Franz Marc (8.2.1880 – 4.3.1916)

Vom Suchen und Finden eines Malers

Franz Marc wurde am 8. Februar 1880 in München geboren. Sein Vater war Professor an der Akademie der Schönen Künste, doch Franz zog es zuerst zum Priestertum, dann liebäugelte er mit einem Philosophiestudium, bis er sich schliesslich doch für Kunst entschied.

„Das Leben hat gegenwärtig für mich keinen anderen Sinn als den, es durch meine Malerei zu übertönen (eigentlich müsste ich sagen, ‚zu übermalen’) und alle leidenschaftlichen Lebensinstinkte zu ersticken.“

Diese Zeilen schrieb Franz Marc an seinen Bruder Paul. Sie stammen aus einer Zeit, da Franz Marc ein Suchender war. Er stand zwischen drei Frauen und konnte sich nicht entscheiden. Was er wusste war nur, dass er Künstler sein will, nicht aber, wie sein Ausdruck, was seine künstlerische Stimme sei. Er liess sich treiben, auf beiden Feldern, schwankte zwischen Farben und Formen und zwischen den Frauen hin und her. Und: Er wurde schwermütig dabei.

„Ich bin nervös und schwermütig; je weniger einsiedlerisch mein Leben scheint, desto einsamer ist es. Ich glaube, ich habe noch ein unruhevolles Dasein vor mir.“

Franz Marc heiratete, allerdings die Falsche, wie sich später herausstellen sollte. Aber zuerst reiste er noch nach Paris, was in der Zeit das Kunstmekka schlechthin war. Alle waren sie da, die Rang und Namen hatten. Was er da sah, beeindruckte ihn sehr, allen voran Gaugin und van Gogh. Dieser Besuch brachte ihn auch in seinen Stilfragen weiter, die vormals naturalistischen Darstellungen schwanden durch die Einflüsse des Impressionismus und Pointilismus mehr und mehr.

«Es gibt keine »Gegenstände« und keine »Farbe« in der Kunst, sondern nur »Ausdruck«.»

Schliesslich kam Franz Marc mit Maria Franck zusammen und langsam zur Ruhe. Gemeinsam zogen sie aus München weg aufs Land. Franz Marc legte einen Schaffenseifer ans Licht wie nie zuvor. Er malte von morgens bis abends, fand in den Tieren seine Sujets und brachte diese in einem immer klareren und eigenen Stil auf die Leinwand. An den Tieren liebte er ihr harmonisches Leben mit der Natur. Er bildete dabei nicht einfach die Tiere ab, sondern wollte die Welt aus deren Sicht zeigen.

«Blau ist das männliche Prinzip, herb und geistig. Gelb ist das weibliche Prinzip, sanft, heiter und sinnlich. Rot die Materie, schwer und brutal und stets die Farbe, die von den anderen Farben bekämpft werden muss.»

Die Farben dienten ihm da als Ausdruck der verschiedenen Energien und Temperamente.

Nach immer grösseren Dissonanzen im Umfeld der Neuen Künstlervereinigung München, deren 3. Vorsitzender Franz Marc war, kam es zur Geburtsstunde des Blauen Reiters, mit von der Partie waren neben Wassily Kandinsky Gabriele Münter, Alexeji Jawlensky, August Macke, und einige mehr.

Das Leben hätte so weitergehen können, die Schaffenskraft war gross, das Leben mit Maria harmonisch, seine Freundschaften nährend (zu erwähnen wäre hier noch Else Lasker-Schüler, mit der ihn eine tiefe Freundschaft verband, aus welcher ein wunderbarer Briefwechsel mit Zeichnungen der beiden erhalten ist), wäre nicht der Krieg dazwischen gekommen. Marc wurde einberufen und kam darin um. Es war ihm kein langes Leben beschieden gewesen, zu dem Zeitpunkt war er erst 36 Jahre alt. Hinterlassen hat er eine wunderbar bunte Bilderwelt, die bis heute nichts an ihrer Anziehungskraft verloren hat.

Buchempfehlung: Wilfried F. Schöller, Franz Marc
Franz Marcs Leben und Schaffen ist wohl eines der gut beleuchteten. Wilfried F. Schoeller hat mit seinem Buch nicht einfach eine weitere Biografie unter vielen geschaffen, er hat tiefer gegraben, genauer hingeschaut und unbarmherziger (aber nie bösartig oder abschätzig) ans Licht geholt, was Franz Marcs Leben bewegte, wie er seinem Schaffen gegenüber stand und wie er seinen Weg ging.

Entstanden ist ein Buch, das die gängigen Klischees und tausendfach erzählten Geschichten hinter sich lässt. Es wird ein Künstlerleben plastisch, das von Widersprüchen, Zweifeln, Depressionen und Schaffenskraft zeugt. Auch die Zeit beim Blauen Reiter darf natürlich nicht fehlen, die für Franz Marc eine wegweisende war. Aus der folgenden Zeit stammen die Bilder, die in der Folge am Bekanntesten werden sollten, die als Reproduktionen Wohnzimmer und Postkarten zierten und die noch heute Scharen von Besuchern in die Museen locken.

Die vorliegende Biografie ist ein Buch über das Leben und Schaffen, über die Inspirationen und Wegbegleiter, über Freundschaften und Liebe des Künstlers sowie über den Menschen Franz Marc mit seinen Gedanken, Theorien und Zielen. Das Buch ist zudem sehr schön illustriert mit Zeichnungen und Fotos sowie mit einem Mittelteil versehen, der Franz Marcs Bilder zeigt, auf welche im Text verwiesen wird. Den Abschluss machen ein Register aller zitierten Werke sowie eine ausführliche Liste weiterführender Bücher.

Mein Fazit: Ein Standardwerk – Genauer und detaillierter kann man das Leben und Schaffen eines Künstlers nicht erzählen. Sehr empfehlenswert.

Alois Prinz: Beruf Philosophin oder Die Liebe zur Welt.


Die Lebensgeschichte der Hannah Arendt

«Weil jeder Mensch aufgrund des Geborenseins ein initium, ein Anfang und Neuankömmling in der Welt ist, können Menschen Initiative ergreifen, Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen. […] Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfassbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen […], immer wie ein Wunder an.»

Viele Philosophen sehen das Leben als Weg zum Tod. Philosophieren, so ein bekannter Ausspruch, heisst, sterben lernen. Hannah Arendt legt den Schwerpunkt nicht auf die Mortalität, sondern auf die «Natalität». Die Geburt ist für sie der Moment, in dem etwas Neues in die Welt kommt. Sie ist ein Anfang, der mit jedem neuen Menschenwesen gemacht wird. Dieser Blick aufs Menschsein zeigt sich auch in ihrer Definition von Gesellschaft, die sich immer nur als pluralistische sehen kann. Ein jeder Mensch hat darin in seinem So-Sein seinen Platz. Die Welt existiert nur als Geschaffene, sie ist das Dazwischen, das, was die verschiedenen Menschen zwischen sich durch Kommunikation errichten.

Wir schaffen uns unsere Welt, indem wir mit anderen in einen Dialog eintreten. Der Diskurs, die Auseinandersetzung mit anderen war es denn auch, was Hannah Arendt immer am Herzen lag. Und sie war unerbittlich. Sie sagte selbst einmal, sie sei eine Axt. Sie mied keine Auseinandersetzung, dachte «ohne Geländer» und redete niemandem nach dem Mund. Ihre unabhängige Denkart war ihr heilig.

«Immer noch scheint es mir unglaubhaft, dass ich beides habe kriegen können, die ‚grosse Liebe‘ und die Identität mit der eigenen Person. Und habe doch das eine erst, seit ich auch das andere habe. Weiss nun endlich auch, was Glück eigentlich ist.»

Es war eine grosse Liebe und eine ebensolche Verbundenheit zwischen Heinrich Blücher und Hannah Arendt. Er war der erste, mit dem sie ihre Gedanken diskutierte, die sie in ihren einsamen Denkmomenten mit sich selbst ausgemacht hatte.

«Lieber Liebster, das einzig Gute ist, dass ich schön klar weiss, wie ich zu dir gehöre.»

Er war es, der ihr immer Halt war, von ihm getrennt zu sein, war nie einfach, so dass sie die getrennten Zeiten mit vielen Briefen füllten, die hin und her flogen. Wie sie einmal ohne ihn leben solle, wisse sie nicht. Das sagte Hannah Arendt und musste es doch lernen, als Heinrich an einem Herzinfarkt starb.

Hannah Arendt stürzt sich wieder in die Arbeit, obwohl ihr die Ärzte mehrfach zum Ruhigertreten raten. Am 4. Dezember 1975 stirbt sie an einem Herzinfarkt. Hans Jonas fand diese Worte zum Abschied:ß

«Du hast die Treue gehalten, du warst immer da. Wir sind ärmer ohne dich. Die Welt ist kälter geworden ohne deine Wärme. Du hast uns zu früh verlassen. Wir werden versuchen, dir die Treue zu halten.»

Fazit zum Buch von Alois Prinz:
Ein kompetenter, gut lesbarer Einblick in das Leben und Schaffen einer der grössten Philosophinnen des letzten Jahrhunderts. Alois Prinz gelingt es, Leben und Werk in die Zeitumstände einzubetten und die Geschichte dieser Denkerin auf gut lesbare und doch kompetente Weise zu erzählen.

Biografien von A bis Z: B

Die Reise durch die Leben von Menschen, die mich beeindrucken, geht mit dem Buchstaben B weiter: Ein Gruppenbild mit Herrn quasi. Das Gemeinsame meiner Verbindung zu den einzelnen ist, dass ich mich mit jedem von ihnen eine Zeit lang intensiv auseinandergesetzt habe, da förmlich in ihr Werk eingetaucht bin. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich alle mit dem Thema der Identität auseinandergesetzt haben, jeder auf seine ganz eigene Weise.

Martin Buber setzte zeitlebens auf den Dialog. In ihm entwickelt sich das Leben, in ihm erkennt sich jeder selbst. Das Ich existiert nur, weil es ein Du gibt. Im Dialog kann sich etwas entwickeln, der Dialog ist die Schöpfungskraft von Neuem und der Weg zur Erkenntnis dessen, was ist.

«Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas…Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.»

Simone de Beauvoir wusste von klein auf, was sie will: Schreiben und frei sein. Sie hat sich diesem Ziel verschrieben und es gelebt, immer aus der Überzeugung heraus, dass wir in diese Welt geworfen werden, ohne uns das ausgesucht zu haben, und es nun an uns selbst ist, uns darin zu positionieren, uns quasi nach unseren Massgaben zu erschaffen. Sie stiess mit ihrem Forschungsdrang und Lebenswillen nicht immer auf Zustimmung:

«Niemand nahm mich so, wie ich war, niemand liebte mich; ich selbst werde mich genügend lieben, beschloss ich, um diese Verlassenheit wieder auszugleichen.»

Das Glück wollte es, dass sie auf einen Menschen stiess, der ihren eigenen Lebensentwurf und damit den Menschen, der sie dadurch wurde, anerkannte und unterstützte. So befand Sarte, wie Simone de Beauvoir in ihren «Memoiren einer Tochter aus gutem Hause» schrieb:

«Auf alle Fälle sollte ich mir das bewahren, was das Schätzenswerteste an mir sei: Meinen Hang zur Freiheit, meine Liebe zum Leben, meine Neugier, meinen Willen zu schreiben.»

