehen also nicht im luftleeren Raum, sondern sie fussen auf dem menschlichen Naturell und dessen Handlungmotivationen, auf Werten und Interessen.

«Als kooperativ wird ein Verhalten genau dann bezeichnet, wenn es das unmittelbare Selbstinteresse zugunsten eines grösseren gemeinsamen Vorteils zurückstellt.»

Menschen sind soziale Wesen, die allein und ohne Zugehörigkeit zu einer Gruppe kaum überleben können, zumal sie von Natur ziemlich verletzlich und damit auf Schutz angewiesen sind. Das Zusammenleben in einer und das Überleben einer Gruppe ist auf Kooperation angewiesen. Der Einzelne muss seine eigenen Interessen zugunsten des grossen Ganzen zurückstellen.

«Strafen halfen dabei, uns zu domestizieren, weil wir durch sie wichtige Fähigkeiten wie Selbstkontrolle, Fügsamkeit, Weitsicht und Friedfertigkeit erlernten, die ein Leben in wachsenden Gruppen möglich machten.»

Bei aller Einsicht in die Vorteile von gemeinsamen Normen und kooperativem Verhalten sind nicht immer alle bereit, sich auch daran zu halten, weil sie sich aus von diesen abweichenden Handlungen Profit versprechen. Um den Rest der Gruppe und damit auch das Zusammenleben zu schützen, hat man Sanktionen erfunden, welche das gemeinschaftsgefährdende Verhalten sanktionieren.

«Imperativ der Integration: Moderne Gesellschaften haben sich gefälligst zu bemühen, ererbte Formen sozialer Segregation und Benachteiligung durch aktive Inklusionsmassnahmen endlich zu überwinden.»

Man hört oft von der Krise der Gesellschaft und davon, dass diese gespalten sei. Rassismus, Sexismus und andere -ismen gefährden ein gerechtes Miteinander von verschiedenen und doch gleichwertigen Menschen. Unsere Anstrengung muss dahin gehen, diese Diskriminierungen und Ausgrenzungen zu überwinden. Die Hoffnung, dass das gelingen kann, besteht.

Fazit
Ein fundiertes, tiefgründiges, kompetentes und dabei doch gut lesbares Buch darüber, wie die Moral in die Gesellschaft kam, wozu sie gut ist, und wohin wir mit ihr gelangen wollen als Gesellschaft. Eine absolute Leseempfehlung für dieses grossartige Buch!

Zum Autor
Hanno Sauer, Jahrgang 1983, ist Philosoph und lehrt Ethik an der Universität Utrecht. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze und mehrerer wissenschaftlicher Werke. Zahlreiche Vorträge in Europa und Nordamerika. Hanno Sauer lebt in Düsseldorf.

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Piper; 2. Edition (30. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 400 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3492071406

Philosophisches: Gleiche Rechte für alle?

«Die Rechte, die man anderen zugesteht, kann man auch von anderen fordern; doch können wir von anderen nicht fordern, was wir selbst nicht respektieren.» (George H. Mead)

Ein einfacher Satz, dem die meisten wohl zustimmen würden auf den ersten Blick. Auf den zweiten wirft er doch Fragen auf: Kann ich wirklich von anderen fordern, dass sie mir sie gleichen Rechte zugestehen wie ich ihnen? Ich kann es hoffen, vielleicht sogar erwarten (mit einer möglichen Enttäuschung), aber fordern? Zudem: Von was für Rechten sprechen wir? Und hat jeder wirklich dieselben? Sollte jeder dieselben haben? Gibt es nicht auch bei Menschen unterschiedliche Voraussetzungen, die unterschiedliche Rechte (und auch Pflichten) zur Folge haben? Ein Kind hat andere Rechte als ein Erwachsener, ein Polizist hat andere Rechte im Umgang mit Straftätern als eine Privatperson.

Die nächste Frage ist, ob es überhaupt sinnvoll wäre, Rechte einzufordern. Das würde Rechte zu einem Tauschgeschäft machen. Ich habe dir einen Gefallen getan, nun musst du mir auch einen tun. Was, wenn nicht? Bereue ich meinen dann? Mache ich dem anderen nie mehr einen? Sinkt er nun in meiner Anerkennung, meiner Zuneigung?

