Joan Didion: Blaue Stunden

Inhalt

«Wären sie an diesem Tag auf der Amsterdam Avenue vorbeigekommen und hätten einen Blick auf die Hochzeitsgesellschaft geworfen, hätten sie dann gesehen, wie vollkommen unvorbereitet die Brautmutter auf das war, was passieren würde, bevor das Jahr 2003 überhaupt zu Ende ging?»

Innerhalb von zwei Jahren verliert Joan Didion ihren Mann und ihre Tochter. Ihr Mann starb an einem Herzinfarkt, ihre Tochter nach einer Reihe von Krankheiten knapp zwei Jahre später.

Joan Didion erinnert sich. Sie erzählt die Geschichte ihrer Tochter von dem Tag ihrer Adoption bis zu ihrem Tod. Sie erzählt eine Geschichte von Liebe, Tod, Abschied, Freude und Angst. Sie erzählt von ihren Zweifeln an ihrer Mutterrolle, von ihrem Erinnern, sie hinterfragt sich und das Leben. Ein persönliches Buch, ein tiefgründiges und bewegendes Buch. In einzelnen Sätzen und Textfragmenten, fast staccatoartig, entwickelt sich ein Gefühlsbild, stellt sich die Trauer um den Verlust und der Kampf ums eigene Weiterleben dar.

Gedanken zum Buch

«Die Zeit vergeht. Ja, einverstanden, eine Banalität, natürlich vergeht die Zeit. Aber wieso sage ich es dann, warum habe ich es schon mehr als einmal gesagt? …Könnte es sein, dass ich das nie geglaubt habe?»

Die Zeit vergeht, doch was bedeutet das? Steckt in dem Vergehen ein Abschied mit drin? Ist ein Verdrängen der vergehenden Zeit ein Verdrängen eines möglichen Tods und damit die Hoffnung, dass alles immer so bleibt, wie es ist? Ist der Gedanke an eine vergehende Zeit, die einen Abschied in sich trägt, so schwer zu tragen, dass man dem Vergehen der Zeit darum positive Eigenschaften zuschreibt, wie zum Beispiel, dass das Heilen von Wunden? Und: Werden die Wunden geheilt oder trocknen sie nur langsam aus, so dass sie vordergründig nicht mehr so präsent gefühlt werden?

«Tatsache ist, dass ich diese Art Andenken nicht länger schätze. Ich möchte nicht an das erinnert werden, was zerbrach, verlorenging, vergeudet wurde.»

Es heisst, in der Erinnerung leben die Menschen, die von uns gingen, weiter. In Erinnerungen werden Momente wieder präsent und bringen die Freude zurück. Das ist die eine Seite, doch die andere gibt es auch: Erinnerungen zeigen immer auch, was nicht mehr ist. Sie bringen uns Menschen ins Gedächtnis, die wir gehen lassen mussten, machen den Schmerz dieses Abschieds wieder präsent. Und manchmal ist dieser Schmerz so gross, dass es einfacher scheint, die Erinnerung auszublenden, sie dem Vergessen anheim zu geben.

«Theoretisch dienen diese Andenken dazu, den Augenblick zurückzurufen. Tatsächlich dienen sie nur dazu, mir zu verdeutlichen, wie wenig ich den Augenblick genoss, als er da war.»

Erinnerungen können auch bewusst machen, wie blind wir durch die Zeit und durch unser Leben gehen und gegangen sind. Wie oft tun oder erleben wir etwas, sind aber in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt? Wie oft sehen wir nicht, was um uns ist, weil innerlich schon an einem anderen Ort sind? Vielleicht schmerzen die Erinnerungen am meisten, die von nicht bewusst gelebten Momenten erzählen, weil die Erinnerungen erst sichtbar machen, was wir verpasst haben. Sie zeigen uns unwiederbringliche Chancen und Möglichkeiten und haben dabei die eine Botschaft: Das ist vorbei.

«Ich werde noch nicht einmal darüber diskutieren, ob sie eine ‘gewöhnliche’ Kindheit hatte, obwohl ich mir nicht sicher bin, wer genau eigentlich eine solche hat.»

Zum Elternsein gehören wohl immer auch Zweifel. Die Gesellschaft hält uns Bilder von Familien vor, zeigt, was eine normale Familie ausmacht. Aber: Was ist normal? Was bedeutet eine schöne Kindheit, wie muss sie aussehen? Wann ist man eine gute Mutter, ein guter Vater? Wo hat man als Eltern versagt? All diese Fragen stellt sich Joan Didion und umkreist sie dann. Die Antwort bleibt offen, weil es auf diese Fragen keine Antwort gibt, die allgemeingültig und damit abschliessend ist.

«Die Erinnerung verblasst, die Erinnerung passt sich an, die Erinnerung fügt sich dem, woran wir uns zu erinnern glauben.»

Joan Didion schreibt in einem eigenwilligen Stil, sie pendelt durch die Zeiten, stellt Gedanken neben Erlebnisse, erzählt von Häusern und Menschen. Sie arbeitet immer wieder mit Wiederholungen, die wie ein Refrain im Text wirken, ein Zurückholen des Ausgangs einer Gedankenkette, die man gerade lesend durchlaufen hat. Der Text an sich gleicht dem spontanen Erinnerungsprozess, er reiht einzelne Erinnerungsfetzen aneinander, die sich zu einem Ganzen fügen.

Fazit
Ein persönliches und bewegendes Buch über das Erinnern, über die Liebe, den Tod und das Leben, geschrieben in einem eigenwilligen Stil, der dem Erinnerungsprozess nachempfunden ist, dem Auftauchen einzelner Fragmente und Erinnerungsfetzen.


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