Auch Ingeborg Bachmann war eine, die schreiben wollte. Diesem Drang ordnete sie alles unter, für ihr Schreiben war sie zu Opfern bereit, sie zahlte einen hohen Preis dafür, denn Ingeborg Bachmann sollte das Glück einer lebenslangen Liebe verwehrt sein – sie verwehrte es sich wohl teilweise selbst. Sie suchte diese Liebe unentwegt, sie sehnte sich danach, fand zwar viele Männer, die sie verehrten, ihren Weg eine Zeit lang begleiteten, aber nie die überdauernde Liebe, welche ihr hätte Halt und Lebenssinn geben.

«…ich habe in der Liebe und durch die Liebe immer den Boden verloren und daher nie einen gehabt… ich werde, solange ich liebe, keinen Platz in der Welt finden, nie das bekommen, was ich am meisten ersehne, und darum wird alles, was ich sonst bekomme und wofür ich mich bemühe , dankbar zu sein, für immer ohne Glanz sein.»

Welche Biografien zum Buchstaben B könnt ihr empfehlen?

Honoré de Balzac (20. Mai 1799 – 18. August 1850)

Sein Leben
Honoré de Balzac wird am 20. Mai 1799 im Süden Frankreichs geboren, zieht in seiner Jugend nach Paris, wo er die Schule beendet und ein Jurastudium beginnt. Daneben besucht er Vorlesungen in Philosophie. Zwar legt er noch die Zulassungsprüfung zum Abschluss des Studiums ab, beschliesst aber sodann, Schriftsteller zu werden. Finanziert durch den Vater zieht er in eine Dachwohnung und beginnt zu schreiben.

«Sie sind elende Wanzen, diese Kritiker.»

Nach kleineren Texten entstehen zusammen mit Auguste Lepoitevin, einem schon erfahrenen Schriftsteller, mehrere Romane, aber auch an eigenen versucht sich der entschlossene Schriftsteller. Der Erfolg lässt auf sich warten, der nächste Versuch geht in die Welt der Dramatik, was auch von mässigem Erfolg gekrönt ist. Er pendelt von Genre zu Genre, verfolgt verschiedene literarische Projekte, die ihn zwar nicht reich machen, ihm aber immerhin das Überleben sichern. Der ausbleibende Durchbruch lässt ihn in eine Depression verfallen.

«Alle Macht des Menschen besteht aus einer Mischung von Zeit und Geduld.»

Die unglückliche Ehe seiner Schwester inspiriert ihn schliesslich zur Schrift eines Ehehandbuches für noch ledige Männer, danach wagt er sich unter die Verleger, kauft eine Druckerei, doch auch das führt ihn nicht in den Erfolg, sondern in den Konkurs. Er beginnt wieder zu schreiben und endlich wird seine Ausdauer belohnt, er landet mit «Le dernier Chouan» einen Erfolg.

«Eine gute Frau ist wie ein gutes Buch: unterhaltsam, anregend, belehrend. Ich wollte, cih könnte mir eine ganze Bibliothek leisten.»

Das Leben in der Folgezeit ist bewegt, Balzac ist politisch engagiert, aktiver Journalist, viel auf Reisen, in Liebeleien zu verheirateten Frauen verstrickt, was zur Vaterschaft führt. Daneben fliessen auch Erzählungen und Romane aus seiner Feder, langsam ist er anerkannt in der Literaturszene.

«Es ist leichter, ein Liebhaber zu sein als ein Ehemann und zwar deshalb, weil es einfacher ist, gelegentlich einen Geistesblitz zu haben, als den ganzen Tag geistreich zu sein.»

Wirklich reich wird er trotzdem nicht, was ihn aber nicht hindert, sein Leben mit Pauken und Trompeten zu führen, im Prunk zu suhlen und sich nur mit dem Besten an Kleidung und Wohnungen zufrieden zu geben. Finanziell unterstützt wird er dabei tatkräftig von liebestrunkenen Frauen aus gutem Hause.

Das Leben als Lebemann, der aber doch immer fleissig arbeitete, zeigt irgendwann seine Spuren, die Gesundheit bröckelt, was er zuerst mit noch mehr Arbeit zu überdecken versucht. Es gelingt nicht und Balzac stirbt am 18. August 1850 nach einer zu strapaziösen Reise.

Sein Werk
Balzacs Werk besteht mehrheitlich aus einzelnen Texten, die zu Zyklen verbunden sind, und in denen ein ganzes Arsenal an Figuren auftritt. Sein Stil ist realistisch, auch wenn er der Zeit nach noch in die Romantik gehörte, die ihn aber durchaus beeinflusst. Balzac besticht durch seinen klaren und scharfen Blick auf die Menschen und ihre Machenschaften, er zeichnet damit ein eindrückliches Bild der französischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, sowohl auf dem Land wie in der Stadt.

Ingeborg Gleichauf: Jetzt nicht die Wut verlieren.

Max Frisch – eine Biografie

Inhalt

«Es scheint eine Leidenschaft zu sein, die sich da entwickelt, unabhängig von äusserem Erfolg. Da will und muss sich einer Luft verschaffen, sich ausdrücken, sich aufteilen auf mehrere Stimmen, Rollen entwerfen, die man für das Leben halten könnte.»

Max Frisch war ein Zweifelnder. Ein Suchender. Er war ein Mensch voller Gegensätze und ein Mensch der Sprache, mit denen er all das zu erfassen suchte. Diesem Menschen hat sich Ingeborg Gleichauf in der vorliegenden Biografie auf eine persönliche, kenttnisreiche und poetische Weise angenommen. Sie beleuchtet das Leben und Schaffen eines Menschen, bei dem beides nicht zu trennen ist, weil ohne das Leben und seine Erfahrungen das Schreiben nicht möglich wäre, ohne das Schreiben ein Leben ebenso wenig. Zumindest könnte es ohne die Sprache und das Schreiben nicht verstanden werden.

In chronologischer Reihenfolge begleiten wir Max Frisch durch sein Leben, seine Reisen, seine Beziehungen und seine Werke, die jeweils kurz dargestellt werden. Entstanden ist ein romanhaft anmutendes Buch, welches für ein junges Publikum genauso zugänglich und aufschlussreich ist wie für ein erwachsenes.

Gedanken zum Buch

«Diese Frage nach sich selbst, nach dem, was man ist und sein könnte: Bereits der junge Frisch sieht hierin ein existenzielles Problem.»

Max Frisch wurde oft vorgeworfen, er drehe nur um sich, er sei quasi sein einziges Thema, um das er nachher alles geschrieben hat. Dass dies sicher zu kurz gegriffen ist, liegt auf der Hand, allerdings ist nicht zu bestreiten, dass das Thema der (eigenen) Identität eines seiner zentralen war. Was ist der Mensch und wer kann er sein? Wie steht er in der Gesellschaft und was bedarf es, darin und nicht am Rand zu stehen? Gerade die letzte Frage beschäftigte ihn stark, schwankte er doch in jungen Jahren zwischen seiner Sehnsucht nach Bürgerlichkeit, nach Zugehörigkeit, und seinem Drang, Schriftsteller, und damit am Rande stehender Beobachter, zu sein.

«Wie man sich doch immer in die Quere kommt, wenn man eigentlich ‘sachlich’ sein soll. IN allem, was man schreibt, ist man selbst enthalten. Und so ist das Schreiben, auch das journalistische Schreiben, immer eine Möglichkeit, mir und meinen Erfahrungen auf die Spur zu kommen.»

Schon Goethe sagte, dass alles Schreiben autobiographisch sei. Das bedeutet nicht, dass einer immer nur die eigene Lebensgeschichte schreibt, sondern es bleibt nicht aus, dass sich im Schreiben die eigenen Gedanken, Erfahrungen und Gefühle widerspiegeln. Frisch sah sich denn auch als Beobachter, als Augenmensch war ihm das klare (Hin-) Sehen wichtig. Wirklich gesehen und erfahren, vor allem aber verstanden, hat er die Dinge aber nur, wenn er für sie eine Sprache gefunden hat.

«Mit dem Seltsamen des Lebens umgehen wird für ihn bedeuten, sich vor allem sprachlich damit auseinanderzusetzen.»

Das Schreiben war immer auch sein Weg zu sich selbst, sein Weg zum klareren Verständnis. Daneben war es aber auch die Möglichkeit des Ausdrucks. Ohne einen solchen, so Frischs Überzeugung, sei das Leben kaum ertragbar. Frisch selbst sagte einst, dass Schreiben sei wie Reisen, indem er durch die Sprache aus sich herausgehe, um schliesslich wieder bei sich zu landen.

«Nichts ist dem Menschen so fern als das eigene Ich, er ist sich selbst das Fremde, daher kommt er sich gerade dann näher, wenn er in einen grossen Abstand zu sich tritt.»

Dass es notwendig ist, sich selbst auf die Spur zu kommen, führt Max Frisch auf den Umstand zurück, dass man sich eigentlich fremd ist. Wir leben in unserem Alltag und bewegen uns oft unbewusst in ihm. Viele unserer Reaktionen und Handlungen sind Automatismen, sind Gewohnheiten geschuldet. Max Frisch gibt sich damit nicht zufrieden, er will tiefer gehen, sich kennenlernen, herausfinden, wer er wirklich ist. Dazu dient ihm das Schreiben. Das ist auch eines der Hauptthemen seines Schreibens: Identität sowie die Verortung des Ichs in der Welt. Am besten gelingt das in Frischs Augen durch das Theater, weil dies immer eine Auseinandersetzung mit sich und der Gesellschaft darstellt. Das Stückeschreiben ist eine Form von Zeitzeugenschaft, die sich aktuellen Themen wie sozialer Ungerechtigkeit, den Fesseln des bürgerlichen Lebens und der Freiheit zuwendet.

Max Frisch erfindet keine neuen Welten, er beobachtet die vorhandene genau. Er ist ein Augenmensch, der sich im Sehen schult und das so Erfahrene in Sprache, in Sprachbilder umformt. SO geht er als Sehender durch die Welt, beobachtet sie, die Menschen in ihr und das Zeitgeschehen. Doch erst, wenn er es schafft, das alles in Sprache zu fassen, kann er es verstehen, existiert es im tatsächlichen Sinn.

Fazit
Ingeborg Gleichauf ist eine leicht zu lesende, dadurch auch einem jungen Publikum zugängliche, fast schon romanhafte, und doch fundierte Biografie gelungen, die einen sehr persönlichen Blick auf Max Frisch offenbart.

Zur Autorin
Ingeborg Gleichauf wurde 1953 in Freiburg geboren, studierte Germanistik und Philosophie und promovierte über Ingeborg Bachmann. Sie veröffentlichte erfolgreiche Biographien, darunter Hannah Arendt (2000), Sein wie keine andere. Simone de Beauvoir (2007) und Denken aus Leidenschaft (2008). Zuletzt erschien bei Nagel und Kimche Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie (2010).
Ingeborg Gleichauf wurde 1953 in Freiburg geboren, studierte Germanistik und Philosophie und promovierte über Ingeborg Bachmann. Sie veröffentlichte erfolgreiche Biographien, darunter Hannah Arendt (2000), Sein wie keine andere. Simone de Beauvoir (2007) und Denken aus Leidenschaft (2008). Zuletzt erschien bei Nagel und Kimche Jetzt nicht die Wut verlieren. Max Frisch – eine Biografie (2010).