Beim letzten Teil wird es leichter. Was wir nicht bereit sind, zu tun, können wir auch nicht einfordern. Es ist unfair, selbst hohe moralische Werte zu haben, selbst aber nicht danach zu leben, dies aber von anderen zu erwarten. Das ist eine Doppelmoral, die sich leider oft zeigt: Der ausgestreckte Zeigefinger auf andere, wenn die gegen die eigenen Lebensmaximen verstossen. Dass dabei immer drei Finger auf einen selbst zeigen, ignoriert man, weil man da nicht genau hinschaut. Darauf angesprochen finden sich immer Gründe, wieso man selbst grad nicht konnte, wieso man selbst gerade eine Ausnahme machen musste. Das kann man tun, nur sollte man dies dann auch dem anderen zugestehen. Und wenn man das nicht will, bleibt Gandhis Spruch, an dem viel Wahres ist:

«Sei du die Veränderung, die du in der Welt gerne sähest.»

5 Inspirationen – Woche 16

Schon wieder ist eine Woche um, zwar verändert sich in meinem Leben ja selten viel, da ich darum bemüht bin, es möglichst gleichförmig zu halten – und aktuell ist auch wenig drüber hinaus möglich. Das Highlight der Woche war sicher, dass meine Mutter in meine Nähe zog. Wir waren über Jahrzehnte lokal weit gestreut, der Kontakt war eher wenig. Ich freue mich auf hoffentlich noch ganz viele wunderbare gemeinsame Zeiten. Ansonsten bin ich dankbar für alles, was gut ist, stosse ab und zu an eigene Grenzen, nehme sie wahr, hadere weiter und versöhne mich. Leben halt.  

Was ist mir diese Woche begegnet, hat mich diese Woche inspiriert?

  • Diese Woche wurde mir etwas bewusst, das ich zwar schon wusste, das ich mir aber wohl immer wieder neu vor Augen führen muss: Ich bin in meiner Art des Seins wohl eher eigen. Ich bin ein Mensch, der viel Zeit für sich, für seine Projekte braucht, ein Mensch, der schnell an Grenzen stösst, wenn zu viele Menschen etwas wollen oder schlicht da sind, wenn zu viele Termine in der Agenda stehen. Für andere Menschen mag das anders sein, doch hilft mir das nichts. Ich bin, wie ich bin. Es tat mir gut, in einem Podcast eine Schriftstellerin sagen zu hören:

„Mir ging es in dieser Coronazeit sehr gut, endlich hatte ich Ruhe, endlich wollte keiner mehr was von mir, endlich musste ich das Haus nicht mehr verlassen.“

Und auch sie hat sich diese Pandemie nicht gewünscht, auch sie hatte grosses Mitgefühl für all diejenigen, die auf ganz verschiedenen Ebenen leiden darunter. Aber sie empfand für sich selber so. Und das tue ich auch. Ich nenne diese Erkenntnis „Mut, ich selber zu sein und dazu zu stehen“.

  •  Ich hörte den Podcast „Hotel Matze“, dieses Mal mit dem Philosophen Markus Gabriel zur Frage, wie Philosophen über die Zeit nachdenken. Es ging darin um Themen wie die Schere zwischen Arm und Reich und was man dagegen tun könnte, um das Aufräumen mit Feindbildern durch eine klarere Sicht auf sich selber, um das Lernen und den Umgang mit Fehlern – und vieles mehr. Ein schönes Zitat aus dem Podcast:


Moralischer Fortschritt geschieht dann, wenn wir neue Erkenntnisse darüber gewinnen, was wir tun und was wir lassen sollten.“