Angaben zum Buch

  • Herausgeber ‏ : ‎ Verlag Nagel & Kimche AG; 2. Edition (16. August 2010)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe ‏ : ‎ 272 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3312009893

Karl Kraus (*28. April 1874)

Am 28. April 1874 kommt Karl Kraus als Sohn eines jüdischen Papierfabrikanten und dessen Frau in Jicin, Böhmen zur Welt. 1877 zieht die Familie Kraus nach Wien, wo Karl Kraus 1892 sein Studium der Rechtswissenschaft beginnt. Karl Kraus schreibt neben dem Studium Artikel und Rezensionen, welche er in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Versuche, im Theater Fuss zu fassen sind nicht von Erfolg gekrönt, weitere Projekte wie eine geplante Satirezeitschrift verlaufen im Sande.

1896 hängt Kraus die Jurisprudenz an den Nagel und wendet sich dem Philosophie- und Germanistikstudium zu, welches er ohne Abschluss beendet. 1897 ein erster Aufschwung: Die Satire Die demolirte Litteratur wird ein Publikumserfolg, allerdings schaffte er sich damit keine Freunde in der Literatenwelt.

Ich hasse und hasste diese falsche, erlogene „Decadence“, die ewig mit sich selbst coquettiert, ich bekämpfe und werde immer bekämpfen: die posierte, krankhafte, onanierte Poesie![1]

Kraus wird im selben Jahr Wiener Korrespondent der Breslauer Zeitung, in ihm wächst der Wunsch, eine eigene Zeitschrift herauszugeben. 1899 erscheint die erste Ausgabe von Die Fackel. Auch damit macht er sich keine Freunde, ein Prozess folgt dem anderen, weil sich zu viele auf die Füsse getreten fühlen durch die Vorwürfe, die Kraus in der Fackel gegen sie veröffentlicht.

1899 löst sich Karl Kraus von der jüdischen Gemeinschaft und lässt sich 1911 in der Wiener Karlskirche römisch-katholisch taufen (1923 beendet er auch dieses Intermezzo durch den Kirchenaustritt).

1902 erscheint Kraus’ Aufsatz Sittlichkeit und Kriminalität, ein Angriff auf die vermeintliche Verteidigung von Moral, Ordnung und Sittlichkeit mit justiziellen Mitteln.  Dieses Thema begleitet ihn durch die nächsten Jahre. Ab 1906 verfasst Karl Kraus Aphorismen, welche zuerst in der Fackel, später zusammengefasst in Büchern erscheinen.

Im Jahr 1915 beginnt die Arbeit am Theaterstück Die letzten Tage der Menschheit, welches 1919 in Form von Sonderheften der Fackel veröffentlicht wird. Es folgen Lesungen im Rundfunk und Aufnahmen für Schallplatten.

Die Machtergreifung Hitlers lässt die Fackel still werden.
Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
Und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
Man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
Nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.[2]

Monatelang erscheint keine Ausgabe, doch Karl Kraus’ Schaffen ruht nicht. Er arbeitet an einem Text über die Machtübernahme und die ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft. Das Werk erscheint erst  posthum 1952 unter dem Titel Dritte Walpurgisnacht.

Die Fackel erscheint wieder sporadisch, was nicht allen zu gefallen scheint, da ihr Inhalt gewohnt kritisch bleibt. Im Februar 1936, nach Erscheinen einer Ausgabe, wird Kraus von einem Radfahrer niedergestossen, was immer stärkere Kopfschmerzen und Gedächtnisschwund zur Folge hat. Ein Herzinfarkt im Juni desselben Jahres führt schlussendlich zum Tod. Karl Kraus stirbt am 12. Juni 1936 in seiner Wohnung an einem Herz- und Gehirnschlag.

Der Mensch Karl Kraus
Karl Kraus ist ein kritischer Geist, der mit seiner polemischen Art aneckt und polarisiert. Er hält mit seiner Meinung nicht hinterm Zaun, sticht in die Wunden der Gesellschaft und zeigt mit dem Finger auf die Vergehen der Menschen, allen voran der sogenannt Grossen der Öffentlichkeit. Mit Leidenschaft und Wortgewandtheit setzt er sich ein, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. Er hat dabei viele Anhänger, die seinen Vorlesungen lauschen und ihn als unfehlbare Autorität sehen. Seine zahlreichen Gegner sehen in ihm einen verbitterten Misanthropen, verurteilen seine Aussprüche als hasserfüllt und übers Ziel schiessend.

Karl Kraus und die Sprache
Karl Kraus Werkzeug ist die Sprache. Er legt grossen Wert auf sie und sieht im allgemein üblichen nachlässigen Umgang mit ihr den Ursprung für viele Missstände der Welt.

Von Rache sprech’ ich, will die Sprache rächen
An allen jenen, die die Sprache sprechen.
Bin Epigone, Ahnenwertes Ahner.
Ihr aber seid die kundigen Thebaner.[3]

Sprache hat für Karl Kraus religiösen Charakter. Sünde gegen die Sprache sieht er als Lüge und die Vermehrung der Lügen als Vermehrung des Bösen in der Welt. Sprache ist für Karl Kraus das Medium des Denkens, nicht nur Mittel zum Zweck.

Dass Stil nicht der Ausdruck dessen ist, was einer meint, sondern die Gestaltung dessen, was einer denkt und was er infolgedessen sieht und hört; dass Sprache nicht bloss das, was sprechbar ist, in sich begreift, sondern dass in ihr auch alles was nicht gesprochen wird erlebbar ist; dass es in ihr auf das Wort so sehr ankommt, dass noch wichtiger als das Wort das ist, was zwischen den Worten ist…[4]

Sprache soll als Medium des Denkens immer wieder selber kritischer Reflexion unterzogen werden, nicht einfach nur dahingesagt und hingenommen sein. Rund ums ich sieht Kraus das genaue Gegenteil: Leere Floskeln, Gesagtes als blosse Hülle ohne Inhalt  – und die Welt damit dem Untergang geweiht.

Die Welt geht unter und man wird es nicht wissen.[5]

Werke von Karl Kraus

  • Die demolirte Litteratur (1897)
  • Sittlichkeit und Kriminalität (1908)
  • Sprüche und Widersprüche (1909)
  • Die chinesische Mauer (1910)
  • Die letzten Tage der Menschheit (1918)
  • Weltgericht (1919)
  • Literatur und Lüge (1929)

[1] Brief an Arthur Schnitzler, März 1893
[2] Die Fackel, Nr. 888, S. 4
[3] Worte in Versen, S. 94
[4] Die Sprache, S. 341
[5] Die letzten Tage der Menschheit, S. 10

Sarah Kirsch (16. April 1935 – 5. Mai 2013)

Zum Leben
Sarah Kirsch wird als Ingrid Hella Irmelinde Bernstein am 16. April 1935 in Limlingerode im Harz geboren und wächst in einem protestantischen Elternhaus (der Grossvater ist Pfarrer) auf. Von ihrer Mutter erbt sie die Liebe zur Lyrik. Nach dem Abitur studiert sie aus Liebe zur Natur nach einer abgebrochenen Forstarbeiterlehre Biologie. 1958 lernt sie den Lyriker Rainer Kirsch kennen, den sie 1960 heiratet. Im selben Jahr erscheinen erste lyrische Texte von ihr in Anthologien und Zeitschriften. Sie veröffentlicht diese unter dem Pseudonym Sarah, womit sie ihren Protest gegen die Vernichtung der Juden im Dritten Reich ausdrücken will.

Zwischen 1963 und 1965 studiert sie mit ihrem Mann am Literaturinstitut in Leipzig und beide arbeiten fortan als freie SchriftstellerInnen, Sarah Kirsch wird Mitglied des Schriftstellerverbands der DDR. Nach zwei gemeinsamen Gedichtbänden veröffentlicht Sarah Krisch 1967 ihren ersten eigenen («Landaufenthalt»). 1968 folgt die Scheidung, Sarah Kirsch zieht nach Ost-Berlin und wird nach einer kurzen Affäre Mutter. Sie arbeitet als Übersetzerin, Journalistin und Hörfunkmitarbeiterin. 1973 folgen der nächste Lyrikband («Zaubersprüche») und zwei Prosabände.

„Ich hoffe, dass Hexen, gäbe es sie, diese Gedichte als Fachliteratur nutzen könnten.“

Ebenfalls 1973 wird Kirsch Vorstandsmitglied des Schriftstellerverbandes der DDR, welcher sie (ebenso wie die SED) 1976 ausschliesst, weil sie eine der Erstunterzeichnerinnen der Protesterklärung gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann gewesen ist. 1977 wird ihr Ausreisegesuch genehmigt und sie siedelt mit ihrem Sohn in den Westen um, wird Mitglied des Pen-Zentrums der BRD. Dass sie schon früher im Westen publiziert wurde, erleichtert ihr den Start da sicherlich. Sarah Krisch bleibt politisch engagiert, sie beteiligt sich an politischen Aktionen und lehnt sowohl eine Dozentenstelle, weil die Berliner Akademie der Künste ehemalige Mitglieder der Staatssicherheit beschäftigte, wie auch das Bundesverdienstkreuz aus Protest gegen die NS-Vergangenheit des amtierenden Bundespräsidenten Karl Carstens ab.

Sarah Kirsch stirbt am 5. Mai 2013 in Heide (Holstein).

Zum Schaffen

«Frühling ist ein
Möwengefiederter
Bengel aus Schottland mit
Bärlauchatem.»

Bekannt wurde Sarah Kirsch vor allem durch ihr lyrisches Werk, welches mehrfach ausgezeichnet wurde und ihr auch zu einer Ehrenprofessur verhalf. Sie gilt als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihre Gedichte zeichnen sich durch ein starkes Rhythmusgefühl, den Einsatz von Zeilensprüngen und -umbrüchen, sowie das Spiel mit verschiedenen Sprachformen aus. Auch dichtet sie mit allen Sinnen, aus ihrer Sprache fliessen bildhafte Metaphern und Gerüche.

„Wie still es ist.
Die Glyzinie
Klopft mit dem Knöchel ans Fenster.“

Die Liebe zur Natur findet sich in ihrer Lyrik wieder, welche oft Naturbeobachtungen und Motive aus der Natur enthalten. Das zentrale Thema dabei ist die Erhaltung der Natur sowie ein in ihren Augen gefährdetes Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur. Marcel Reich-Ranicki nannte Sarah Kirsch Drostes «jüngere Schwester» und schrieb zu ihrem Werk in der FAZ:

„Erotisch ist nicht nur ihr Verhältnis zu den Menschen, sondern auch zur Heimat und zur Natur, zum Geist und zur Literatur, ja sogar zur Politik.“

Neben der Lyrik schrieb sie aber auch Kinderbücher und Prosatexte.

Sarah Kirsch war eine emsige Schreiberin. Sie selbst äusserte sich dazu folgendermassen:

„Eigentlich schreibe ich immer. Ich bin ein Schädling, von der vernichteten Papiermasse her und tue recht daran, in jedem Jahr, mindestens zehn Bäume zu pflanzen. Zum einen ist es eine körperliche Sucht, der materielle Vorgang des Schreibens schüttet Adrenalin gallonenweise wohl aus, so brauche ich feinste Papiere und edle Schreibgeräte. Am liebsten Tinte aus’m Tintenfass für altmodische Füller, Journale mit hinreißenden Einbänden aus Firenze zum Beispiel oder salzburgische Handfertigung gar. Es ist wie eine Sucht, wenn mein federleichter Merlin-Füller aus dem Jahr 32 über toskanisches Papier schwebt, mit lotusblauer Tinte. So bin ich fast glücklich. Um es gänzlich zu sein, bedarf es noch eines gerade entstehenden Textes, dann gerät die Sucht zur Ekstase.“

Der Anspruch ans Schreibmaterial spiegelt wohl den Anspruch wider, den sie an ihr Werk hatte. Sie arbeitete diszipliniert und sorgfältig. Täglich von sechs Uhr morgens bis knapp vor dem Mittag sass sie konzentriert am Schreibtisch, schrieb erste Gedichtentwürfe von Hand, überarbeitete diese mehrfach, feilte an Sprache und Form, bis sie diese Handschriften dann in die Maschine tippte. Die Entwürfe sind nicht erhalten, sie wurden alle vernichtet. Sie duldete nichts in ihren Augen Minderwertiges (auch Bilder, die ihren Ansprüchen nicht genügten, wurden verbrannt).

Während ihr lyrisches Werk viel Beachtung erhielt, steht diese beim Prosawerk noch aus. Dies gälte es noch zu entdecken, zumal es im Wert der Lyrik sicher ebenbürtig ist.

Zur Entspannung malte Sarah Kirsch. Ihre ersten Aquarelle hatten Briefmarkengrösse, sie nannte es selbst «Rumklecksen» und sah es nicht als Arbeit, sondern als reines Vergnügen. Das Ganze war für sie privat und nicht für Ausstellungen oder gar den Verkauf gedacht, doch als sich immer mehr Galerien zu interessieren begannen, fand auch ihre bildende Kunst den Weg in die Öffentlichkeit. Einen Einblick in ihr bildnerisches Schaffen (Aquarelle, Gouache-Malerei und Collagen) bietet ein Kunstband aus dem Jahr 2000: „Beim Malen bin ich weggetreten“.

Ausgewählte Werke

  • Berlin – Sonnenseite. Deutschlandtreffen der Jugend in der Hauptstadt der DDR (1964), Bildreportage, zusammen mit Thomas Billhardt und Rainer Kirsch
  • Gespräch mit dem Saurier (1965), Gedichtband, gemeinsam mit Rainer Kirsch
  • Die betrunkene Sonne (1966), Kinderbuch. Illustrationen von Erich Gürtzig
  • Landaufenthalt (1967), Gedichtband
  • Zaubersprüche (1973), Gedichtband, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar
  • Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassettenrecorder (1973), Prosaband
  • Die ungeheuren bergehohen Wellen auf See (1973), Prosaband
  • Es war dieser merkwürdige Sommer (1974), Gedichtauswahl
  • Caroline im Wassertropfen (1975), Kinderbuch, mit Illustrationen von Erdmut Oelschläger
  • Zwischen Herbst und Winter (1975), Kinderbuch, zusammen mit Ingrid Schuppan
  • Rückenwind. Gedichte (1976
  • Wintergedichte (1978)
  • Drachensteigen (1979), Gedichte
  • Trennung (1979), Gedichte
  • Wind und Schatten, zusammen mit dem Künstler Kota Taniuchi
  • La Pagerie (1980), Prosagedichte
  • Geschlechtertausch (1980), zusammen mit Irmtraud Morgner und Christa Wolf
  • Hans mein Igel (1980), Kinderbuch nach den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm, mit Illustrationen von Paula Schmidt
  • Papiersterne (1981), vertont von Wolfgang von Schweinitz
  • Erdreich (1982), Gedichte
  • Reisezehrung (1986), Prosa
  • Irrstern (1987), Prosaband
  • Allerlei-Rauh. Eine Chronik (1988), Prosaband
  • Luft und Wasser. Neue Gedichte und Bilder, mit Bildern von Ingo Kühl, Edition Lutz Arnold im Steidl Verlag, Göttingen 1988, Vorzugsausgabe zu ISBN 3-88243-096-6.
  • Luft und Wasser. Gedichte und Bilder, mit Bildern von Ingo Kühl, Edition Lutz Arnold im Steidl Verlag, Göttingen 1988, ISBN 3-88243-096-6.[15]
  • Schneewärme. Gedichte (1989)
  • Wintermusik (1989)
  • Die Flut (1990), Auswahl, zusammengestellt von Gerhard Wolf
  • Schwingrasen (1991), Prosa
  • Spreu (1991), Bilder-Tagebuch
  • Erlkönigs Tochter (1992), Gedichte
  • Das simple Leben (1994), Prosaminiaturen und Gedichte
  • Bodenlos (1996)

Robert Walser (15. April 1878 – 25. Dez. 1956)

Robert Otto Walser wird am 15. April 1878 in Biel geboren, wo er auch die Schule besucht, bis er diese wegen Geldnot der Familie abbrechen muss. Er hängt sehr an seiner Mutter, so dass ihr Tod 1894 ein schwerer Schlag für ihn ist. Nach einer Banklehre verlässt der theaterbegeisterte Walser die Schweiz und zieht (wie vor ihm schon sein Bruder Karl) nach Stuttgart, wo er sich neben seinem Brotjob erfolglos als Schauspieler versucht. Schon ein Jahr später bricht er auch in Stuttgart wieder seine Zelte ab und wandert zu Fuss zurück in die Schweiz, wo er sich in Zürich niederlässt. Er hält sich da mit verschiedenen Bürostellen über Wasser, was er später in seiner Literatur immer wieder als Motiv verwendet.

1898 erscheinen die ersten Gedichte in der Zeitung, welche Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ihm weitere Publikationsmöglichkeiten eröffnen. 1904 erscheint mit «Fritz Kochers Aufsätze» Walsers erstes Buch, 1908 der Roman «Der Gehülf», 1909 «Jakob von Gunten. In seinen Werken verarbeitet er immer wieder Stationen seines Lebens, so ist die Figur des Dieners, welche in vielen seiner Bücher eine Rolle spielt, auf seine eigene Ausbildung zum Diener zurückzuführen.

1906 zieht Walser nach Berlin, wo er 1907 «Geschwister Tanner» veröffentlicht, einen Roman, den er in gerade mal sechs Wochen geschrieben hatte. Durch seine Romane und die parallel dazu erscheinenden Prosastücke, welche in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften publiziert werden, etabliert sich Walser bald schon im Literaturbetrieb der damaligen Zeit, namhafte Schriftsteller wie Hesse oder Kafka nennen ihn ihren Lieblingsschriftsteller und auch andere grosse Namen preisen sein Werk. Trotzdem bleibt er zu Lebzeiten dem breiten Publikum unbekannt, obwohl schon zu Lebzeiten eine dreibändige Werkausgabe erscheint, etwas, das vielen Schriftstellern zu Lebzeiten nicht zuteil wird.

Wie immer

Die Lampe ist noch da,
der Tisch ist auch noch da,
und ich bin noch im Zimmer,
und meine Sehnsucht, ah,
seufzt noch wie immer.

Feigheit, bist du noch da?
und, Lüge, auch du?
Ich hör’ ein dunkles Ja:
das Unglück ist noch da,
und ich bin noch im Zimmer
wie immer.
(1909)

1913 zieht Robert Walser in die Schweiz zurück. Trotz vieler Erfolge reicht das Geld kaum zum Leben. Es folgen viele Umzüge, aus der finanziellen Not heraus muss er auch eine Anstellung annehmen. Daneben schreibt er unentwegt weiter und unternimmt zudem ausgedehnte Fussmärsche.

„Der Mensch ist ein feinfühliges Wesen. Er hat nur zwei Beine, aber ein Herz, worin sich ein Heer von Gedanken und Empfindungen wohlgefällt. Man könnte den Menschen mit einem wohlangelegten Lustgarten vergleichen.“

Es fällt auf, dass in Robert Walsers Familie psychische Krankheiten gehäuft auftreten. Schon die Mutter ist an einer gestorben, ebenso stirbt sein Bruder Ernst 1916 in einer Heilanstalt, der Bruder Hermann nimmt sich das Leben. Der Krieg tut das Seine dazu, Robert Walser lebt mehr und mehr isoliert und wird zudem von Angstzuständen und Halluzinationen heimgesucht. Das alles führt schliesslich zu einem psychischen Zusammenbruch und in der Folge 1929 zur Einweisung in eine Heilanstalt in Bern.  

Nach einer zeitweiligen Verbesserung seines Zustandes beginnt Walser wieder mit dem Schreiben, allerdings in viel geringerem Ausmass als früher. Auffällig ist dabei seine Methode: Mit Bleistift und in immer kleiner werdenden Buchstaben füllt er Unmengen von Blättern mit Gedichten und Prosawerken. Am Schluss messen die einzelnen Buchstaben kaum mehr als einen Millimeter.

„Die Erfolglosigkeit ist eine bitterböse, gefährliche Schlange. Sie versucht, unbarmherzig das Echte und Originelle im Künstler abzuwürgen.“

Der Schreibfluss endet 1933 nach seiner gegen seinen Willen erfolgten Verlegung in eine andere Heilanstalt nach Herisau. Ein weiterer Grund für das Versiegen desselben dürfte auch der durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht mehr vorhandene Absatzmarkt sein. Robert Walser verbringt im Folgenden die Zeit mit den üblichen Arbeiten im Heim sowie mit Lesen und ausgedehnten Spaziergängen.

«Spazieren muss ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuerhalten.»

Auch als er eigentlich als gesund gilt, will er die Anstalt nicht verlassen, es scheint, er hat hier ein Zuhause gefunden, wie er es lange nicht gekannt hat.

Der Schnee

Der Schnee fällt nicht hinauf
sondern nimmt seinen Lauf
hinab und bleibt hier liegen,
noch nie ist er gestiegen.

Er ist in jeder Weise
in seinem Wesen leise,
von Lautheit nicht die kleinste Spur.
Glichest doch du ihm nur.

Das Ruhen und das Warten
sind seiner üb’raus zarten
Eigenheit eigen,
er lebt im Sichhinunterneigen.

Nie kehrt er je dorthin zurück,
von wo er niederfiel,
er geht nicht, hat kein Ziel,
das Stillsein ist sein Glück.

Robert Walser stirbt 1956 auf einer Wanderung an einem Herzschlag. Es existieren Fotos vom Verstorbenen, wie er im Schnee liegt, welche in einer fast unheimlich zu nennenden Weise an den toten Dichter Sebastian aus Walsers erstem Roman «Geschwister Tanner» erinnern. Als Schriftsteller ist Robert Walser aber schon etwa 30 Jahre vorher verstummt, so lange liegt sein letztes Werk zurück.