Und noch ein Podcast hat mich diese Woche inspiriert und bewegt, da er ein Thema behandelt, das mir auch am Herzen liegt: Der Bücher-Podcast der FAZ zum Buch «Lesen macht stark». (Die Rezension zum Buch wird noch folgen). Darin wurde das Thema «Leseförderung» angesprochen, ein Feld, in dem ich mich auch noch mehr engagieren möchte. Wenn man weiss, dass (in Deutschland – in der Schweiz sind die Zahlen wohl ähnlich und sie stammen von vor Corona… eventuell gab es da noch eine Verschiebung) 18% der Kinder in der 4. Klasse nicht sinnentnehmend lesen können (sie kennen zwar die Buchstaben, verstehen aber den Sinn dessen, was sie lesen nicht), dass es in der 1. Sekundarstufe schon 21% sind und insgesamt 1/3 der nichtgymnasialen Abgänger ebenso strukturelle Analphabeten sind, dann zeigt sich da ein Handlungsbedarf. Dabei denke ich nicht an Lesezwang oder ähnliche Unsinnigkeiten, sondern daran, Kindern Freude am Lesen zu vermitteln durch das Einbinden von Lesen in gemeinsame Erlebnisse. Und so einiges mehr. (Mehr würde diesen Rahmen sprengen, aber auch darüber werde ich noch genauer schreiben).

  • Prokrastination ist etwas, das ich fast in Perfektion beherrsche. Ich setze mich am Morgen – eigentlich guten Mutes – an meinen Schreibtisch und verzettle mich dann völlig. Lese meine Mails, statt mit meiner Arbeit zu beginnen, bleibe bei einem hängen, dieses führt zum nächsten, und so finde ich mich schon bald dabei kreuz und quer durchs Netz zu lesen, durchaus spannende und interessante Artikel, aber halt nicht das, was ich mir vorgenommen habe. Ab und an geschieht das unbewusst, ab und an schiebe ich wirklich bewusst auf, weil ich irgendwie eine Ladehemmung habe. Die Frustration über das Liegengebliebene ist verständlicherweise gross, zumal es eigentlich Herzensprojekte sind, die ich aufschiebe. Diese Woche war ich wieder einmal dabei und sagte dann „stopp“. Und ich „zwang mich, alles auszuschalten und mich an meine Arbeit zu setzen. Und siehe da. Sobald ich angefangen hatte, lief es wie von selber, es machte Spass, ich kam voran und war danach richtig erfüllt. Ab und an muss man seinen eigenen inneren Schweinehund in die Schranken weisen – das ist im Moment schwierig, danach aber so bereichernd.
  • Kürzlich machte ich mir Sorgen um einen lieben Menschen. Da ich mir das nicht anmerken lassen wollte, überspielte ich diese Sorge mit gut gemeinten (kennt ihr den Ausspruch *gut gemeint ist der kleine Bruder von scheisse gemacht“ oder habe ich den erfunden? Ist zumindest meine Überzeugung) Sprüchen, die Fürsorge zeigen sollten, aber wohl davon ziemlich weit entfernt waren. Nicht, weil ich diese nicht haben wollte, im Gegenteil, aber ich wollte dem Betroffenen nicht mit meiner besorgten Haltung zur Last fallen. Und ich habe wohl genau damit alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte. Weil: Ich war nicht mehr verständlich. Zumindest nicht für einen Menschen, der hinsieht, mich kennt, „mit dem Herzen sieht“. Ich wäre es wohl auch für den Rest nicht gewesen, was bleibt: Sich verstellen bringt wenig – und wenn, dann nur bei Menschen, die eigentlich nicht zählen sollten, da sie so weit weg sind, dass weder sie mich noch ich sie betreffe. So wirklich.

Ich hoffe, es war was für euch dabei, das euch angesprochen hat. Wenn ihr etwas habt, das euch diese Woche angesprochen, bewegt, inspiriert hat – ich würde mich freuen, wenn ihr davon berichten würdet. Ich wünsche euch ein schönes Wochenende und einen guten Start in die neue Woche!

Moral, Künstler und Kunst

Wir haben als Menschen gewisse moralische Grundsätze. Die besagen, was geht und was eben nicht geht. Das ändert mit der Zeit, ist auch nicht an allen Orten gleich, aber Menschen, die zur gleichen Zeit im gleichen Kulturkreis leben, teilen mehrheitlich dieselben moralischen Grundsätze.