Zu philosophisch

Wie geisterhaft im Sinken
Und Steigen ist mein Leben.
Stets seh‘ ich mich mir winken,
dem Winkendem entschweben.

Ich seh‘ mich als Gelächter,
als tiefe Trauer wieder,
als wilden Redeflechter;
doch alles dies sinkt nieder.

Und ist zu allen Zeiten
wohl niemals recht gewesen.
Ich bin vergessne Weiten
Zu wandern auserlesen.

Ein früher erschienenes Porträt findet sich HIER

Robert-Walser-Pfad
Wer sich Robert Walsers Lebensweg sprichwörtlich erlaufen möchte, kann dies auf dem Robert-Walser-Pfad in Herisau tun. Auf einer Strecke von 7.9 km finden sich immer wieder Tafeln mit Zitaten und Einblicken in sein Werk.

Link zum Robert-Walser-Pfad

Ausgewählte Werke

  • 1904 Fritz Kochers Aufsätze
  • 1907 Geschwister Tanner
  • 1908 Der Gehülfe
  • 1909 Jakob von Gunten
  • 1915 Kleine Dichtungen
  • 1917 Kleine Prosa
  • 1917 Der Spaziergang
  • 1917 Poetenleben

Heinrich Mann (27. März 1871 – 11. März 1950)

Heinrich Mann wird am 27. März 1871 als erstes Kind einer Lübecker Kaufmannsfamilie geboren. Vier Jahre später kommt sein Bruder Thomas zur Welt, später die Schwestern Julia und Carla und schlussendlich der kleinste Bruder Viktor.

Mit 13 beschliesst Heinrich Mann, Schriftsteller zu werden und setzt dies auch gegen die Wünsche seines Vaters durch, welcher ihn lieber in einem Jura-Studium sähe. Heinrich Mann bricht das Gymnasium ab und wird ein Suchender. Nach einer abgebrochenen Buchhandelslehre (begonnen nur als Kompromiss mit dem Vater) arbeitet er kurz in einem Verlag, belegt einige Vorlesungen an der Uni und begibt sich danach auf Reisen. Wie tief die Ablehnung der Schriftstellerwünsche Heinrich Manns durch den Vater gehen, zeigt dessen Testament 1891:

„Soweit sie (die Vormünder) es können, ist den Neigungen meines ältesten Sohnes zu einer literarischen Thätigkeit entgegenzutreten. Zu gründlicher, erfolgreicher Thätigkeit in dieser Richtung fehlen im m. E. die Vorbedingnisse: genügendes Studium und umfassende Kentnisse. Der Hintergrund seiner Neigungen ist träumerisches Sichgehenlassen und Rücksichtslosigkeit gegen andere, vielleicht aus Mangel am Nachdenken.“

Heinrich Mann hält an seinem Wunsch fest, er schreibt Erzählungen, poetische Texte, Rezensionen und später auch politische Essays. Nach Heinrich Manns eigenen Aussagen soll sein Vater kurz vor seinem Tod doch noch den Segen für diesen Weg gegeben haben.

1904 schreibt er seinen ersten Roman, „Professor Unrat“ erscheint ein Jahr später, stösst aber in Lübeck auf Schweigen oder Kritik. Erst die Übersetzungen und die spätere Verfilmungen bringen den Erfolg.

1902 beginnt Heinrich Mann mit der Arbeit an seinem Roman „Der Untertan“, welcher aber erst 1915 erscheinen wird, allerdings nur auf russisch (es gab eine deutsche Privatausgabe, weil die Zensur die Veröffentlichung in Deutschland verunmöglichte). Erst nach dem Krieg war 1918 auch eine Veröffentlichung in Deutschland möglich.

Die Beziehung zwischen den beiden Brüdern Thomas und Heinrich ist immer von Auf und Abs begleitet. Schon in Lübeck kommt es zu einem Zwist, als der Langsamschreiber Thomas (er schreibt pro Tag etwa eine Seite bis anderthalb) den Vielschreiber anfährt:

„Ich halte es für unmoralisch, aus Furcht vor den Leiden des Müssigganges ein schlechtes Buch nach dem anderen zu schreiben.“

Die Aussage mag sehr überheblich klingen, doch Heinrich Mann steht in der Folge wirklich im Schatten seines erfolgreichen Bruders. Trotzdem ist die Bruderverbindung auch eine enge, so reisen die beiden Brüder vor Ausbruch des ersten Weltkrieges auch zusammen nach Palestrina, in der Nähe von Rom, wo Thomas Mann an seinen Buddenbrooks schreibt.

1914 bricht der Kontakt völlig ab wegen unvereinbarer politischer Haltungen. Heinrich Mann lehnt den Krieg ab. Er warnt sogar in seinem Roman „Der Untertan“ vor dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat mit seinem Militarismus und prangert die Haltung des „Deutschland über alles in der Welt“ aufs schärfste an:

„Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Gegen die wir nichts können, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! (…) Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen, als Neuteutonen, als Militär, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisationen und Machtverbände kegelförmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend!“

Thomas Mann hingegen ist von der allgemeinen Kriegsbegeisterung erfasst und ruft freudig aus:

„…wie die Herzen der Dichter in Flammen standen, als jetzt Krieg wurde“

Eine wirkliche Versöhnung kommt erst 1922 zustande.

Die nächsten Jahre sind nicht einfach. 1923 stirbt die Mutter, 1927 nimmt sich seine Schwester Julia das Leben (schon der Suizid von Clara 1910 hat ihn tief erschüttert), 1930 kommt es zur Scheidung von seiner Frau, zu der Zeit kennt er Nelly Kröger, seine spätere Frau, bereits.

Nach seinem politischen Einsatz (gemeinsam mit Käthe Kollwitz und Albert Einstein) für einen Zusammenschluss der Kommunisten und der Sozialdemokraten gegen die Nationalsozialisten (das kostet ihn die deutsche Staatsbürgerschaft) verlässt Heinrich Mann 1933 Deutschland und geht nach Nizza.

1935 bis 1938 schreibt er an seinem Zweiteiler „Die Jugend des Königs Henri Quatre“ und „Die Vollendung des Königs Henri Quatre“. Er wird zum Gegenbild aller entarteten Führerfiguren auf dieser Welt stilisiert. Sogar Thomas Mann lobt das Buch in höchsten Tönen:

„…das Gefühl, es mit dem Besten, Stolzesten, Geistigsten zu thun zu haben, das die Epoche zu bieten hat. Das Buch ist gross durch Liebe, durch Kunst, Kühnheit, Freiheit, Weisheit, Güte, überreich an Klugheit, Witz, Einbildungskraft und Gefühl…“

Nach seiner Hochzeit mit Nelly Kröger 1939 fliehen die beiden mit Golo Mann und den Werfels 1940 in teilweise beschwerlichen Fussmärschen durch die Pyrenäen in die USA, wo er sich aber nie heimisch fühlt und der Erfolg ausbleibt, obwohl er ein Werk nach dem anderen schreibt. Es sind düstere Jahre und die Alkoholprobleme seiner Frau tragen sicher viel dazu bei. Unterstützung erhält er von seinem Bruder Thomas, dessen Werke übersetzt werden und der auch sonst grosse Erfolge feiern kann. Nelly Mann nimmt sich 1944 das Leben und Heinrich Mann stürzt in ein grosses Loch.

Erst im Jahr 1949 scheint es aufwärts zu gehen. Heinrich Mann wird zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Künste in Ost-Berlin gewählt, er stirbt aber noch vor seiner Übersiedlung am 11. März 1950 in Santa Monica, Kalifornien.

Werke

  • 1891 Haltlos
  • 1894 In einer Familie
  • 1897 Das Wunderbare und andere Novellen
  • 1900 Im Schlaraffenland
  • 1905 Flöten und Dolche (Novellen)
  • 1905 Professor Unrat (Roman)
  • 1907 Zwischen den Rassen
  • 1912 Die grosse Liebe
  • 1917 Die Armen
  • 1918 Der Untertan
  • 1912 Diktatur der Vernunft
  • 1932 Ein ernstes Leben
  • 1949 Der Atmen

Peter Bichsel (24. März 1935)

Peter Bichsel wird am 24. März 1935 in Luzern geboren, später zieht die Familie nach Olten, wo Peter Bichsel ans Lehrerseminar geht und schliesslich bis 1968 als Lehrer tätig ist. Schon während dieser Zeit veröffentlicht er kleine literarische Werke, hauptsächlich Lyrik, aber auch Prosa. Die kleine Form bleibt seine erste Wahl, neben Kurz- und Kürzestgeschichten schreibt er viele Kolumnen. Peter Bichsel ist ein Mann der Widersprüche. Einerseits intellektueller Linker, andererseits sehr volksnah und patriotischen Anlässen wie Schwingfesten nicht abgeneigt. Er schreibt einerseits politische Reden und Aufsätze, andererseits Artikel für die Unterhaltungspresse.

In seinen Werken erzählt er kleine Alltagsgeschichten, teilweise nur Episoden in einer einfachen Sprache. Wenn man genau hinschaut, verstecken sich dahinter tiefe und hintergründige Gedanken.  

«Ich mag Bahnfahrten und ich mag sie vor allem, wenn sie zwecklos, also ziellos, sind und ins Nichts oder ins Irgendwo führen – die dauernde Flucht, aber abgesichert durch Geleise, die zurückführen nach dem Zuhause.»

Peter Bichsel geht es nicht so sehr ums Schreiben, sondern ums Erzählen. Bei diesem Erzählen ist er sich oft selber nicht sicher, ob das, was er erzählt, schon eine Geschichte ist, ob der Stoff es wert ist, erzählt zu werden. Authentisch, wie er ist, thematisiert er diesen Zweifel auch gleich selber, so zum Beispiel in seinem Band «Zur Stadt Paris»:

«In Langnau im Emmental gab es ein Warenhaus. Das hiess Zur Stadt Paris. Ob das eine Geschichte ist?»

Und später in dem Büchlein:

«Jemand hat diese Geschichte kürzlich erzählt, und wenn jemand diese Geschichte erzählt, dann meint er etwas damit, aber ich weiss nicht, was. Die Geschichte wird erzählt, wenn es um Kunst geht, eine Geschichte also, die abends erzählt wird, und eine Geschichte also, die so tut, als wäre sie selbstverständlich, eine Geschichte, die vom Zuhörer nichts anderes verlangt als ein Nicken…»

Wenn man an Peter Bichsel denkt, sieht man oft einen Mann vor sich, der in der Dorfbeiz am Stammtisch sitzt mit einem Glas Wein vor sich. Er wirkt dabei fast wie eine seiner Figuren aus seinen Geschichten, und vielleicht ist an diesem Bild genau so viel Wahres wie an den Geschichten. Viele von diesen Geschichten nehmen ihren Ursprung auch genau da – am Stammtisch. Wo wird mehr erzählt, wo sitzen Menschen zusammen und erinnern sich, freuen und ärgern sich? Und mittendrin sitzt Peter Bichsel und hört zu. Und schreibt später darüber.

Dass Peter Bichsel es liebt, zuzuhören und zu beobachten, zeigt sich deutlich in dieser Aussage, die Peter Bichsel im Filmporträt «Zimmer 202 – Peter Bichsel in Paris» machte:

«Ich bin jetzt erst mal hier. Ich muss eigentlich gar nichts unternehmen. Ich kann mich auch auf eine Bank setzen und eine Zigarette rauchen und zuschauen.»

Das tut er denn auch. Er bleibt seinem Alltags – Ich auch in Paris treu, sitzt bei einem Glas Wein im Café (nah bei seinem Hotel) oder schaut aus dem Fenster und lässt die Welt vor seinen Augen ihren Gang gehen, lässt die Geschichten zu sich kommen, die er dann irgendwann erzählen wird.

«Ich merke, wie ich immer erst eine Geschichte erzähle, bevor ich Ihre Frage beantworte…»

Das sagte Peter Bichsel in einem Gespräch mit Sieglinde Geisel. Und wir sitzen da, hören und lesen seine Geschichten, suchen und finden den Menschen darin und dahinter, und schreiben über ihn. Fast wird er so zu seiner eigenen Geschichte.

Werke

  • 1964 Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen (21 Kurzgeschichten)
  • 1969 Kindergeschichten (7 Kurzgeschichten)
  • 1969 Des Schweizers Schweiz (Aufsätze)
  • 1982 Der Leser. Das Erzählen. Frankfurter Poetik-Vorlesungen
  • 1985 Der Busant. Von Trinkern, Polizisten und der schönen Magelone
  • 1986 Irgendwo anderswo. Kolumnen 1980 – 1985
  • 1995 Ein Tisch ist ein Tisch
  • 1999 Cherubin Hammer und Cherubin Hammer (Erzählung)
  • 2004 Wo wir wohnen. Geschichten

Bettina Storks: Die Poesie der Liebe. Ingeborg Bachmann und Max Frisch

Zum Inhalt

«Sie würden einander neu erfinden, als Mann und Frau, als Schriftsteller und Schriftstellerin. Sie würden das erste Paar sein.»

Sie treffen sich 1958 in einer Bar in Paris. Max Frisch verliebt sich auf den ersten Blick, Ingeborg Bachmann ist anfangs zögerlicher. Sie laufen durch die Nacht in Paris und wollen gemeinsam durchs Leben laufen. Dass es ein Sturzflug werden würde, der in den Abgrund zu führen drohte, war ihnen da noch nicht bewusst – höchstens als kleine Ahnung, dass es nicht einfach werden könnte, vorhanden.

Die Liebe von Max Frisch und Ingeborg Bachmann dauerte 5 Jahre, sie war durchdrungen von Leidenschaft, von einer grossen und tiefgehenden Liebe und von vielen Streitereien. Hier trafen zwei unterschiedliche Charaktere aufeinander, zwei Menschen von Format und dem Auftrag zu schreiben. Hier trafen zwei Künstler aufeinander, die schon in sich viele Widersprüche hatten, und mit denen, die sie im anderen fanden, überfordert waren. Sie floh immer wieder vor ihm, weil sie ihre Freiheit suchte, als er sie dann verliess, weil er es nicht mehr aushielt, brach sie zusammen und wollte ihn halten. Es war zu spät – und doch hat sie es wohl auf eine Art sein Leben lang getan.

Gedanken zum Buch

«Wir zwei, du und ich, wir denken alles um. Ein Paar, das sich als das erste Paar versteht, als die Erfindung des Paares. Wir! Und die Welt kann sich stossen an unserem Übermut, aber sie kann uns nicht verletzen.»

Sie waren voller Leidenschaft, vom Wunsch beseelt, es gut zu machen, zu leben, zu lieben. Sie sahen die Gefahr in der Aussenwelt, da sie als Künstler für diese sichtbar existierten und alle ihre Schritte der Öffentlichkeit sichtbar waren. Dass die eigentliche Gefahr für ihre Beziehung von innen, von ihnen selbst auskommt, das hätten sie ganz am Anfang wohl nicht gedacht – oder zumindest gehofft, diese Gefahr bannen zu können, denn es war von Anfang an klar, wie verschieden sie waren. Sie, die Durchdachte, die Frau, die nach Worten sucht, sie auf die Goldwaage legt, prüft. Er der Unmittelbare, der spontan sagt, was er denkt, ohne Skrupel, ohne Abwägen.

«Gegen den Realisten Max war sie eine Traumwandlerin mit verbundenen Augen auf dem Trapez.»

Max Frisch war ein Mann der Strukturen, der Ordnung liebte und pragmatische Lösungen suchte. Sein Arbeitsalltag war genauso geregelt wie sein Pult und sein Kopf. Das Chaos einer Ingeborg Bachmann fegte da wie ein Tornado durch, wirbelte auf und um. Und noch schlimmer: Sie wirbelte immer auch wieder davon, weil sie sich, der Luft gleich, immer entzog, ihre Freiheit suchte, förmlich vor ihm floh. Und er? Er verfolgte sie mit seiner Eifersucht, seiner Wut, und vor allem seinem Unverständnis.

«Es existieren so viele verminte Bereiche in deinem Leben. Ein Schritt in die falsche Richtung, alles fliegt mir um die Ohren. Was ist das für eine hochentzündliche Luft, in der du dich aufhältst, Inge’ Wie ein Blinder taste ich mich zuweilen durch deine Tabus.»

Die unterschiedlichen Charaktere von Max Frisch zogen sich durchs ganze Leben. Vor allem Max Frisch störte sich an Ingeborg Bachmanns Art, ihr Leben zu leben und ihn davon auszuschliessen. Sie pflegte ausufernde Brieffreundschaften zu verschiedenen Männern, sie entzog sich ihm immer wieder durch Reisen, regelrechte Fluchten. Sie trennte ihre Welten feinsäuberlich: auf der einen Seite ihre Freunde, ihr Schreiben, ihre Termine, ihre Kontakte, auf der anderen Seite Max Frisch. Durchmischungen fanden nur widerwillig statt. Max Frisch, von Natur eifersüchtig, kam damit kaum klar und so eskalierten immer wieder Streits um die Sache, die für beide schwer zu tragen waren.

«Ich existiere nur, wenn ich schreibe, ich bin nichts, wenn ich nicht schreibe, ich bin mir selbst vollkommen fremd, aus mir herausgefallen, wenn ich nicht schreibe.» Ingeborg Bachmann

Ingeborg Bachmann definierte sich über das Schreiben, es war für sie ihr Lebenssinn. Dass sie während der Beziehung mit Max Frisch eine ausgewachsene Schreibblockade erleben musste, hat sie tief verunsichert und verstört. Interessant wäre, ob diese Blockade durch die Konflikte im Aussen, in der Beziehung entstanden ist, oder aber die Verzweiflung über das eigene Nichtschreiben diese Konflikte mitbefördert hat.

«Je ehrlicher das Leben, je lebendiger, je echter, umso sicherer der Schmerz. Angst vor Schmerz bringt uns zur Rücksicht, nie zum Leben.» Max Frisch

Mangelnde Leidenschaft oder Liebe war es nicht, die ihnen zum Verhängnis wurden, im Gegenteil: Die gegenseitige Anziehung war immer da. Vielleicht wurde gerade diese Gefühlswoge zum Verhängnis, indem sie sie beide einrollte und unter sich zu erdrücken drohte. Beiden kam immer wieder der Gedanke an Trennung im Anblick an die Wunden, die sie sich immer wieder zufügten. Beide kamen zu oft an ihre Grenzen, krankten förmlich an der Beziehung, und doch war da diese Verbindung, dieser Sog zueinander. Sie wollten es wagen, sie wollten es schaffen.

Es war Max Frisch, der schlussendlich den Schlussstrich zog. Ingeborg Bachmann hat dieses Ende schlecht verkraftet. Es war für sie keine Erlösung in die vorher ersehnte Freiheit, sondern ein Sturz ins Bodenlose.

Bettina Storks ist es gelungen, mit viel Hintergrundwissen, grosser Nähe zu den beiden Protagonisten und doch der nötigen Distanz diese grossartige Liebesgeschichte zu erzählen, so dass man als Leser in zwei Leben eintaucht, die zu einem wachsen wollten und doch immer grössere Mauern und Abgründe zwischen sich errichteten. Entstanden ist eine Romanbiografie, die sowohl Aufschluss über das Leben und Lieben von Max Frisch und Ingeborg Bachmann gibt, als auch flüssig und packend lesbar ist.

Fazit
Eine grossartige Romanbiografie über die Liebe zweier grosser Schriftsteller, Ingeborg Bachmann und Max Frisch –  gut recherchiert, fundiert, tiefe Einblicke gewährend, und dabei doch packend und eine wahre Lesefreude. Sehr empfehlenswert!

Zur Autorin
Bettina Storks, geboren bei Stuttgart, lebt und schreibt am Bodensee. Sie ist die Autorin zahlreicher Bestseller über faszinierende Frauenfiguren.  Ingeborg Bachmann fasziniert sie seit Langem, schon an der Universität Freiburg promovierte sie über deren literarisches Werk. Nachdem zuletzt immer mehr Quellen über die Beziehung zwischen der Bachmann und Max Frisch zugänglich wurden, begann Bettina Storks einen Roman über die außergewöhnliche Liebe dieser zwei schillernden Literaten zu schreiben. Im Aufbau Taschenbuch liegt von ihr außerdem der Roman „Dora Maar und die zwei Gesichter der Liebe“ vor.

Angaben zum Buch
Herausgeber ‏ : ‎ Aufbau Taschenbuch; 1. Edition (16. August 2022)
Sprache ‏ : ‎ Deutsch
Taschenbuch ‏ : ‎ 430 Seiten
ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3746637983

Gedanken und Buchtipp: Ich sein in dieser Welt

Eigene Gedanken

„Wir Menschen sind Geschichtenerzähler. Was wir uns von uns erzählen, erfahren wir als unsere Identität.“

Wir leben in einer Zeit der Singularität, der Einzigartigkeit. Oft hört man in dem Zusammenhang die Aufforderung, man selbst zu sein, seinen eigenen Weg zu gehen, sich selbst treu zu sein und zu bleiben. Doch: Wer ist dieses ich? Was macht es aus? Oft erzählen wir uns dazu Geschichten, die wir uns dann glauben. Wir erzählen von Vorkommnissen in der Vergangenheit, von der Kindheit, unserem Beruf, Menschen um uns, die uns geprägt hätten – und manchmal sind es auch schwierige Ereignisse, Ereignisse, die uns umtreiben, umwerfen gar.

„Es gibt Ereignisse in unserer Biografie, die verändern alles. Von einem Moment auf den nächsten ist das Leben keine planbare Grösse mehr und die Welt eine andere, als wir bis dahin dachten. Wir sprechen dann von einer Krise […] plötzlich wissen wir wieder, was Menschsein heisst: Wir sind verwundbar, und wir brauchen die Anderen.“

Und plötzlich sind die Fragen noch drängender: Wer bin ich nun? Noch derselbe? Ein anderer? Und wir machen uns auf die Suche nach dem, woran wir uns wieder erkennen können.