Seit es Menschen gibt, gibt es auch Kunst – in irgendeiner Form. Über Sinn und Zweck derselben streitet man zwar ab und an, aber jeder geniesst sie in irgendeiner Form und das ist Grund genug, sie weiterleben zu lassen. Kunst wird von Menschen produziert, wir nennen sie Künstler. Da sie aber Menschen bleiben, haben sie auch menschliche Eigenschaften – und damit ihre Abgründe. Was, wenn ein solcher Abgrund offengelegt wird? Was, wenn plötzlich ein Künstler einer Tat bezichtigt wird, die unseren moralischen Grundsätzen widerspricht? Betrifft das nur sein Menschsein oder aber auch seine Kunst?

Darf man Kunst eines Menschen, der sich moralisch verwerflich verhielt, noch geniessen?

Polanski hat Mädchen sexuell ausgenutzt. Weinstein stand vor kurzem am Pranger. Nun haben wir noch Kevin Spacey, Michael Jackson stand praktisch immer unter Verdacht. Das sind ein paar Namen, die mir grad einfallen, es gibt sicher viele mehr und: Es gibt ganz sicher eine enorme Dunkelziffer. Denn die Namen kennen wir ja erst, wenn jemand redet. Die Maschinerie des Schweigens funktioniert oft gut. Zu gut.

Wenn wir alle Filme von Filmproduzenten, welche übergriffig wurden, boykottieren, fällt schon mal eine grosse Bandbreite weg – darunter Filme, die Kultstatus erreichten (gerade fällt mir noch Woody Allen ein….Bing Crosby). Es gibt ja auch nicht nur Missbrauch – was ist mit Scientology? Würde man Sekten verurteilen moralisch, wären alle Filme mit Anhängern der Sekte tabu. Und: Gilt nur Moral oder auch Recht? Wie ist es mit Steuerhinterziehung? Betrug (in welcher Form auch immer)?

Der Ruf zum Boykott ist verständlich. Man will keinen Menschen „belohnen“, der sich unmoralisch verhalten hat. Man will keinem in die Hände spielen, der Blut an diesen kleben hat. Man möchte integer sein. Man hat Werte. Ansprüche. Und das ist gut so. Nur so funktioniert ein Miteinander, eine Gesellschaft. Aber:

Die Welt ist nicht schwarz-weiss, sie hat leider ganz viele Schattierungen und die machen es verdammt schwer, in ihr zu leben und zu urteilen. Auch einer, der moralisch ein Schwein ist, kann einen künstlerischen Blick auf Dinge haben, der toll ist, der tief ist, der wahr ist. Wenn man diesen anerkennt, akzeptiert man nicht gleich sein moralisches Vergehen mit.

Das Kunstwerk entstand nicht im luftleeren Raum. Es entstand in und durch den Menschen, der durch sein anderes Tun ein Ekel, ein unmoralischer Mensch, ein Betrüger oder was auch immer ist. Aber wenn er es geschaffen hat, steht es auch für sich. Als Kunst. Das vollendete Werk ist vom Künstler losgelassen. Er wendet sich dann Neuem zu. Das sagen ganz viele Künstler über ihre Werke: Sie brüten und schaffen – dann lassen sie los. Und dann passiert ja auch viel damit durch die Reaktionen der Betrachter. Das Werk gehört quasi ihnen, da sie dann daraus durch die Rezeption was machen.

Drum schaue und höre ich mir weiter Werke von Künstlern an, die ich moralisch fragwürdig finde. Ich neigte noch nie zum Fan-Kult. Mir ist relativ egal, wer hinter einem Werk steht. Entweder es überzeugt mich oder nicht. Das gibt den Ausschlag, ob es meine Zeit wert ist – oder nicht. Wie haltet ihr das?

Erich Kästner: Fabian (Rezension)

Die Geschichte eines Moralisten

Der Moralist, der nicht im trüben Wasser schwimmen konnte

Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karrikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äusserste, was er vermag. […]

Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. Ihn füllt er, so gut er kann, aus. Sein Wahlspruch hiess immer und heisst auch jetzt: Dennoch!