„Besonders in Lebenskrisen, in Zeiten der Neuausrichtung oder im Alter werden die fragen drängender: Was zeichnet mich aus? Warum erlebe ich all dies? Was ist meine Aufgabe? Was sind die Muster in meinem Leben, die Lebensspur, die meine Erdenzeit durchwebt, der ich folge oder die mir ausgelegt wurde?“

Wir suchen nach unserem Wesenskern, danach, was uns ausmacht und wozu wir auf dieser Welt sind. Vor allem vom „Wozu“ erhoffen wir uns viel, soll es doch dem Leben Sinn verleihen.

„Das Eigene erkennt man im Fremden, das Ich im Vergleich mit dem Gegenüber.“

Was wir dabei oft vergessen, ist, dass es bei der Suche nach uns selbst nie nur um uns geht. Wir sind nicht allein auf dieser Welt und nie unabhängig von dieser und den Menschen um uns zu denken. Erst im Anderen erkennen wir uns selbst, in unserem Miteinander, in unserem Austausch erkennen wir unseren Beitrag und unser Sein in dieser Welt.

„Die Geschichten wollen neu erzählt, die Fragen neu gestellt werden, und zwar so, dass wir unser Einzigartigsein nicht länger durch die Abgrenzung vom Anderen erfahren, sondern aus der Verbundenheit heraus mit den Anderen erleben.“

Es gilt also, diese Perspektive mit aufzunehmen in die eigene Biografiearbeit. Es gilt, so eine umfassendere Geschichte zu schreiben – und dies im wahrsten Sinne des Wortes am besten wirklich zu schreiben, nicht nur zu denken. Schon Hannah Arendt sagte, dass sie schreibe, weil sie verstehen wolle. Schreibend gelingt es uns besser, die Gedanken in eine Ordnung zu bringen, sie zu sortieren und so fassbarer zu machen. Wenn es dabei um die eigene Biografie geht, ist das Ziel, uns in der Welt verortet zu sehen, als Teil eines Ganzen. Wir erfahren Wort für Wort mehr über unseren Platz in dieser Welt:

„In den goldenen Faden unserer Existenz, ins Licht unseres Daseins webt sich der rote Faden unseres Schicksals ein. Beides zusammen stellt das Gewebe unseres Lebens dar.“

Der Buchtipp dazu:

Liane Dirks: Sein & Werden: Schätze und Chancen unserer Biografie neu erkennen

Anhand verschiedener Fragen nimmt Liane Dirks den Leser an die Hand und läuft die Stationen seines Lebens ab. Sie beleuchtet den Anfang, wo die Lebensreise begann, analysiert, was uns als Menschen ausmacht und wodurch wir wachsen, zeigt auf, was Liebe bedeutet und wieso sie so wichtig ist. Sie zeigt auf, was wir vom Leben lernen können und wieso es wichtig ist, die kleine egozentrische Sicht zugunsten eines grösseren Zusammenhangs zu erweitern. Wir sind alles Teil eines Ganzen, Teil einer Welt. Was es heisst, darin verortet zu sein, schliesst das Buch schliesslich ab.

Liane Dirks ist ein wunderbares Buch über das Erkennen des eigenen Seins gelungen. Wie einer ist und was ihn ausmacht, welche Geschichten über sich er sich erzählt und wie neue Geschichten aussehen könnten – all das sind Themen dieses Buchs.

Zur Autorin
Liane Dirks, geboren 1955, ist freie Schriftstellerin, Meditations- und Tai-Chi-Lehrerin und hat eine Ausbildung in klientenzentrierter Gesprächstherapie absolviert. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen und trug mit ihren Romanen zu wichtigen gesellschaftlichen Debatten bei. Sie entwickelte den zertifizierten Ausbildungsgang zum Life Script® Coach in kreativer potenzialorientierter Biografiearbeit, der Selbstentfaltung, Kreativität und Spiritualität zusammenführt. Liane Dirks gibt regelmäßig Seminare und lebt in Köln.

Angaben zum Buch
Herausgeber : Kösel-Verlag (2. November 2022)
Gebundene Ausgabe : 272 Seiten
ISBN-13 : 978-3466347377

Susan Sontag (1933 – 2004)

Susan Sontag wird am 16. Januar 1933 als Susan Rosenblatt in New York City geboren. Die ersten Jahre verbringt sie bei den Grosseltern, weil ihre Eltern durch den Beruf des Vaters in China sind. Als Susan 5 Jahre alt ist, stirbt ihr Vater an Tuberkulose, Susan kriegt bald einen Stiefvater und mit diesem auch den Namen Sontag.

Beruflich weiss Susan Sontag schon früh, wo ihr Leben hinführen soll, auch wenn sie durchaus an sich und der Machbarkeit zweifelt:

Ich möchte schreiben – ich möchte in einer intellektuellen Atmosphäre leben – ich möchte in einem kulturellen Zentrum leben[1]

Der Wunsch nach Intellektualität, nach Kultur, nach Schreiben begleitet sie ein Leben lang. Vor allem in ihren jungen Jahren ist bei Susan Sontag eines zentral: Sich selber zu erschaffen, wie sie sich gerne hätte. Gerade die frühen Tagebücher zeugen von einer unerbittlichen Suche nach dem eigenen Selbst, nach dem Bild, das sie von sich haben will und ausfüllen kann. Immer wieder hinterfragt sie sich, analysiert sich, klagt sich auch an, um sich dann wieder aufzuraffen, Mut zu fassen, weiter zu gehen.

Es gibt nichts, nichts, was mich daran hindern würde, irgendetwas zu tun – ausser mir selbst … Nur die Zwänge meiner Umgebung, denen ich mich selbst unterwerfe und die mir immer allmächtig erschienen, so dass ich es nicht wagte, auch nur in Betracht zu ziehen, ihnen zuwiderzuhandeln…. Aber was hindert mich eigentlich daran?[2]

Wenig später ist sie überzeugt:

Jetzt fängt alles an – ich bin wiedergeboren[3]

Ab 1949 studiert Susan Sontag in Chicaco Literatur, Theologie und Philosophie. Mit 17 heiratet sie den Soziologen Philip Rieff, aus der Beziehung stammt Sohn David. Die Ehe geht nicht lange gut, was sicher auch an Susan Sontags Schwanken zwischen den Geschlechtern liegt. Bereits 1947 hat sie in ihr Tagebuch geschrieben:

Ich wollte mich unbedingt körperlich zu ihm hingezogen fühlen und wenigstens beweisen, dass ich bisexuell bin [am Rand: Wenigstens bisexuell – was für eine idiotische Idee][4]

Immer wieder kämpft Susan Sontag mit Krebs, schon in den 70er-Jahren muss sie sich einer aggressiven Chemotherapie unterziehen – sogar die Ärzte sehen kaum Hoffnung auf Erfolg. Sie kämpft aber auch gegen die Stigmatisierung dieser Krankheit, kämpft dagegen, nur als Kranke gesehen zu werden und nicht mehr als ganzer Mensch mit allen Facetten.

Ich für meinen Teil betrachte mich als Produkt meiner Geschichte. Mehr ist meine Wesensart nicht. – Und da ich erkenne, wie willkürlich meine Geschichte zum Teil ist, erscheint mir deren Produkt, meine Wesensart, logischerweise veränderbar, überwindbar.[5]

Susan Sontag ist zeitlebens eine Lernende, sie verschlingt Bücher, Filme, liebt Kunst und Musik. Ganze Listen legt sie an mit Titeln, die sie verschlungen hat oder noch lesen, sehen oder hören will. Sie ist in ihrem Schreiben und Urteilen aber kaum je dem Mainstream verpflichtet, sieht sich im Gegenteil als Revolutionärin im Ganzen:

Ich bin eine angriffslustige Schriftstellerin, eine polemische Schriftstellerin. Ich schreibe, um zu unterstützen, was attackiert wird, und um zu attackieren, was gefeiert wird.[6]

Allerdings resultiert diese Haltung nicht aus einer Art Trotz, vielmehr folgt sie unbeirrt ihrer Wahrnehmung und Einschätzung.

Ein grosses Thema von Susan Sontag sind immer wieder die Liebe und Beziehungen. Vieles geht in die Brüche, Susan Sontag leidet, hinterfragt sich und die verflossenen Lieben. In ihren Tagebüchern findet man viel von diesem Hadern und Leiden. In den späten 80er-Jahren scheint es ruhiger zu werden. Von 1988 bis zu ihrem Tod lebt Susan Sontag mit der Fotografin Annie Leibovitz zusammen.

Susan Sontag stirbt am 28. Dezember 2004 in New York City.

Ihr Werk
Susan Sontag ist vor allem für ihre Essays über Literatur, Kunst, Film und Fotografie bekannt, aber auch ihr Roman In Amerca stiess auf begeisterte Kritik und brachte ihr den National Book Award ein.  

Werke (u.a.)
Prosa

  • Der Wohltäter (1963)
  • Todesstation  (1967)
  • Ich, etc. (1978)
  • In Amercia (2000

Essays und andere Schriften

  • Kunst und Antikunst
  • Über Fotografie
  • Das Leiden anderer betrachten
  • Wiedergeboren. Tagebücher 1947 – 1963
  • Ich schreibe, um herauszufinden, wer ich bin. Tagebücher 1964 – 1980
  • The Doors und Dostojewski: Das Rolling-Stone-Ingterview

Weiterführende Literatur:

  • Benjamin Moser: Sontag. Die Biografie – Anhand von verschiedenen Themen nähert sich Benjamin Moser Susan Sontag und schafft so ein umfassendes, tiefgründiges und aufschlussreiches Porträt einer grossartigen Frau.
  • Daniel Schreiber: Susan Sontag. Geist und Glamour – ein gut recherchiertes, kritisches, distanziertes und doch auch bewunderndes Porträt einer spannenden Frau

[1] Susan Sontag, Wiedergeboren, Tagebücher 1947 – 1963, S. 27
[2] ebd., S. 46
[3] ebd., S: 52
[4] ebd., S. 28
[5] Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964 – 1980, S. 292
[6] ebd., S. 421

Kate Kirkpatrick: Simone de Beauvoir. Ein modernes Leben

Inhalt

«Die Geschichte meines Lebens selbst ist eine Art Problemfall, und ich muss den Menschen keine Lösungen geben, und die Menschen haben kein Recht darauf, von mir Lösungen zu erwarten. Eben in diesem Rahmen hat mir gelegentlich meine vermeintliche Berühmtheit, oder kurz gesagt die Aufmerksamkeit der Menschen, Sorge bereitet. Es gibt eine gewisse Erwartungshaltung, die ich etwas beschränkt finde und die mich einengt, weil sie mich in irgendeinem feministischen Betonblock fixieren will.»
(Simone de Beauvoir)

Simone de Beauvoir wuchs in einem konservativen Haus voller Vorschriften und Verbote auf, in welchem Körperlichkeit dem Laster gleichgesetzt wurde und mögliche Freundinnen der strengen Prüfung bedurften, um sich mit ihnen treffen zu dürfen. Simone de Beavoir bezeichnete das Milieu in Ein sanfter Tod selbst als «provinzielle Wohlanständigkeit und klösterliche Moral». Trotzdem sah sie ihre Kindheit als glückliche an, fühlte sich in ihrer Familie behütet und sicher (sie bezeichnete es als «unbedingte Sicherheit»), fürchtete dann und wann den Fall aus dieser Kindheit, wenn sie eine «Ausgestossene der Kindheit» würde. Neben Schutz und Geborgenheit bot das Elternhaus aber noch etwas: Den Zugang zur Literatur, den der Vater förderte und Simone de Beauvoir mit grosser Neugier nutzte und liebte.

Schön früh machte sich Simone de Beauvoir tiefgründige Gedanken darüber, was ein gutes Leben sei, wie wichtig Freiheit in einem solchen ist und was Liebe in Bezug auf beide bedeutet. Man findet in ihren Tagebüchern von damals schon viele Ideen, die später bei ihr und vor allem auch Sartre auftauchen. Dies ist insofern interessant, als es immer wieder Stimmen gab, die Beauvoir als Profiteurin von Sartre bezeichneten, ihr gar unterstellten, nie eigenständig gedacht und nur seine Gedanken übernommen zu haben. Weder das noch das auch ab und an behauptete Gegenteil, dass Sartre der Profiteur gewesen sei, ist richtig. Die beiden Namen sind durch ihre Geschichte, ihren Liebespakt sowie den lebenslangen intensiven Austausch so intensiv verbunden und verwoben, dass sich kaum genau eruieren lässt, wer wo wieviel Einfluss auf den anderen hatte.

«Warum sollte es Freiheit auf Kosten der Liebe geben? Oder Liebe auf Kosten der Freiheit?

Neben Sartre gab es andere Freunde und Freundinnen, geistig und sexuell. Das Konzept der kontingenten Liebe, das Sartre und Beauvoir für sich bestimmten, dass sie sich notwendige Lebensbegleiter sind, andere daneben als mögliche zufällige Platz haben, hat immer wieder für Aufsehen gesorgt. Simone de Beauvoir war sich am Ende ihres Lebens selbst nicht mehr sicher, ob sie mit diesem Lebensmodell nicht zu viele Menschen ausgenutzt und leiden lassen haben.

«Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.»

Bekannt wurde Simone de Beauvoir vor allem durch ihr Buch «Das andere Geschlecht», in welchem sie die Rolle der Frau und ihren Platz in der Welt beschreibt. Sie vertritt die Meinung, dass nicht die Biologie ausschlaggebend ist, wie Frauen wahrgenommen und behandelt werden, sondern soziale und kulturelle Situation. Simone de Beauvoir hat aber noch viel mehr geschrieben, hat sich mit Themen wie dem Alter, der Liebe, dem Tod und vor allem immer wieder der Freiheit befasst. Sie hat erfolgreich Romane, Essays, Theaterstücke und autobiographische Schriften verfasst und sich auch politisch engagiert.

Zwar war Beauvoir bekannt, aber trotzdem blieben immer Stimmen laut, die sie zurücksetzten hinter Sartre, die ihr Eigenständigkeit im Denken und Sein vorwarfen. Die unkonventionelle Lebens- und Liebesweise spülte noch zusätzlich auf die Mühlen der abschätzigen Zuschreibungen. Dies alles und noch einiges mehr beleuchtet Kate Kirkpatrick in dieser Biografie, der ersten nach der Veröffentlichung verschiedener Briefwechsel und frühen Tagebücher de Beauvoirs.

Weitere Betrachtungen

«Es ist nicht die Aufgabe des Biografen, zu urteilen, sondern ein Leben möglichst objektiv darzustellen, damit der Leser sich ein Urteil bilden kann.»
(Kate Kirkpatrick in einem Interview)

Kate Kirkpatrick ist es gelungen, Leben und Werk einer komplexen Persönlichkeit, wie Simone de Beauvoir es war, auf eine klare, sachliche und sehr ausgewogene, kompetente Weise zu beschreiben. Sie dazu auf eine Vielzahl von Quellen Zugriff genommen, was auch erlaubt hat, die Widersprüche in Simone de Beauvoirs Leben und Denken einerseits, in deren Darstellung desselben andererseits aufzuzeigen.

«Ein gelebtes Leben kann nicht durch seine Nacherzählung wiederaufleben. Doch von aussen betrachtet, sollten wir nicht vergessen, mit welcher Kraft sie kämpfte, um sie selbst zu werden.»
(Kate Kirkpatrick)

Die vorliegende Biografie gibt einen Blick frei auf eine intelligente, selbstreflexive, in sich immer auch wieder zweifelnde und selbstkritische Frau, die ihren Weg durchs Leben sucht, indem sie versucht, das zu sein, was sie sein kann und will, ihren eigenen Maximen treu zu sein. Dass dies nicht immer gelungen ist, merkte Simone de Beauvoir selber und legte es sich auch zu Lasten.

In der ersten Hälfte sind die verschiedenen (mehrheitlich sexuellen) Beziehungen de Beauvoirs sehr grosses Thema, in der zweiten Hälfte nehmen die politischen Rahmenbedingungen einen grossen Platz ein. Beides hätte durchaus gekürzt werden können. Ab und an wäre ein genauerer Blick auf Simone de Beauvoirs Denken wünschenswert gewesen, nahm doch Sartres dagegen einen relativ grossen Raum ein. Trotz allem ist Kate Kirkpatrick eine informative, tiefe und auch neue Einsichten gewährende Biografie gelungen, die hoffentlich schafft, den Blick auf Simone de Beauvoir zu schärfen, mit landläufigen Vorurteilen auf- und ihr den Stellenwert einzuräumen, der ihr gebührt.

Fazit:
Eine kompetente, informative und neue Einsichten gewährende Biografie, die einen neuen Blick auf eine tiefgründige und inspirierende Denkerin und Frau ermöglicht. Sehr empfehlenswert.

Kate Kirkpatrick
Kate Kirkpatrick, Dr. phil., war Dozentin für Philosophie an der University of Hertfordshire und Dozentin für Theologie am St Peter’s College, University of Oxford. Seit 2018 ist sie als Dozentin am King’s College in London. Zuletzt veröffentlichte sie bei Bloomsbury Sartre and Theology (2017).

Angaben zum Buch:
Taschenbuch: 528 Seiten
Verlag: Piper Taschenbuch; 1. Edition (30. September 2021)
Übersetzung: Erica Fischer und Christine Richter-Nilsson
ISBN: 978-3492318488

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Andrea Stoll: Ingeborg Bachmann. Der dunkle Glanz der Freiheit

„Wer sich heute Person und Werk der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann zu nähern versucht, wird mit einem widersprüchlichen Bild konfrontiert. Eine moderne, selbständige Frau scheint uns da anzuschauen, weltgewandt und voller Lebensfreude. Doch die glanzvolle Erscheinung der österreichischen Autorin…war nur eine Seite ihrer Existenz. Die andere, von unauslöschlicher Angst und immer wiederkehrender Verzweiflung geprägte Seite gehörte ebenso dazu.“

1929 in Kärnten geboren, wird Ingeborg Bachmann schon bald mit dem Krieg und seinen Schrecken konfrontiert. Dieses Trauma wird sie ein Leben lang begleiten, immer wieder Thema ihres Werks sein. Andrea Stoll präsentiert uns in ihrer Biografie ein stimmiges Bild dieser spannenden Frau und ihres Schaffens. Sie zeigt die vielen Gesichter Ingeborg Bachmanns, beleuchtet die Hintergründe ihres Seins und Tuns.  

Es ist kein leichtes Unterfangen, eine Biografie von Ingeborg Bachmann zu schreiben, hielt sich diese doch zeitlebens eher bedeckt, was Privates anbelangte. Sie gab nicht nur nach aussen wenig preis, sie wusste sogar die einzelnen Bereiche ihres Lebens voneinander so abzugrenzen, dass die verschiedenen Kreise, in denen sie verkehrte, wenig bis nichts voneinander wussten und vor allem auch nie durchmischt wurden.

„Seit frühester Jugend hatte Ingeborg Bachmann davon geträumt, als freie Schriftstellerin leben und arbeiten zu dürfen, und mit dem ihr eigenen Ehrgeiz und unbedingten Willen alles darangesetzt, diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen. Doch der Preis für ihre Freiheit war hoch, ja, er überstieg im Laufe der Jahre ihre Kraft – und doch hielt sie daran fest, auch dann, als sie längst krank und von den Anstrengungen ihrer freien Autorenexistenz körperlich und seelisch gezeichnet war.“

Leben und Schreiben ist bei Ingeborg Bachmann nicht zu trennen, da Schreiben für sie lebenswichtig, lebensfüllend war. Diesem ordnete sie alles unter. Auch ihre Sehnsucht nach Liebe, nach einer Familie. Sie selber war es oft, die auf Distanz ging, ihre Unabhängigkeit verteidigte, und somit Beziehungen schwierig bis unmöglich machte. Andrea Stoll ist ein offener Blick gelungen, der von offensichtlichem Verständnis für Ingeborg Bachmann geprägt ist. Insofern brauchte sie wohl einen anderen Schuldigen für deren Zerbrechen an einer gescheiterten Liebe. In Max Frisch hatte sie diesen gefunden (das ist nur ein Beispiel, es gäbe andere, da war es am deutlichsten). Dass er da sein wollte, ein Miteinander wollte, drang zwar ab und zu durch die Zeilen, aber dann war er doch der, welcher so viel Leid über Bachmann brachte. Was die Trennung durchaus tat. Aber nicht Frisch allein. Und doch bleibt die Sicht nachvollziehbar. Aus dem, was draus resultierte.

Es ist schlussendlich wohl schwierig, ein wirklich objektives Bild einer so diffusen und komplexen Persönlichkeit zu zeichnen. Andrea Stoll ist mit dieser Biografie eine grösstmögliche Annäherung gelungen. Ich möchte dieses Buch wirklich jedem ans Herz legen, der sich für Ingeborg Bachmann interessiert, der sich für Frauenexistenzen in einer von Männern gemachten Welt interessiert, der sich für Lyrik, Literatur, Geschichte und was sie mit Menschen macht interessiert. Ach, ein Buch, das man lesen sollte.

Fazit:
Eine echte, wirkliche Leseempfehlung für alle, die an Ingeborg Bachmann interessiert sind, die am Literaturbetrieb (gerade auch für Frauen) nach der Kriegszeit interessiert sind. Eine absolute Leseempfehlung.

Über die Autorin
Dr. phil. Andrea Stoll hat als Autorin und Dramaturgin zahlreiche Essays, Bücher und Filme geschrieben und war über fünfzehn Jahre als Dozentin für Literatur an der Salzburger Universität tätig. Sie gilt als ausgewiesene Bachmann-Kennerin und hat seit ihrer Dissertation „Erinnerung als ästhetische Kategorie des Widerstandes im Werk Ingeborg Bachmanns“ (1992) zum Werk der österreichischen Autorin mehrere Essays und Bücher vorgelegt, u.a. als Mitherausgeberin des zum internationalen Beststeller avancierten Ingeborg Bachmann–Paul Celan-Briefwechsels „Herzzeit“ (2008).

Angaben zum Buch:
Kindleversion, da leider vergriffen: 11809 KB
Seitenzahl der Printversion: 382 Seiten
Verlag: C. Bertelsmann Verlag (9. September 2013)
ASIN : B00E7PVO4K
Preis: EUR  9.49 / CHF 12.90

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