Inhalt
Fabian, ein am Leben pessimistischer Moralist hält sich mit verschiedenen Jobs über Wasser, lernt das Leben und die Menschen mit all ihren Facetten kennen und sieht das eigene Land langsam untergehen. An ein eigenes Glück oder Liebe gar glaubt er nicht, bis er eines Tages Cornelia kennenlernt und mit ihr die glücklichste Zeit seines Lebens erlebt. Hatte er bislang doch alles zu schwarz gesehen?

Zusammenfassung
KästnerFabianFabian, Dr. der Germanistik und zweiunddreissig Jahre alt, hält sich finanziell mehr schlecht als recht in abwechselnden Jobs über Wasser. In seiner Freizeit treibt er sich in zweifelhaften Etablissements herum, trinkt mit befreundeten Journalisten eines über den Durst, hat Liebschaften und diskutiert mit seinem Freund Labude über die pessimistischen Aussichten für Deutschland und Europa.
Fabian glaubt nicht an das Glück, er glaubt nicht an die Liebe, bis er Cornelia trifft und sich verliebt. Nach ein paar Tagen glücklichen Daseins verliert er seine Stelle. Einerseits für die eigene Karriere, andererseits, um ihm zu helfen, lässt sich Cornelia mit einem Filmmagnaten ein – einmal mehr ist Fabians Unglück besiegelt.

Nachdem sich auch noch sein bester Freund Labude umgebracht hat – aufgrund eines als Witz getarnten Missverständnisses – sieht Fabian seine Zeit in Berlin beendet. Er geht nach Hause ins Dorf seiner Eltern, lebt eine Weile in bleierner Langeweile, lehnt eine ihm angebotene Stelle bei einem rechten Blatt ab und plant eine Auszeit in den Bergen. So weit soll es nicht mehr kommen:

Plötzlich sah er, dass ein kleiner Junge auf dem steinernen Brückengeländer balancierte. Fabian beschlenigte seine Schritte, Er rannte. Da schwankte der Junge, stiess einen gellenden Schrei aus, sank in die Knie, warf die Arme in die Luft und stürzte vom Geländer hintuner in den Fluss.
[…]
Fabian […]zog die Jacke aus und sprang, das Kind zu retten, hinterher. […] Der kleine Junge schwamm heulend ans Ufer. Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.

Beurteilung
Fabian. Die Geschichte eines Moralisten ist eine brillante Satire auf die deutsche, speziell die Berliner Gesellschaft der späten Zwanzigerjahre, die Zeit der Wirtschaftskrise. Fabian ist ein scharfer Beobachter des Lebens um ihn herum. Er bewegt sich in den verschiedenen Milieus, oft am Rande der Gesellschaft, und sieht da hinter die Masken der herrschenden Doppelmoral.

Kästner wollte warnen, als er dieses Buch schrieb. Er wollte vor dem Abgrund warnen, auf welchen er Deutschland und Europa zuschreiten sah. Es ist – wie seine in der gleichen Zeit entstandenen Gedichte – der sogenannten „neuen Sachlichkeit“ zuzuschreiben, die Figuren und die einzelnen Szenen sind nicht Abbilder, sie sind Zerrbilder. Sowohl die Laster wie auch die Tugenden werden durch Erhöhungen überzeichnet und so in einer Komik dargestellt, die einerseits zum Schmunzeln anregt, andererseits aber auch genauer hinschauen lässt.

Das schnelle Tempo, die rasch wechselnden Szenen, die einfachen Sätze und der überall vorherrschende Sprachwitz geben dem Roman eine Dynamik, die Schnoddrigkeit, Ironie und Schlagfertigkeit in den einzelnen Dialogen ziehen den Leser in die Geschichte hinein, lassen diese lebendig wirken.

Fazit:
Ein wunderbar tiefgründiges, satirisches, witziges Buch, das durch Lebendigkeit der Sprache, Witz und Ironie besticht. Eine brillante Mischung aus ernstem Anliegen und humorvoller Umsetzung. Eine absolute Leseempfehlung.

Zum Autor
Erich Kästner
Als die Nationalsozialisten am 10. Mai 1933 Bücher und Bilder unliebsamer Künstler verbrannten, waren auch Werke von Erich Kästner darunter. Seine zeitkritischen und satirischen Texte hatten ihn in Ungnade fallen lassen. Der am 23. Februar 1899 in Dresden geborene Journalist und Schriftsteller lebte und arbeitete weiter in Berlin und publizierte im Ausland. Die Gedichtbände „Herz auf Taille“ und „Lärm im Spiegel“ erschienen 1928 und 1929, ebenso sein bekanntestes Kinderbuch „Emil und die Detektive“. Nach dem Krieg lebte Kästner in München und rechnete als Mitglied der „Schaubude“ sowie in seinen Hörspielen und Liedern mit den Nazis ab. Er starb am 29. Juli 1974 in München.

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 272 Seiten
Verlag: Atrium Zürich (5. Mai 2017)
ISBN: 978-3038820086
Preis: EUR 12 / CHF 17.90

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Werk und Schöpfer

Oft hörte ich: Den Künstler lese oder höre ich nicht, dessen Bilder schau ich mir nicht an – weil: Er war menschlich, politisch, ethisch auf einer Linie, die meiner nicht entspricht, oder er ist gar so untragbar ist, dass man den Menschen mit allem, was er hervorbrachte, ignorieren müsste.

Die Frage, die sich mir hier stellt, ist: Kann man den Faden so spinnen in der Kunst – und generell? Ist jemand, der auf einer – oder mehreren – Ebene(n) daneben griff, auf allen Ebenen und absolut zu verdammen? Kann jemand, nur weil er irgendwo falsch lag, nicht irgendwo auch richtig liegen? Was ist der richtige Umgang mit Menschen, die sich menschlich oder ethisch disqualifizieren? Was ist der richtige Umgang mit dem, was sie sagen, tun, schaffen?

Zum Beispiel
Michael Jackson. Ein Meilenstein der Popmusik. Kaum einer kennt den Namen nicht, gewisse Lieder haben sich so eigebrannt, dass man beim ersten Takt weiss, was es ist. Aber – bei aller musikalischen Leistung – es gab eine dunkle Seite. Immer wieder kamen Gerüchte auf, er sei pädophil. Die (juristische) Gewissheit gab es nie, die Gerüchte und Fakten reichten aber, den Verdacht als begründet zu sehen in der Allgemeinheit. Was macht das mit seinem Werk? Darf man das noch hören? Ist Thriller plötzlich weniger gut?

Ein weiteres Beispiel
Ezra Pound – Wegbereiter der modernen Lyrik und Faschist. „Muss“ man ihn lesen, weil er lyrisch etwas zu bieten hat, weil er ein Meilenstein der Literaturgeschichte ist, oder sollte man ihn meiden, weil er ein Gedankengut vertrat, das nicht zu vertreten ist?

Noch ein Beispiel gefällig?
Was ist mit Heidegger? Ein Nazi? Sind seine Texte zum Denken, seine klaren Analysen zur Zeit und zum Sein hinfällig, weil er der falschen Ideologie anhing (für eine Zeit)?

Zählt das Werk für sich oder ist es immer auf den Schöpfer begrenzt? Kann ich Michael Jacksons Musik mögen, ohne damit Pädophilie zu verharmlosen? Muss ich mich von Pound distanzieren, weil ich den Faschismus/Nationalsozialismus und alle seiner Unterstützer damit als verabscheuenswürdig erachte? Kann einer, der einer falschen Ideologie folgt, trotzdem etwas Wertvolles und Wahres sagen?

Wie geht man damit um? Jedes Werk hat einen Schöpfer und es ist von diesem durchtränkt. Durchtränkt eine Ideologie das ganze Werk oder kann daneben was blühen? Ganz unbedarft?

Ich frage.

Der Spott der Welt über das Scheitern anderer

Aktuell lese ich überall Spott über das Ehe-Aus von Sarah und Pietro. Wie traurig ist das?Haben erwachsene Menschen nichts Besseres zu tun, als ihre Schadenfreude und ihren Spott zu feiern?

Da verliert grad ein Kind seine heile Familie (und ich höre den Spott und die Korinthenkackerei jetzt schon wieder ob dieses Begriffs) und man hat nichts Besseres zu tun, als sich ach so witzig zu fühlen? Ist das die Welt, in der ihr leben wollt? Echt jetzt?

Ich könnte sagen, ich habe es gesagt (und ja, das tat ich) – nur: Wir müssen nicht richten, wir können es selber besser machen. Ich habe so die Nase voll von all dem moralinsauren Urteilen über andere – und immer unter dem Deckmantel von Ironie, Satiere oder „es war nur witzig gemeint“.

Wir haben auf der Welt echt schlimmere Probleme als ein auseinander gehendes Pseudopromipaar. Und jeder hat wohl mit sich selber nochmals genug zu tun – eigentlich.

Männliche und weibliche Skandale

Ein Aushängeschild einer christlichen Partei wird zum vierten Mal Vater. Daran ist per se nichts auszusetzen, nur: Die Mutter ist nicht seine Frau, sondern ein einmaliger (?) Ausrutscher. Da hat es der gute Mann mit der christlichen Nächstenliebe etwas zu wörtlich genommen, möchte man spotten – wäre das Ganze nicht so traurig und das in vielerlei Hinsicht.

Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, das sei seine Privatangelegenheit, hätte weder mit seiner Politik was zu tun, noch hätte es uns was anzugehen. Dem möchte ich entgegenhalten, dass es nunmal an mich herangetragen wurde durch die Medien und ich mir dadurch natürlich meine Gedanken dazu mache. Ist so ein Mensch tragbar? Politiker sollten ja gewisse Werte vertreten, sollten für etwas stehen, man sollte ihnen trauen können. Kann man das, wenn es einer auf einer so elementaren Ebene an Ehrlichkeit und Integrität fehlen lässt?

Könnte man hier das Argument „Er ist auch nur ein Mensch/Mann“ gelten lassen? Dass Seitensprünge keine Seltenheit sind, ist Fakt, das müssen wir nicht wegdiskutieren. Eigentlich möchte ich den moralischen Zeigefinger gar nicht so sehr bemühen, aber er regt sich, weswegen ich dieses Feld verlasse und mich einem anderen zuwende. Der Politiker bezeichnet das Ganze als „grossen Fehler“. Da wächst nun also ein Kind heran, dass irgendwann mal lesen kann, dass es sein Dasein einem grossen Fehler verdankt. Eine solche Äusserung öffentlich finde ich mehr als bedenklich, sie ist menschlich dumm und unbedacht. Sie ist für das heranwachsende Leben ein Stempel, den es irgendwann mal an sich entdecken wird – und er wird sich kaum wegwischen lassen. Aber es geht noch weiter. Seiner Frau beichtete er alles erst kurz vor der Geburt. Sie will nun zu ihm stehen. Und er will für das Kind sorgen, er hätte sogar die Vaterschaft anerkannt und die finanzielle Unterstützung geregelt. Wenn man das so liest, klingt es fast so, als ob man nun applaudieren müsste ob der Weitsichtigkeit und Gutherzigkeit des edlen Mannes – dabei hat er nur das Mindeste getan, was man in einer solchen Situation überhaupt verlangen kann. Aber die Medien klopfen ihm fast auf die Schultern, indem sie es eben nicht anprangern, nur so quasi sachlich berichten.

Man denke mal ein paar Monate zurück. Da wurde ein Tunnel eröffnet und eine Frau trug einen Mantel, der nicht ganz vorteilhaft erschien. Wie haben die Medien gezetert und geschrien. Wie haben sie sich über ihren Kleidergeschmack lustig gemacht, sie durch den Kakao gezogen. Dann wurde auch noch über den (viel zu hohen – wovon zahlt sie das? Von zu hoch angesetzten Geldern, die den Steuerzahler schröpfen???) Preis geschimpft. Ein Skandal, könnte man denken, den sich diese Politikerin erlaubt hat. Wie viel besser macht es da dieser Politiker (notabene derselben Partei), der einfach mal fremdgeht, alle belügt, hintergeht und dann auch noch einen grossen Fehler produziert. Immerhin bereut er es ja.